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"Klein Adolf" ahnungslos

Neonaziterror: Vater des NSU-Mordopfers Halit Yozgat und am Tatort befindlicher Verfassungsschützer sagten vor Gericht aus

Von Claudia Wangerin, München *

Die Frage erklingt als Klage. »Warum«, ruft Ismail Yozgat in den Saal hinein, »haben sie meinen Sohn getötet?« Die Zuschauer- und Pressebänke waren gut gefüllt am 41. Verhandlungstag im Prozeß um die Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU). Der Vater des Mordopfers Halit Yozgat konnte nach eigenen Worten in der Nacht vor seiner Zeugenaussage nicht schlafen. Als Grund nannte der 58jährige am Dienstag vor dem Oberlandesgericht München die Aussage eines Polizisten am vorherigen Verhandlungstag. Der Beamte hatte geschildert, wie das hessische Innenministerium nach dem Mord im Kasseler Internetcafé am 6. April 2006 die Ermittler behindert hatte, indem es den Verfassungsschützer Andreas Temme gegen deren Fragen abschirmte und die Personalien seiner V-Leute nicht preisgeben wollte. Eine Schiene der Ermittlungen sei damit erledigt gewesen. »Das war eben so, das mußten wir hinnehmen.«

Weil der als »Kleiner Adolf« bekannte Temme zum Zeitpunkt des Mordes am Tatort gewesen war, was durch Login-Daten an einem der Rechner belegt werden konnte, hatte die Polizei eine Telefonüberwachung gegen ihn eingeleitet, ohne zu wissen, daß er für den Inlandsgeheimdienst tätig war. Wenige Tage später wurde er festgenommen. Nach Meinung des Polizeibeamten hätte Temme den 21jährigen Yozgat hinter der Theke liegen sehen müssen, als er das Café verließ und 50 Cent hinlegte, weil er den Besitzer angeblich nirgends entdecken konnte. Es gebe aber »zig Varianten«, sich dem Tresen zu nähern, schränkte der Ermittler ein, als ihm aus den Akten seine Aussage aus dem Jahr 2006 vorgehalten wurde. Der Beamte hatte damals angegeben: »Außerdem hätte Herr Temme, Größe 1,90 Meter, das Mordopfer hinter dem Tresen bemerken müssen.«

Der Vater des Toten hatte auf derselben Theke »zwei rote Tropfen« gesehen, als er wenig später das Café betrat. Wie er kurz darauf seinen Sohn fand, schilderte Ismail Yozgat am Dienstag vor Gericht. »Er gab keine Antwort, keine Antwort, keine Antwort«, schrie er plötzlich auf Türkisch.

Im Internetcafé in der Holländischen Straße habe er an diesem Tag wie üblich seinen Sohn ablösen wollen, der zur Abendschule ging, so Ismail Yozgat. Er selbst habe sich aber um zwei oder drei Minuten verspätet. Am Tag nach dem Mord sei sein Geburtstag gewesen. Bis zu seinem Tod werde er ihn nicht mehr feiern. Seine Familie sei anschließend mit Verdächtigungen konfrontiert, Verwandte und Freunde immer wieder vernommen worden. In seinem Bekanntenkreis sei er daraufhin gefragt worden, ob sein Sohn wegen Drogen erschossen worden sei. »Ich konnte das alles nicht ertragen, deshalb erlitt ich einen Herzinfarkt.« Ismail Yozgat wirkt heute älter als 58 Jahre.

Besucher des Internetcafés hatten damals Geräusche gehört, die sie nicht als Schüsse zuordnen konnten. Ein Jugendlicher dachte an einen heruntergefallenen Computer. Anders als der ebenfalls am Dienstag als Zeuge geladene Temme. Der hatte an jenem Apriltag 2006 nach eigener Aussage das Café nach Yozgat abgesucht, um zu bezahlen, nachdem er seinen Platz vor dem PC verlassen hatte. Von dem Tote will er nichts bemerkt haben. Auch keine Blutstropfen auf der Theke. Daß er sich nicht als Zeuge bei der Polizei meldete, erklärte er am Dienstag mit einer Fehleinschätzung. Er habe erst aus der Zeitung von dem Mord erfahren. Auf der Dienststelle habe er dann seine Stempelkarte angeschaut und festgestellt, daß er an jenem Tag früher gegangen sei. Daraus habe er für sich –fälschlicherweise – rekonstruiert, daß er nicht während des Mordes, sondern 24 Stunden vorher am Tatort gewesen sei. Wegen seiner Chatkontakte habe er ohnehin Angst um seine junge Ehe gehabt, auch habe er dienstliche Folgen befürchtet, weil sich das Café in der Nähe eines Beobachtungsobjekts befand. Aus heutiger Sicht sei ihm klar, daß er die Prioritäten falsch gesetzt habe, betonte er mehrfach. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl zeigte dafür wenig Verständnis und hakte nach.

Ein Antrag mehrerer Nebenkläger auf Verschiebung der Vernehmung wurde am Dienstag zurückgestellt. Die Opferanwälte wollten noch vor der Vernehmung weitere Akten sehen. Allerdings soll Temmel erneut geladen werden.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 2. Oktober 2013


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