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NSU-Affäre "beendet"

Das Parlament nimmt den Abschlußbericht des Untersuchungsausschusses entgegen. Einmütig äußern Abgeordnete aller Fraktionen Betroffenheit. Aufgeklärt ist wenig

Von Sebastian Carlens *

Volle Ränge im Hohen Haus: Außerplanmäßig trat der Bundestag am Montag abend zusammen, um unter anderem den Abschlußbericht des Ausschusses zum »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) entgegenzunehmen – und viele waren gekommen. Das komplette Kabinett der Kanzlerin Angela Merkel (CDU), Bundespräsident Joachim Gauck in Begleitung des türkischen Botschafters Hüseyin Avni Karslioglu, ein Gutteil der Abgeordneten. Das ist keineswegs normal in der Sommerpause, so kurz vor der Bundestagswahl am 22. September. Doch auch der Anlaß war es nicht: Den Rechtsterroristen des NSU werden zehn Morde an Migranten und einer Polizistin, mehrere Anschläge und Dutzende Raubüberfälle zur Last gelegt. 13 Jahre lang konnten sie Terror in der BRD verüben, ohne daß sie geschnappt worden wären – eine einmalige Blamage für Polizei, Justiz und Politik. Die Tatsache, daß die Killer nicht einmal gesucht worden waren, möglicherweise Hilfe aus den Geheimdiensten heraus erhielten, macht aus der Klatsche für die Ermittler allerdings etwas viel Größeres: einen Staatsskandal ersten Ranges.

Die Taten des NSU seien eine »beispiellose Herausforderung unseres Rechtsstaates«, sagte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU). Das Ausmaß der Verbrechen habe Betroffenheit ausgelöst, so Lammert. In Richtung der auf der Besuchertribüne erschienenen Angehörigen der Opfer des NSU entschuldigte er sich.

Einmütig hatten sich die Abgeordneten für eine anderthalbstündige Plenardebatte ausgesprochen. Einmütigkeit, das war die vorherrschende Stimmung des Abends: Es sei ein »außergewöhnlicher Ausschuß« gewesen, resümierte dessen Vorsitzender Sebastian Edathy (SPD) – der erste von insgesamt 49 in der Geschichte der Bundesrepublik, der einhellig von den Abgeordneten aller Fraktionen beschlossen worden war. Außerdem habe es im Gremium keine einzige Abstimmung gegeben, die nicht ebenfalls einstimmig ausgegangen wäre. Die 47 Schlußfolgerungen an die Adressen von Polizei, Politik und Verfassungsschutz, zu denen die Obleute des Gremiums kamen, konnten ebenfalls von allen Parteien mitgetragen werden, auch wenn sie nicht jedem Abgeordneten weit genug gingen. Es müsse »zwingend sichergestellt« werden, daß sich »ein derart massives Behördenversagen nicht wiederholt«, forderte Edathy. Der zunehmend gewaltbereite Rechtsextremismus dürfe »nie wieder unterschätzt und bagatellisiert« werden.

Clemens Binninger, Obmann der Christdemokraten und selbst Polizist, konstatierte, die föderale Sicherheitsarchitektur Deutschlands sei »an Grenzen gestoßen«. Hartfrid Wolff (FDP) stellte einen »gravierenden Vertrauensverlust in die Fähigkeiten der Behörden« fest. Die Arbeit des Ausschusses habe zudem längst nicht alle offenen Fragen klären können: »Weshalb wurden welche Akten gelöscht? Warum waren Beamte im ›Ku-Klux-Klan‹ aktiv?« Im Namen der Liberalen, die diese Aspekte in einem Minderheitenvotum formuliert haben, forderte Wolff die Bildung eines neuen Ausschusses in der nächsten Legislaturperiode. Zum Teil mag das bereits Wahlkampf sein, denn das jetzige Parlament hat dies nicht zu entscheiden. Bislang hat sich jedoch keine andere Partei dazu geäußert.

Deutliche Worte in Richtung Polizei und Geheimdienste fand Petra Pau (Linke): Ebenso, wie die Mordserie des NSU rassistisch motiviert gewesen sei, hätten auch die Ermittlungen rassistische Züge getragen. Der »Generalverdacht gegen vermeintlich Undeutsches« habe die Opfer zu Tätern gemacht. »Wer das NSU-Desaster ernst nimmt, muß den Rassismus auf die Tagesordnung setzen«, forderte die Linken-Obfrau. Für sie und ihre Partei steht der Verfassungsschutz »im Zentrum des Versagens«; er gehöre »als Geheimdienst aufgelöst«. Damit findet die Linke selbstverständlich keine Mehrheit, auch wenn die Grünen ebenfalls dessen Umstrukturierung anregen.

Tatsächlich war der Weg des NSU von Anfang bis Ende von Spitzeln der Inlandsgeheimdienste gesäumt: »V-Männer« besorgten den Jenaer Neonazis Waffen, Geld und Wohnungen. Ohne das Wirken des Verfassungsschutzes hätte die rechte Szene Thüringens, aus der später der NSU erwuchs, nicht entstehen können. Zwar haben Justiz und Polizei tatsächlich versagt, indem sie nichts zur Aufklärung der Verbrechen beitrugen. Doch ohne die Saat, die die Dienste legten, wäre es niemals zur Bildung eines NSU gekommen – vor dem Versagen stand also Schuld, wenn nicht Vorsatz. Auch wenn die Plenardebatte kurz vor der Bundestagswahl einen Schlußstrich unter den NSU-Skandal ziehen soll – aufgeklärt ist hier bislang so gut wie gar nichts.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 4. September 2013


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