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"Begräbnis erster Klasse"

Beratungsteams ernüchtert von bisheriger NSU-Aufklärung

Von Hendrik Lasch, Dresden *

Die Aufklärung in Sachen NSU ist bisher nicht ansatzweise zum Kern des Problems vorgedrungen. Das sagen Beratungsteams gegen Rechts aus drei ostdeutschen Bundesländern.

Wenn es um Fragen dazu geht, wie es zur NSU-Terrorserie kommen konnte, ruhen die Hoffnungen oft auf den Untersuchungsgremien in drei Landtagen und dem Bundestag. Was die gesellschaftliche Debatte anbelangt, ist das eine fatale Verengung – »ein Begräbnis erster Klasse«, sagt David Begrich vom Magdeburger Verein »Miteinander «. Während sich ehrlich engagierte Parlamentarier durch Akten quälen, herrsche ansonsten in der Gesellschaft – etwa in Verbänden von Wirtschaft, Sport und Kultur – breites Schweigen. Als die RAF die Bundesrepublik in Schrecken versetzte, habe es eine hitzige Debatte gegeben, erinnert Begrich. Die sei in Sachen NSU nicht einmal im Ansatz in Gang gekommen.

Womöglich scheut sich die Gesellschaft schlicht davor, zum Kern des Problems vorzudringen. Bisher, kritisieren Mobile Beratungsteams aus Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt, werde über das Versagen von Sicherheitsbehörden gesprochen – und darüber, wie ausgerechnet sie gestärkt werden könnten. »Absurd«, sagt Begrich. Der Verfassungsschutz etwa sei schlicht überflüssig; zur Beobachtung des Rechtsextremismus benötige man eine »unabhängige, zentrale Beobachtungsstelle«, die auf wissenschaftlicher Basis nicht geheime Informationen auswertet, sondern öffentliche Quellen sowie die Erkenntnisse lokaler Initiativen. Das EU-Parlament fordere das von Deutschland seit 15 Jahren.

Zum Kern dringe vor, wer sich zur Erkenntnis durchringt, dass wir »in einer von Rassismus geprägten Gesellschaft leben«, sagt Danilo Starosta vom Kulturbüro Sachsen. Dieser präge etwa auch die Wahrnehmung in Behörden. Wenn das Thema ausgeklammert bleibe, ergänzt Pascal Begrich von »Miteinander«, »kann die Aufklärung nicht gelingen«. Statt Sicherheitsbehörden zu päppeln, müsse die gegen Rassismus engagierte Zivilgesellschaft gestärkt werden – sowohl in finanzieller Hinsicht als auch durch politischen Rückhalt.

Generell habe, sagt David Begrich, der NSU davon profitiert, dass die extreme Rechte »in ihrer Gesamtheit unterschätzt« und darauf vertraut wurde, dass Verbote einzelner Gruppierungen Wirkung zeigen. Das sei falsch, sagt Begrich – auch in Sachen NPD: »Das ist eine Nebelkerze.« Wirkung: Null.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 3. November 2012


Kampf um die Wahrheit – gegen Teile der Exekutive

Professor Hajo Funke zum Auftrag der Untersuchungsausschüsse **


Hajo Funke, Rechtsextremismusexperte, lehrte bis 2010 am Institut für Politische Wissenschaften an der Freie Universität Berlin.

Sie sind ein engagierter Beobachter der parlamentarischen NSU-Untersuchungsausschüsse ...

Insbesondere den des Bundestages und den in Thüringen habe ich bisher beobachtet. Beide Gremien wollen zum Kern kommen, die Gründe des Versagens erhellen und Konsequenzen formulieren.

Man erlebt bisweilen unter der Zeugenschaft viel Arroganz und Hartleibigkeit. Die Kanzlerin hat anderes versprochen.

Ja. Die Kanzlerin hat ihre Aussage nicht umsonst erneuert. Wir erleben den Kampf um die Wahrheit – gegen Teile der Exekutive. Ich glaube, die Kanzlerin meint das ernst.

Wird die Einmütigkeit aller Vertreter im Bundestagsausschuss in die Wahlkampfzeit hinein halten?

Wenn man einigermaßen klug weiter macht, ja. Die Arbeit wird intensiv und überparteilich geleistet – von Clemens Binniger (CDU) bis Petra Pau (LINKE). Man will die schrecklichen Taten aufklären, ebenso wie die Blockaden und Vertuschungen der zuständigen Behörden. Sicher gibt es Differenzen in Folgerungen. Doch deshalb muss man sich nicht verkanten. Beispielsweise wird in der Frage nicht überein kommen, wie das künftige Bundesamt für Verfassungsschutz aussehen soll. Es muss von Personal wie vom autoritären Staatsverständnis befreit werden. Das geht nur mit einer gänzlichen Neuaufstellung.

Wäre es nicht gut, wenn der Ausschuss dem nächsten Bundestag empfiehlt, weiter zu machen?

Ja. Diese Überlegung gibt es schon. Dennoch ist erst einmal ein Abschluss in dieser Legislaturperiode notwendig, wichtig und sinnvoll.

Die Parlamentarier beschäftigen sich mit Vorgängen, die zum Teil 20 Jahre zurückliegen.

Man beschäftigt sich in der Tat mit den frühen 90er Jahren und dem Entstehen der neonazistischen westeuropäischen Gewaltbewegung. Die ist politisch überhaupt noch nicht mit Folgerungen bedacht. Das Bundesinnenministerium und das Bundesamt schweigen sich aus, tun nichts.

Jeder Ausschuss ist nur so stark, wie die Öffentlichkeit kritisch ist. Gibt es die?

Natürlich, Sie fragen mich ja deshalb.

Wir sind aber nur zweit.

Ja, Sie repräsentieren eine Zeitung, es gibt viele andere Medien. Ich sehe – mit Einschränkungen – viele auch prominente Medien: ARD, ZDF, N24, »Stern«, »Spiegel«, nun auch doch wohl wieder die »Süddeutsche«, immer auch die »Frankfurter Rundschau«... Neben investigativen Journalisten gibt es engagierte Wissenschaftler. Und da ist die große interessierte Öffentlichkeit. Die Mehrheit hält Rechtsterrorismus für die größte terroristische Bedrohung. Das Thema kann also durchaus im Wahlkampf eine Rolle spielen.

Doch allerorten trifft man auf Alltagsrassismus.

Das ist ein großes Problem, ich erinnere an Umfragen, da wird ein Milieu von 20 Prozent genannt, das in Ansätzen rassistisches und fremdenfeindliches Gedankengut in sich tragen. Ohne einen solchen Nährboden wären neonazistische Alltagsterrorgruppen nicht möglich. Ich glaube, dass es einer integrierten Prävention bedarf, die Polizei muss ran. Es geht um eine asymmetrische Gewaltansage des neonazistischen Spektrums. Natürlich ist die Republik in sich selbst nicht gefährdet – aber die Menschen. So besteht die Gefahr eher im Terror durch Angst und Schrecken. Damit kommt es zur Erosion einer liberalen politischen Kultur, die den Einzelnen zu schützen hat.

Fragen: René Heilig

** Aus: neues deutschland, Samstag, 3. November 2012


»Ich vermisse einen Aufschrei«

Kenan Kolat über den Verlust von Vertrauen und die Weigerung der Gesellschaft, Rassismus zu erkennen ***

Migranten erleben täglich, was rassistische Vorurteile sind. Im Gespräch erzählt Kenan Kolat von einem türkischen Familienvater, der wegen Eindringlingen die Polizei rief und bei ihrer Ankunft als erstes selbst gefesselt wurde. Die Polizei hielt automatisch ihn für den Täter. Mit Kolat sprach Ines Wallrodt.


nd: Was haben Sie vor einem Jahr gedacht, als Sie zum ersten Mal von der NSU-Mordserie hörten?

Kolat: Ich war nicht überrascht, dass Rechtsextremisten in Deutschland Menschen ermorden. Aber ich war über das Ausmaß geschockt. Vor allem hätte ich nie gedacht, dass so viele Morde ein und derselben Gruppe den deutschen Sicherheitsbehörden nicht aufgefallen sind. Ich erinnerte mich auch sofort an den dritten Mordfall. Unser damaliger Bundesvorsitzender hatte in einer Pressemitteilung vorsichtig gefragt, ob es einen rassistischen Hintergrund geben könnte. Es hagelte Kritik von allen Seiten. Wir würden die Morde benutzen, um Politik zu machen, hieß es. Aber er hatte Recht.

Was für ein Bild hatten Sie bis dahin von deutschen Behörden?

Ich kam mit 21 zum Studium nach Deutschland. Mit einem sehr positiven Bild. Meine Freunde waren schon immer skeptischer und haben mir gesagt, bei der Polizei gebe es viel Diskriminierung. Ich habe das nicht geglaubt, ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, dass die Behörden systematisch wegschauen. Das Vertrauen ist bei mir und bei vielen türkischstämmigen Menschen in Deutschland verloren.

Haben Ihnen die Menschen in Deutschland Mitgefühl gezeigt?

Am Anfang gab es von der deutschstämmigen Bevölkerung mehr Anteilnahme als Kritik. Wir haben viele E-Mails bekommen. Diese individuellen Gesten haben uns gefreut. Aber der öffentliche Aufschrei blieb aus. Wir haben darauf gewartet, dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen auf uns zugehen und mit uns eine große Demonstration gegen Rassismus machen. Aber nein, wir mussten sie dazu einladen. Ein Zeichen der Gesamtgesellschaft vermisse ich bis heute. Das macht mir mehr Angst als die Gefahr, auf der Straße vielleicht von Nazis überfallen zu werden. Denn ich muss fürchten, dass Leute wie in Rostock-Lichtenhagen zuschauen und Beifall klatschen.

Die deutsche Gesellschaft hat seither nichts gelernt?

Es ist noch immer nicht angekommen, was Rassismus ist. Und die Politik redet den Rassismus klein. Das ist das Hauptproblem. Ich bin Mitglied der SPD und ich kann nicht verstehen, dass Personen wie der Neuköllner Bürgermeister Buschkowsky in der Bundeszentrale eine Bühne für ihre Stigmatisierungsdiskurse bekommen. »Wir und Ihr, die Türken, die Araber« - dieser Populismus führt zu Rassismus. Und Rassismus kann zu Tötung führen. Inzwischen hat sich auch der Tenor der E-Mails an uns verändert. Nach meiner Pressekonferenz zum Thema NSU habe ich diese Woche 30, 40 Mails bekommen - bis auf eine waren alle Schmäh-Briefe (siehe Spalte). Leute mit Doktortitel schreiben mir: Herr Kolat, sagen Sie doch erst mal etwas zum Alexanderplatz, ehe Sie über die alten Morde reden. Abgesehen davon, dass ich bei der Trauerfeier dabei war, viele Interviews gegeben habe: Wie man einen Tod gegen den anderen aufrechnen kann, das kann ich nicht begreifen.

Wie kommt man tief verankertem Rassismus bei?

Als erstes muss man diese Strukturen erkennen und anerkennen. Wir sind aber noch nicht einmal an diesem Punkt. Die Mehrheit in Deutschland weist die Aussage zurück, dass es ein Problem mit Rassismus gibt. Wenn der Chef der Polizeigewerkschaft ein Urteil gegen rassistische Polizeikontrollen verspottet, gibt es keine große Reaktion aus den Gewerkschaftskreisen. Es wird auch allgemein hingenommen, dass politische Mandatsträger es ablehnen, in Rostock eine kleine Straße nach dem dort ermordeten Mehmet Turgut zu benennen. Das ist eine Schande. Wir haben den Eindruck, dass die Aufklärung der Morde auch deshalb so schleppend vorankommt, weil die Opfer »nur« Türken sind. Zunächst war sogar unsere Forderung nach einem Untersuchungsausschuss abgelehnt worden.

Der Untersuchungsausschuss hat das Versagen der Behörden inzwischen offenkundig gemacht. Warum meinen Sie trotzdem, die Aufklärung komme nicht voran?

Es stimmt: Ohne den Ausschuss wäre gar nichts ans Licht gekommen. Die Behörden hätten alles unter den Teppich gekehrt. Aber der Ausschuss weiß nur so viel, wie die Beamten ihm liefern. Und die mauern nach wie vor. Strukturell hat es keinerlei Konsequenzen gegeben. Diejenigen, die während der Mordserie in verantwortlichen Posten waren, sitzen weiter in den Apparaten oder sind sogar aufgestiegen wie der Vize-Verfassungsschutzchef, der jetzt Staatssekretär beim Bundesinnenminister ist. Die sind selbst betroffen und haben natürlich überhaupt kein Interesse an Aufklärung! Der Bundesinnenminister will alles deckeln. Ich würde mir wünschen, dass die Bundeskanzlerin die Sache an sich zieht.

Angela Merkel scheint sich bislang weitgehend rauszuhalten.

Sie hat den Hinterbliebenen der Opfer Aufklärung versprochen. Ich vertraue ihr. Sie sollte eine Bundeskabinettssitzung nur zu dieser Thematik machen und sie sollte alle Beteiligten - BKA, Verfassungsschutz, Bundesländer - zu einem Antirassismus-Gipfel einladen. Wenn sich nichts ändert, kann es in den nächsten Jahren weitere solcher Morde geben. Zwei Drittel der Türken in Deutschland gehen davon aus. Ich hoffe, dass wir nicht wieder Recht behalten.

Waren Sie in den vergangenen zwölf Monaten jemals unsicher, ob es richtig war, nach Deutschland zu kommen?

Trotz allem werden wir hier leben. Vielleicht sogar gerade deswegen. Manchmal verliere ich ein bisschen die Hoffnung, aber dann denke ich, du musst aufstehen und weiter kämpfen.

*** Aus: neues deutschland, Samstag, 03. November 2012


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