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Auch nach dem NSU-Skandal: Haben Nazis immer noch freie Hand?

Gewaltakte und Anschläge in Meck-Pomm / Nazis in Friedens-Kundgebung in Bruchköbel geschleust


Im Folgenden dokumentieren wir einmal einen Artikel, der sich mit neuen skandalösen Übergriffen der Naziszene in Mecklenburg-Vorpommern befasst, und zum anderen einen Offenen Brief der Hanauer Friedensplattform an die dortige Polizei, der schweres Versagen beim diesjährigen Ostermarsch in Bruchköbel vorgeworfen wird.

Nazis provozieren Demokratie

Makaberer Marsch in Demmin, Jagd auf Alternative in Anklam

Von Velten Schäfer, Schwerin *


Der Naziaufzug zum 8. Mai in Demmin endete unter Protesten, aber gewaltfrei. Derweil überziehen die Neonazikameraden derzeit Mecklenburg-Vorpommern mit Gewaltakten und Anschlägen.

»Ich Schwein feier den Tag der Befreiung«, stand auf dem Pappschild eines der etwa 250 Teilnehmer des rechtsradikalen Aufmarsches in Demmin am Abend des 8. Mai. Er trug eine entsprechende Tiermaske. Vor dem Aufzug, der nach einer Kundgebung am Demminer Hafen als Fackelzug endete, humpelte eine Gruppe verkleideter Kriegsflüchtlinge. Aus dem makabren Agitprop der Nordost-Nazis spricht derzeit großes Selbstbewusstsein.

Was hinter diesem Auftreten lauert, hat das Land dieser Tage erlebt. Mutmaßlich Neonazis haben von Anklam über Greifswald bis Rostock »alternative« Zentren und Menschen angegriffen, eine »in dieser Intensität länger nicht gesehene« Eskalation, so die Opferberatung Lobbi-MV. Um das vergangene Wochenende wurden das Kulturprojekt IKUWO in Greifswald, das Peter-Weiss-Haus in Rostock und der »Demokratieladen« in Anklam zum Ziel von Buttersäure- und Farbattacken.

Der Höhepunkt ereignete sich am Freitag in Anklam, als ein gutes Dutzend teils bewaffneter Vermummter am Abend Jagd auf alternativ gekleidete Jugendliche machte. Drei Opfer mussten stationär behandelt werden, ein Betroffener liegt noch mit Gesichtsverletzungen in der Klinik. Am 12. April soll es zu einem ähnlichen Vorfall gekommen sein, als Vermummte gegen Abend durch die Stadt zogen und ein Angegriffener mit einem Schlagring getroffen wurde. Selbst die Beschönigunsgeschichte, die die Rechten verbreiten, zeigt ihre Aggressivität: Die »Journaille« verschweige, dass »Punker seit Wochen in der Stadt herumlungern«, Anwohner »belästigen« und ihre »ungepflegt aussehenden Hunde überall die Gehwege vollkoten«.

Demmin hat sich dagegen zusammengerauft. Bürgermeister Ernst Wellmer (CDU) fordert ein NPD-Verbot. Bei Mahnwachen und auf einem Friedensfest versammelten sich 500 Gegendemonstranten, die Landtags-LINKE lobte ihren jährlichen »Courage«-Preis aus.

In Anklam dagegen sind die pro-demokratischen Einrichtungen schon räumlich in einer Insellage. Das »Zentrum für demokratische Kultur« etwa liegt am innerstädtischen Steintor - eingerahmt vom rechten Szene-Laden »New Dawn« und »Pommerscher Volksbücherei«, die bisher nur ein kommerzieller Buchversand ist. Eine Parallelstraße weiter soll ein Haus nur von Neonazis bewohnt sein. In einem nahen Ort gibt es ein offen auftretendes »nationales Wohnprojekt«.

Vor einem dringend nötigen soziokulturellen Ruck für die Stadt ist zunächst das Strafrecht gefordert. Drei rechtsradikale Verdächtige wurden verhaftet. Es wäre ein Signal, wenn der Fall nicht so endete wie das Verfahren gegen die fünf Neonazis, die im Dezember 2010 den Bürgermeister von Lalendorf zu Hause belästigt hatten. Sie wurden am Montag vom Vorwurf des Hausfriedensbruchs freigesprochen.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 10. Mai 2012


"Wir erwarten von der Polizei, dass sie Nazis vom Ostermarsch fernhalten"

Offener Brief der Hanauer Friedensplattform an Polizei und Ordnungsamt von Hanau bzw. Bruchköbel

An das Polizeipräsidium Südosthessen
Polizeidirektion Main-Kinzig
Polizeistation Hanau II
An das Ordnungsamt der Stadt Bruchköbel
An den Bürgermeister der Stadt Bruchköbel

Offener Brief

Hanau, den 9.5.2012

Sehr geehrter Herr Dr. Wächtler, sehr geehrter Herr Bürgermeister Maibach,
sehr geehrter Herr Gottschalk, sehr geehrter Herr Rödiger, sehr geehrter Herr Kraus,


am 6. April haben wir von der Hanauer Friedensplattform zusammen mit dem DGB Südosthessen unseren traditionellen Ostermarsch in Bruchköbel durchgeführt.

Das Motto unseres Ostermarsches 2012 lautete „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“ und eines unserer Kernanliegen ist in diesem Jahr auch die vollständige Aufklärung der NSU-Morde und das Verbot der NPD.

Entsetzt mussten wir feststellen, dass ca. 10 Minuten nach Beginn unserer Veranstaltung eine Gruppe von ca. 15 Nazis von der Polizei zum Platz unserer Kundgebung gebracht wurde, darunter Führungspersonal der hessischen NPD und deren Jugendorganisation JN. Diese bedrohten Teilnehmer unserer Veranstaltung mit dem Ruf „wir kriegen Euch alle“. Die NSU-Morde haben gezeigt, dass wir derartige Drohungen sehr ernst nehmen müssen.

Die unter den beschriebenen Bedingungen zu erwartenden Rangeleien blieben dann auch nicht aus. Eine Polizeikette wurde erst nach Rangeleien zwischen unsere Kundgebung und die Nazitruppe gezogen. Dies entsprach nicht der Absprache, die wir vorher mit der Hanauer Polizei getroffen hatten, nach der Sie die Neonazis von unseren Demonstranten trennen würden. Wir erwarten von der Polizei und dem Ordnungsamt, dass sie unseren Ostermarsch schützen und Neonazis vom Platz fernhalten.

Im Anschluss an unseren Ostermarsch wurde die Gruppe der Neonazis von der Polizei zum Bahnhof gefahren (die FR berichtete am 7. April).

Die Zulassung von Neonazis zu unserer Friedensdemonstration werten wir als Anschlag auf unsere Demonstrationsfreiheit und auf unser Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieser Anschlag ist unter tätigem Mitwirken der Hanauer Polizei ausgeübt worden.

Unser Demonstrationsrecht wurde von Polizei und Ordnungsamt konterkariert, da wir nicht Seite an Seite mit Faschisten für das NPD-Verbot werben können. Es sollte doch selbstverständlich sein, dass an einer Demonstration, die das Verbot der NPD zum Inhalt hat, keine Faschisten und insbesondere keine NPD-Mitglieder teilnehmen dürfen!

Bei unserem Ostermarsch am 6. April 2012 erinnerten wir an den sechsten Todestag von Halit Yozgat, der von der Neonazi-Gruppe NSU ermordet worden war. Bei dem Mord war der hessische Beamte und Verfassungsschützer Andre T. zugegen. Wir müssen daher davon ausgehen, dass hessische Behörden hier gemeinsame Sache mit faschistischen Gruppen machen.

Die Polizei und das Ordnungsamt schützen nicht – so wie es ihre Aufgabe wäre – unseren Ostermarsch sondern konterkarieren unsere antifaschistische und friedenspolitische Veranstaltung.

Unser Fehler war es dabei, uns auf die Behörden verlassen zu haben.

Mit freundlichen Grüßen
Doris Werder
Im Auftrag der Hanauer Friedensplattform



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