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Israelkritik ist kein Antisemitismus

Bemerkungen zum Kniefall der Fraktion der LINKEN vor der deutschen Staatsräson

Von Peter Strutynski

Vor kurzem kochte wieder ein Streit in der Linkspartei hoch, der so unnötig ist wie manch anderes ideologische Gefecht in der linken Szene. Doch immer wenn es um den Vorwurf des Antisemitismus geht, werden die Akteure des ideologischen Streits besonders nervös. Verständlich einerseits, weil der Antisemitismus-Vorwurf auf Grund der deutschen Geschichte wohl die schlimmste Keule darstellt, mit der sich politische Widersacher hier zu Lande schlagen lassen. Andererseits aber gerade auf der Linken vollkommen unverständlich, da es keinerlei historische, theoretische und weltanschauliche Berührungspunkte zwischen antisemitischen und sozialistisch-kommunistischen Anschauungen gibt. Antijudaismus, Judenfeindschaft und andere rassistische Ideologien haben sich noch nie im Arsenal einer emanzipatorischen Aufklärungsphilosophie befunden.

Der Mainstream-Diskurs von FAZ bis zur taz versucht seit geraumer Zeit der ungeliebten Linkspartei alle möglichen Stolpersteine und Fallen in den Weg zu stellen, um sie zumindest wieder aus den westdeutschen Landtagen zu vertreiben. Die uneingeschränkte Solidarität mit den USA und mit Israel gehört zu den Kernelementen (west-)deutscher Außenpolitik, die von Kanzlerin Merkel anlässlich ihrer Knesset-Rede zum 60-jährigen Bestehen des Staates Israel zur "Staatsräson" erhoben wurde und damit so etwas wie Verfassungsrang erhalten hat. Dumm nur, dass es auf Seiten der Linken eine Reihe von Leuten in "höheren Ämtern" gibt, die auf Teufel komm raus nach Anschlussfähigkeit zu den etablierten Kräften dieser Republik suchen, sei's weil sie von der Gedankenwelt der Bourgeosie angesteckt wurden, sei's weil sie darin einen realpolitischen Zugang zur Regierungsfähigkeit mit den Parteien des herrschenden Blocks vermuten. Beide Wege, die freiwillige Anpassung an die herrschende Ideologie und das realpolitische Kalkül der "Machtpolitiker", enden in einer Sackgasse, in der die Linke als gesellschaftspolitische Alternative zum herrschenden kapitalistischen Weltsystem zerrieben wird.

Das Verhältnis zu Israel ist das Stöckchen, das der Linken von wem auch immer (den Herrschenden, den ihnen verbundenen Medien, den sich links fühlenden "Antideutschen") gereicht wird, um es artig zu überspringen oder eben beim Sprungversuch auf die Nase zu fallen. Dabei gäbe es souveränere Arten, den verlangten Treueschwur auf Israel abzulegen, ohne sich dabei den Absichten der Gegner zu unterwerfen. Wer die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Kenntnis nehmen wollte, müsste begreifen, dass es im historischen Palästina nur zwei Möglichkeiten des Zusammenlebens der beiden Völker gibt: In einem Staat zusammen - dann allerdings in einem säkularisierten demokratischen Gemeinwesen, in dem alle Bürger/innen mit denselben Staatsbürgerrechten ausgestattet sind, oder in zwei Staaten, einem israelischen und einem palästinensischen Staat, so wie es der UN-Teilungsplan von 1947 vorgesehen hatte. Die Tragödie besteht darin, dass Israel zum Staat wurde, während ein palästinensischer Staat bis heute nicht zu Stande kam.

Hinzu kommt, dass in den 44 Jahren seit dem Sechstagekrieg (1967) Israel alles unternommen hat, um eine Staatslösung für die Palästinenser zu untergraben. Die Siedlungspolitik und die andauernde Besatzung haben dazu geführt, dass die Gründung eines lebensfähigen palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967 derzeit nur schwer möglich erscheint. Da die USA, die Europäische Union und die Bundesregierung in all diesen Jahren nichts, aber auch gar nichts unternommen haben, um den Palästinensern zu ihrem Recht zu verhelfen, da die Vereinten Nationen seit 44 Jahren vergeblich darauf hoffen, dass Israel irgendeine der vielen Resolutionen des UN-Sicherheitsrats erfüllt, und da jedes Jahr, das unverrichteter Dinge verstreicht, den Alptraum für die Palästinenser noch unerträglicher macht, sind politische Initiativen, die sich der Sache der Palästinenser annehmen, nur zu begrüßen. Nicht alle dieser Initiativen mögen zum Ziel führen, manche sind nur symbolischer Art und mögen an der harten Realität zerschellen, wieder andere mögen wirkungslos verpuffen: Sie aber mit einem faktischen Verbot zu belegen, wie es die Linksfraktion mit ihrem Beschluss vom 7. Juni 2011 getan hat, und sie im Kontext des Beschlusses in die Nähe des Antisemitismus-Verdachts zu bringen, bedeutet das Ende jeglicher seriösen inhaltlichen Auseinandersetzung um gangbare Wege zum Frieden im Nahen Osten.

An einem Beispiel möchte ich das verdeutlichen: Die Linksfraktion verbietet in ihrem Beschluss eine Teilnahme an der für dieses Jahr (im Juli) geplanten Gaza-Hilfsflotte. Eine Begründung hierfür wird nicht gegeben. Das wäre der Fraktion auch sehr schwer gefallen, denn noch in dem Nahost-Positionspapier vom April 2011 wird die Abriegelung des Gaza-Streifens als besonders schwerwiegendes Problem beschrieben: "Dennoch stellt die israelische Besatzung, die noch immer bestehende Abriegelung des Gazastreifens, die zu einem systematischen Mangel an Nahrungsmitteln, Brennstoffen und an elementaren technischen Mitteln führt, eine Kollektivstrafe für die 1,5 Millionen Menschen in Gaza dar, die das Völkerrecht ausdrücklich verbietet." Und nach der von israelischem Militär auf hoher See aufgebrachten Hilfsflotte 2010 war Gregor Gysi beim israelischen Botschafter vorstellig geworden: "Gregor Gysi protestierte gegen den völkerrechtswidrigen Akt mit Toten und Verletzten gegen die Schiffe, die Hilfsgüter nach Gaza bringen wollten. Ebenso protestierte er gegen die Seeblockade des Gazastreifens durch Israel." (Zit. nach der Presseerklärung des Pressesprechers der Fraktion Die Linke vom 2. Juni 2010.) Ein Jahr später wird ein zweiter Versuch, die Blockade des Gazastreifens mit einer Hilfsflottille friedlich zu durchbrechen, zu einer unerwünschten Aktion?!

Antisemitismus bekämpft man nicht dadurch, dass man sich den offiziellen Standpunkt der israelischen Regierung zu eigen macht und vor ihren Sprachrohren und selbst ernannten Sittenwächtern hier zu Lande kuscht, sondern dadurch, dass man die Fehlentwicklungen im israelisch-palästinensischen Konflikt analysiert und nach politischen Wegen sucht, wie sie zu korrigieren sind. Die Einhaltung des Völkerrechts und die Achtung der Menschenrechte sind dabei die wichtigsten Maßstäbe. In jedem anderen Fall hartnäckigen Verstoßes gegen internationales Recht stehen die pro-israelischen Eiferer auf der Matte, um UN-Sanktionen oder gar militärische Maßnahmen gegen ein x-beliebiges Land zu fordern; im Fall Israels verbitten sich dieselben Kräfte jeden Gedanken an Sanktionen. Mehr noch: Sie sehen auch kein Problem darin, den Völkerrechtsbruch Israels mit immer neuen Waffenlieferungen, Handelspräferenzen und anderen Wohltaten zu honorieren. Soll das auch Praxis der Linken werden? Ich weigere mich das zu glauben.

Vor mir liegt der Aufruf einer Initiative, die nächste Fahrt einer Gaza-Hilfsflottille und andere Solidaritätsaktionen mit Palästina zu unterstützen. Der Aufruf trägt den Titel "Gegen die Blockade der besetzten palästinensischen Gebiete". Darin heißt es u.a.:
"Die Palästinenserinnen und Palästinenser sowohl in Gaza als auch in der Westbank sind vom Rest der Welt und auch untereinander durch Enklaven, einer Art Bantustans isoliert. Seit 2001 reisen Aktivistinnen und Aktivisten aus aller Welt nach Palästina ein, um den gewaltlosen palästinensischen Widerstand zu unterstützen und um die Isolation durch die israelische Besatzungsmacht zu unterlaufen. (...) Am 8. Juli 2011 werden wir mit hunderten, möglichst tausenden Internationalen dieses israelische Grenzregime herausfordern, das das internationale Recht missachtet und nicht zu rechtfertigen ist. (...) (Wir) werden am 8. Juli am Flughafen in Tel Aviv einreisen und auf dem Recht bestehen, nach Palästina zu reisen. Wir werden nicht leugnen, dass wir vorhaben, unsere palästinensischen Freundinnen und Freunde zu besuchen, die uns herzlich eingeladen haben. Wir werden keine Erklärungen unterschreiben, laut denen wir versprechen, nicht in die besetzten palästinensischen Gebiete einzureisen."

Wenn die internationale Politik versagt, wenn die Regierenden der mit Israel besonders eng verbundenen Staaten tatenlos zusehen, wie eine Friedenslösung im Nahen Osten, die auf sicheren Grenzen für zwei lebensfähige Staaten beruht, seit Jahren und Jahrzehnten torpediert wird, muss die Zivilgesellschaft einspringen. Ein Mittel dazu sind Aktionen, welche die Abriegelung des Gazastreifens, Siedlungsbau in den besetzten Gebieten und Landraub thematisieren. Das scheint mir wesentlich hilfreicher zu sein als davor zu warnen und im Übrigen den Kopf in den Sand zu stecken. Die Netanjahus und Liebermans werden sich in ihrem kompromisslosen Kriegskurs bestätigt fühlen. Und genau hier liegt die Gretchenfrage für linke Politik: Ist das Geschrei um die Antisemitismusfrage am Ende nichts Anderes als das Aufweichen der Anti-Kriegs-Positionen in der LINKEN, um damit endlich koalitionsfähig werden zu können?


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