"Auch wir lieben das Leben": Israel-Palästina ist ganz nah
Rede von Sophia Deeg auf der Gegenkundgebung zur Münchner "Sicherheitskonferenz
Marienplatz, 7.2.2009
In einer ganz ähnlichen Situation vor nunmehr bald 7 Jahren habe ich hier ein Gedicht des palästinensischen Dichters Mahmout Darwish gelesen.
„Auch wir lieben das Leben“, lautet der Refrain.
Ich weiß nicht, ob er jetzt noch so lautet für die Menschen in Gaza. Ich weiß nicht, ob sie noch die Kraft aufbringen, das Leben zu lieben. Ich weiß nicht, ob sie noch daran glauben, dass irgendjemand sie hört, wenn sie rufen „Auch wir lieben das Leben“. Ich weiß nicht, ob Mahmoud Darwish das Gedicht noch lesen würde. Nach Gaza. Er ist vor 1 ½ Jahren gestorben.
Damals, als ich dieses Gedicht hier las, waren wir, ein paar hundert internationale AktivistInnen, ZeugInnen eines ähnlichen Angriffs der israelischen Armee auf die Westbank-Städte und Flüchtlingslager geworden, wie wir ihn jetzt in Gaza erlebt haben.
Auch dieses Mal sind Menschenrechtsaktivistinnen als Zeuginnen, als zerbrechlicher Schutz und Trost da geblieben, als Bomben und Raketen alle, auf die sie fielen, gleich machten
Dieses Mal war auch weißer Phosphor, nicht nur als Smoke Screen dabei, sondern auch zur gezielten Verbrennung menschlicher Haut. Dieses Mal waren Fortschritte der Waffentechnik festzustellen, und andere solche Fortschritte wurden experimentell erprobt. Auch die Ärzte waren vor ungeahnte Anforderungen und Rätsel gestellt: Verwundungen, die sie noch nie gesehen hatten und nicht zu behandeln wussten. Einmal abgesehen davon, dass ihnen auch zu jeder Routinebehandlung die Mittel fehten.
Die Geschosse waren dieses Mal zielgenauer und präziser, und sie trafen, was sie treffen sollten, es gab kaum Kollateralschäden: fliehende Familien, Sanitäter, Verblutende, alle wurden getroffen, die getroffen werden sollten.
Alle waren gleich verletzlich, gleich ausgeliefert, gleich schutzlos, gleich rechtlos.
Der totale Krieg gegen eingesperrte Frauen, Männer Kinder, gegen Wohnhäuser, Schulen, Kliniken, Ambulanzen macht alle gleich.
Als die Bodeninvasion unmittelbar bevorstand, forderte die Besatzungsarmee alle Inhaber ausländischer Pässe, alle Menschen von Wert, alle Menschen mit Menschen- und Bürgerrechten auf, den Gaza-Streifen zu verlassen.
Bleiben mussten die 1.5 Millionen ohne Menschenrechte, ohne politische Rechte, ohne Schutz, ohne irgendeine Instanz an die sie sich hätten wenden können
Sie begriffen, dass nunmehr noch gnadenloser Jagd auf sie gemacht werden würde. Sie wussten, dass es keine Zuflucht, keinen Ausweg, kein sicheres Versteck für sie gab.
Sie wussten, dass die ganze Welt zusah. Und sie hörten das Schweigen und die schweigende Zustimmung der Internationalen Gemeinschaft mit ihren Machthabern, Meinungsmachern, Militärstrategen, Diplomaten und internationalen Institutionen. Sie wussten, dass die Mächtigen abwarten würden, bis Israel sein und ihr blutiges Geschäft erledigt haben würde. So war es nicht zum ersten Mal.
Ich sage „sein und ihr blutiges Geschäft“: Denn Israel ist ein Staat der Internationalen Staatengemeinschaft. Israel handelt im Namen und an Stelle derer, die immer dann plötzlich schweigen, scheinbar ratlos und hilflos sind oder zustimmen, wenn Maßnahmen ergriffen werden, um eine Bevölkerung zu brechen, die auf ihren Rechten besteht.
Eine Bevölkerung, ob im Nahen Osten oder anderswo, die auf ihren Rechten besteht, ist bedrohlich. Eine solche Bevölkerung oder Nation ist bedrohlich, falls unter ihrem Territorium Öl oder vor ihrer Küste Gas ist. Sie ist bedrohlich, falls ihre andauernde Rechtlosigkeit und Ausgrenzung im großen Projekt der Rekolonialisierung eine strategische Rolle spielt.
So monströs die Verbrechen sind, die wir gesehen haben – Israel ist kein Monstrum! Israel ist ein Mitgleid dieser Staatengemeinschaft und dieser Herrschaftsstruktur, organisert als G 8, als EU, als Nato, als WTO und manches andere mehr.
Israel/Palästina ist ganz nah, die israelischen Verbrechen sind ganz nah. Sie werden nebenan begangen. Von einem befreundeten Staat.
Die jüngsten Verbrechen Israels in Gaza, die von langer Hand vorbereitet wurden und keineswegs von Israel allein, sind nicht allein israelische Verbrechen, sondern europäische, US-amerikanische und Verbrechen auch der sogenannten gemäßigten arabischen Regimes.
Die Verantwortung und Beteiligung der deutschen Regierung ist unmittelbar. Frau Merkel verleiht dem mit ihren bedingungslosen Solidaritätsbekundungen für Israel beredten Ausdruck.
Unsere Verantwortung als Westler, als Europäer, als Bürgerinnen, als Linke, als Friedensbewegte, als privilegierte Zeitgenossen, die sich informieren können, wiegt schwer und ist kein bischen kompliziert zu verstehen oder zu durchschauen.
Israel ist kein EU-Mitglied, aber engstens mit der EU assoziert. Davon profitieren die EU und Israel. Vor allem dank deutschen Betreibens wird diese enge Assoziation ständig aufgewertet und darüber hinweggesehen, dass sie eigentlich an menschenrechtliche Standards gebunden ist, die Israel noch nie eingehalten hat.
Rechtsradikale israelische Politiker wie Herr Lieberman streben sogar die Mitgliedschaft Israels in der EU an. Rechtsradikal ist in Israel der Mainstream und nicht eine Randerscheinung.
Der für Strategiefragen zuständige Lieberman und andere fordern auch eine NATO-Mitgliedschaft Israels. (auch Böll-Stiftungsvorsitzender & Cohn Bendit) Ob und wann es dazu kommt, ist eine Abwägungsfrage. Die NATO wägt ab, Israel wägt ab: Kann Israel seine besondere Rolle im Rahmen der Beherrschung des Nahen Ostens durch die NATO-Staaten besser als Mitglied oder wie bisher als enger Partner spielen? Die NATO wägt ab, Israel wägt ab: Wie sind die im Wesentlichen übereinstimmenden Interessen am besten durchzusetzen?
Um welche gemeinsamen Interessen geht es bei dieser Abwägung? Es geht um
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das gemeinsame Interesse, womöglich mit kriegerischen Mitteln, den Iran zu unterwerfen;
- das gemeinsame Interesse, das syrische Regime einzubinden und gleichzeitig der Bevölkerung weiterhin die politischen Rechte vorzuenthalten;
- das gemeinsame Interesse, den Widerstand und die emanzipatorischen Kräfte im Libanon oder in Palästina zu zerschlagen;
- die gemeinsamen Interessen in den besetzten und bekriegten Ländern Afghanistan und Irak
- das gemeinsame Interesse an der Herrschaft korrupter kollaborierender Regimes in Ländern wie Ägypten oder Jordanien
Es gibt eine weltweite ganz andere „Interessensgemeinschaft“ und ich kann euch versichern: Wir sind überall. Die gesellschaftlichen Bewegungen, die unabhängigen Gewerkschaften, die Hausbesetzer, die Internationalisten, die Antirassisten, die Papier- und die Landlosen, die Piqueteros, die israelischen Anarchisten gegen die Mauer und die Popular Committees in den palästinensischen Dörfern, die Anti-Apatheids-Aktivisten, die Antimilitaristen und und und – sie waren alle auf den Staßen, in Frankreich, in Argentinien, in Großbritannien, in Kanada, in den USA, in Marokko, in Ägypten, in Israel, in der Westbank.
Acht von ihnen, 8 Internationale, waren im Gaza-Streifen. Sie haben darauf bestanden, dass ihr Leben nicht mehr wert ist als das der anderen 1.5 Millionen Menschen dort. Viele in Gaza wussten von ihnen, und sie wussten von den Vielen draußen auf den Straßen überall auf der Welt. Ein kostbares Voneinander-Wissen. Ein festes Band.
Wir sind schon seit Jahren, nicht nur auf der Straße. Wir sind als weltweite Bewegung vernetzt, die den gewaltfreien Widerstand in Palästina ermöglichen hilft und die Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions umsetzt, die sich am Beispiel der Kampagne gegen das südafrikanische Apartheidsregime orientiert.
Wir begreifen das Anliegen der Palästinenser als unser Anliegen. Denn es ist ein universelles Anliegen. Mahmoud Darwish hat es einmal so formuliert:
„Ich bestehe auf meinem Recht auf meinen Rechten zu bestehen.“
Noch brauchen viele von uns hier nicht groß auf diesem Recht zu bestehen und können ziemlich unbeschwert das Leben lieben. Aber auch das scheint mir ein fragiles Glück zu sein.
Ich wünsche mir sehr, dass wir es weiterhin genießen und dass Palästinenser zu diesem Leben, das sie lieben, finden können:
„Auch wir lieben das Leben, wann immer wir zu ihm finden“, heißt es in dem Gedicht von Mahmoud Darwish.
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