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Viele Facetten des Versagens

NSU-Untersuchungsausschuss: BKA-Chef empfahl sich für die eilige Pensionierung

Von René Heilig *

Wie hätte man den NSU-Terrornazis auf die Spur kommen sollen, wenn doch nicht einmal deren engste Unterstützer etwas von den Morden wussten? Das hat Deutschlands oberster Polizist, BKA-Chef Jörg Zierke, ernsthaft vor dem NSU-Ausschuss gefragt: Zugleich gab er kund, mit »der Organisation der Fahndungsarbeit zufrieden« gewesen zu sein.

So ein Abgang! Zuhörer des Trauerspiels, das BKA-Chef Jörg Zierke gestern im sogenannten NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages aufführte, griffen sich an die Stirn. Zierke hat 43 Jahre Berufserfahrung als Polizist, die Verabschiedung in den Ruhestand ist nah - und seit gestern dringend! Gestern aber hätte er seinem Nachfolger noch einiges mitgeben können, das unsere Demokratie wehrhafter macht.

Zeuge Zierke sollte den Bundestagsabgeordneten helfen, das Ermittlungsknäuel zu entwirren, in dem sich Fahnder aus Bund und Ländern gefangen haben, als sie versuchten, die Mordserie der - wie man heute weiß - »Zwickauer Zelle« aufzuklären. Acht türkische, ein griechischer Staatsbürger und eine Polizistin sind den Mördern des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) in den Jahren zwischen 2000 und 2007 zum Opfer gefallen. Dazu verübte die rechtsextreme Bande mindestens 14 Banküberfälle sowie zwei Bombenanschläge in Köln. Erst im November 2011 wurde dem Trio, bestehend aus Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, das Handwerk gelegt. Mehr oder weniger zufällig.

Der Polizeichef bedauerte, dass die Sicherheitsbehörden ihrem Schutzauftrag nicht nachgekommen seien. Ja, es habe Fehler gegeben, doch genauer benennen wollte er die nicht. »Das Versagen hat viele Facetten.« Im Grundsatz verteidigte er das Vorgehen der Ermittler bei der Neonazi-Mordserie. Und sein Amt habe schon gar keine Fehler gemacht, denn man habe den Rechtsextremismus immer ernst genommen.

Das ist so weit von der Wahrheit entfernt wie die Erde von der Sonne. Man hat Arbeitsgruppen zum Rechtsextremismus abgeschafft, die Kameradschaftsdatei gelöscht und war Monat für Monat dabei, die Fallzahlen rechtsextremistischer Straftaten runter zu rechnen. Dass sich Zierke damit schmückt, die NS-Herkunft des BKA erhellt zu haben und daher auch ein gutes Verhältnis zu dem Publizisten Ralph Giordano und zum Chef des Zentralrats der Sinti und Roma, Romani Rose, zu haben, macht's irgendwie glitschig.

Zur konkreten Fahndungsarbeit meinte Zierke, es habe einfach keinen - wie man im Polizeijargon sagt - »Anfasser« gegeben, der erfolgreiche Ermittlungen in Richtung rechtsextremistische Täterschaft ermöglicht hätte. Warum übernahm dann das dafür gebildete und ausgestattete BKA nicht die Leitung der Ermittlungen? Niemand habe das BKA formal beauftragt, alles an sich zu ziehen. Polizeiarbeit sei Ländersache und Föderalismus verlange nun einmal, Kompromisse zu schließen. Darin bestehe sein täglicher Job.

Keinen »Anfasser«? Nicht einen, viele gab es. Aber vieles deutet darauf hin, dass Zierkes BKA einfach davon ausging, dass nicht sein darf, was nicht sein soll. Schließlich hatte der damalige Innenminister Otto Schily (SPD) - gebrieft vom BKA - schon einen Tag nach dem NSU-Nagelbombenanschlag 2001 gegen Ausländer in Köln einen rechtsextremistischen Hintergrund ausgeschlossen. Und Nachfolger Wolfgang Schäuble (CDU) sah auch keine rechte Terrorgefahr.

Vor dem Hintergrund mutet es nicht glaubwürdig an, wenn Zierke versichert, er habe auch bei den wöchentlichen Gesprächen im Kanzleramt den möglichen rechtsextremistischen Hintergrund angesprochen. Mehrfach. Weder das noch das Gegenteil lässt sich beweisen. Bei den Geheimdienstrunden wird nicht Protokoll geschrieben. Da gibt es also auch nichts zum Vernichten.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 29. Juni 2012


»Rennsteig« im Reißwolf

Verfassungsschutz vernichtete NSU-Akten

Von René Heilig **


Das Bundesamt hat - während die Ermittlungen zur NSU-Mordserie anliefen - wesentliche Akten über V-Mann-Aktivitäten unter dem Codewort »Rennsteig« vernichtet.

Der 11. November 2011 vermittelt einen nachhaltigen Eindruck von der Art und Weise, wie in Deutschland rechtsextremistischer Terrorismus und damit Morde an acht türkischen und einem griechischen Kleinunternehmer sowie einer Polizistin verfolgt werden. Am 4. November 2011 ist die Terrorzelle des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) aufgeflogen. Die Mitglieder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos waren nach einem Banküberfall in Eisenach tot aufgefunden worden. Beate Zschäpe steckte die gemeinsame Zwickauer Wohnung an, um Beweise zu vernichten.

Eine Woche später, am 11. November, formulierte der oberste Strafverfolger der Bundesrepublik folgende Pressemitteilung: »Die Bundesanwaltschaft hat heute die Ermittlungen wegen des Mordanschlags auf zwei Polizisten in Heilbronn im April 2007, der Mordserie im Zeitraum von September 2000 bis April 2006 zum Nachteil von acht türkischstämmigen und einem griechischen Opfer in mehreren deutschen Städten sowie der schweren Brandstiftung in Zwickau ... übernommen.« Sicherheits- und Geheimdienstbehörden waren aufgefordert, ihre Erkenntnisse auf den Tisch zu legen.

Nun ist auch klar, womit man sich am 11. November 2011 im Bundesamt für Verfassungsschutz beschäftigte. Das Bundesinnenministerium bestätigte: Akten zur Operation »Rennsteig« wurden vernichtet. Die müssen wesentliche Erkenntnisse zum NSU und seinem Umfeld enthalten haben. Unter dem Codenamen »Rennsteig« betrieb das Bundesamt gemeinsam mit dem Erfurter Landesamt für Verfassungsschutz und dem Militärischen Abschirmdienst (MAD) zwischen 1997 und 2003 eine Operation gegen rechtsextremistische Zusammenschlüsse in Thüringen und angrenzenden Regionen. Wichtigstes Zielobjekt war der »Thüringer Heimatschutz« (THS). Zu der rechtsextremen Gruppe mit rund 140 Mitgliedern gehörten Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe. Insgesamt zwölf Nazispitzel hatten die drei deutschen Geheimdienste geführt. Offizielle Begründung der Reißwolf-Aktion: Bei der Sichtung habe man entdeckt, dass die Aufbewahrungsfrist abgelaufen war.

Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) hat den Präsidenten des Bundesamts, Heinz Fromm, aufgefordert, den »Vorfall lückenlos aufzuklären« und »so rasch wie möglich zu berichten«.

Im Bundeskriminalamt (BKA) seien »jedenfalls nach seiner Kenntnis« keine Akten zum NSU vernichtet worden, erklärte dessen Präsident Jörg Zierke gestern vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss. Obwohl sein Amt bis 2011 nicht mit der Ermittlungsleitung in der NSU-Mordserie betraut war, sei er »mit der Organisation der Arbeit zufrieden gewesen«. In der stattdessen beauftragten Steuerungsgruppe habe man »80 bis 85 Prozent der BKA-Forderungen umgesetzt«. Das Ergebnis habe ihm »recht gegeben«.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 29. Juni 2012


Aktenschredder im Amt

Von Sebastian Carlens ***

Noch nach dem Auffliegen des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) ließ das Bundesamt für Verfassungsschutz wichtige Akten vernichten. Bei der Sitzung des Bundestagsuntersuchungsausschusses, der die Rolle der Behörden im Umgang mit dem NSU aufklären soll, hat dieser Vorgang am Donnerstag in Berlin für einhellige Empörung gesorgt. Nach Informationen von Ausschußmitgliedern sollen die Geheimdienstler am 11. November 2011, also exakt eine Woche nach Enttarnung der Terrorzelle und dem Tod der NSU-Gründer Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, mindestens vier Akten zur sogenannten Operation »Rennsteig« vernichtet haben. Im Rahmen der Operation hatten Bundes- und Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz gemeinsam mit dem Militärischen Abschirmdienst (MAD) gezielt den »Thüringer Heimatschutz« (THS), aus dem später der NSU hervorging, mit Spitzeln durchsetzt.

Brisanz gewinnt die Operation »Rennsteig« gerade dadurch, daß so gut wie nichts über sie bekannt ist – auch der im Freistaat Thüringen eingesetzten Schäfer-Kommission, die das Versagen der Landesbehörden aufklären sollte, wurden die Akten zu dem Fall nicht zugänglich gemacht. Dabei ist es der Thüringer Verfassungsschutz, der als Geburtshelfer der militanten neofaschistischen Szene in diesem Bundesland bezeichnet werden kann, denn mit Tino Brandt stand der einstige THS-Chef selbst im Sold des Inlandsgeheimdienstes. Das scheint jedoch nur die Spitze des Eisbergs zu sein: Nach den übriggebliebenen »Rennsteig«-Akten müssen mindestens elf weitere V-Männer im THS den Behörden zugearbeitet haben.

Der Untersuchungsausschuß befragte am Donnerstag den seit 2004 amtierenden Chef des Bundeskriminalamtes (BKA), Jörg Ziercke, zur Entscheidung, die Ermittlungen gegen die sogenannten Ceska-Morde nicht beim BKA zu zentralisieren, sondern in Bayern bei der BAO Bosporus zu belassen. Ziercke, der zunächst von »vielen Facetten des Versagens« sprach, verblüffte die Ausschußmitglieder später mit der Feststellung, »die Praxis« habe ihm »Recht gegeben«: Die »gute Arbeit«, die die BAO Bosporus unter anderem mit der Auslobung einer Belohnung von 300000 Euro leistete, hätte weitere Morde verhindert – schließlich seien nach 2006 keine Migranten mehr mit der Pistole Marke Ceska getötet worden. Zierckes Chuzpe, nach 13 Jahren erfolglosen Ermittlungen von »guter Arbeit« zu reden, brachte den Ausschußvorsitzenden Sebastian Edathy (SPD) in Rage.

Die Polizei muß ihre Ansprüche an erfolgreiche Ermittlungsarbeit gewaltig heruntergeschraubt haben, wenn Ziercke nach neun Morden ohne gefaßte Täter Erfolge ausmacht – oder aber die Täter arbeiteten kriminalistisch derart perfekt, daß eine Ergreifung unmöglich war. Auch weitere Maßnahmen der Fahnder sprechen für sich: Laut Ziercke ließ das BKA sämtliche Suizidfälle des Jahres 2006 überprüfen, da Profiler bei Serienkillern eine erhöhte Neigung zum Selbstmord entdeckt haben wollen. Das wäre wohl ein Ende nach Geschmack gewesen: Die Täter richten sich selbst, Mordfeldzug beendet. Genauso sollte es dann auch kommen, allerdings fünf Jahre und einen Mord an einer Polizistin später, als sich Mundlos und Böhnhardt nach einem Banküberfall, von einem Streifenwagen bedrängt, am 4. November 2011 erschossen haben sollen. Um darauf zu kommen, daß diese beiden Bankräuber auch für die »Ceska-Morde« verantwortlich sind, brauchten die Fahnder allerdings noch ein paar weitere Zufälle. »Erfolge«, wie man so etwas beim BKA nennt.

*** Aus: junge Welt, Freitag, 29. Juni 2012


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