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Pogrome gegen Roma

Jahresrückblick 2011. Heute: Rechte Offensive in Osteuropa. Rassistische Ausschreitungen gegen Minderheiten in Ungarn und Bulgarien. Neonaziaufmärsche in Polen

Von Tomasz Konicz *

Im Frühjahr 2011 erlangte der nord­ungarische Ort Gyöngyöspata traurige Berühmtheit. Wochenlang terrorisierten Neonazibanden die dort lebende Minderheit der Roma, ohne von den Sicherheitskräften daran gehindert zu werden. Die rechten Milizen führten uniformiert Patrouillen durch und errichteten Straßensperren, bei denen Roma der Zugang zu den »ungarischen« Ortsteilen oder in Supermärkte verwehrt wurde. Die Pogromstimmung wäre in der westlichen Presse kaum wahrgenommen worden, hätte es nicht die Evakuierung aller Frauen und Kinder der Roma aus Gyöngyöspata über die Osterfeiertage gegeben. Zuvor hatten Rechtsextreme »Wehrsportübungen« in dem Roma-Ghetto angekündigt. Die Staatsmacht reagierte erst, nachdem Gyöngyöspata international in die Schlagzeilen geraten war.

Die dramatischen Ereignisse warfen ein Schlaglicht auf die Rechtsentwicklung in Ungarn und in weiten Teilen Mittelosteuropas, die im vergangenen Jahr in Wechselwirkung mit der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise rasch an Intensität gewann. Die ungarische Neonazipartei Jobbik, die Kundgebungen gegen »Zigeunerkriminalität« in Gyöngyöspata organisiert hatte und dort inzwischen den Bürgermeister stellt, konnte bei jüngsten Umfragen an der ehemaligen Regierungspartei der Sozialdemokraten vorbeiziehen und landete bei rund 17 Prozent der Stimmen. Die Partei sieht die »Volksgemeinschaft« nicht nur von Roma bedroht, sondern auch von Juden. Antiziganismus und Antisemitismus ergänzen sich hierbei: Die Juden werden als Personifizierung des »raffenden Finanzkapitals« zu den Verursachern der Finanzkrise gemacht. Die Roma wiederum stehen für die verheerenden sozialen Folgen der Krise. Für viele vom sozialen Abstieg Bedrohte erscheinen Elend und Elendskriminalität als eine »rassische Eigenschaft« der Roma.

Die hohe Mobilisierungskraft antiziganischer Ressentiments versuchen inzwischen faschistische Gruppierungen in anderen Ländern der Region zu nutzen, um so an den Erfolg der ungarischen Neonazipartei anzuknüpfen. In Nordböhmen heizen seit dem Sommer 2011 die Schlägerbanden der Arbeiterpartei der sozialen Gerechtigkeit (DSSS) – eine Nachfolgerorganisation der verbotenen Arbeiterpartei (DS) – die Stimmung gegen Roma an. In der Region des sogenannten Schluckenauer Zipfels hat sich eine regelrechte Massenbewegung entwickelt, die im vergangenen Herbst versuchte, die Roma in der strukturschwachen Grenzregion durch Aufmärsche und Versammlungen zu vertreiben. Nach einer Kneipenschlägerei, an der Roma beteiligt gewesen sein sollen, fanden schließlich in der nordböhmischen Stadt Varnsdorf von Neonazis dominierte Großkundgebungen gegen »Zigeunerkriminalität« statt, in deren Anschluß von Roma bewohnte Häuser angegriffen wurden.

In Bulgarien führte ein Autounfall mit Todesfolge zu Pogromen. Nachdem ein Roma am 23. September einen Jugendlichen in Katuniza überfahren hatte, brannte ein Mob von mehreren hundert Menschen, unterstützt von rechtsextremen Fußballhooligans aus der Nachbarstadt, Roma-Häuser in dem Dorf nieder. Die über mehrere Tage andauernden Ausschreitungen, die von Trauermärschen für den ums Leben gekommenen Jugendlichen begleitet wurden, griffen auch auf andere Städte über. Neonazis lieferten sich beispielsweise in Sofia, Plowdiw, Warna und Plewen Auseinandersetzungen mit Polizeikräften, als sie versuchten, von Roma bewohnte Häuser oder Stadtteile anzugreifen. Zum Teil wurden auch Einrichtungen der türkischen Minderheit Ziel der Gewalt. Die rechtsextreme Partei Ataka um ihren »Führer« Wolen Siderow mühte sich, aus dem Konflikt politischen Profit zu schlagen. Während der rassistische Mob auf den Straßen wütete, versuchte sich Siderow an einer theatralischen »Erstürmung« der Präsidentenresidenz in Sofia, um dem bulgarischen Staatsoberhaupt eine Deklaration zu übergeben, in der die Roma zu einer Bedrohung für »Land und Staat« stilisiert wurden. Ataka, die neben Zigeunerhaß auch antisemitische und islamfeindliche Propaganda verbreitet, konnte bei der letzten Europawahl zwölf Prozent aller Stimmen auf sich vereinigen.

Im vergangenen November bemühte sich auch die extreme Rechte Polens, wieder in die Offensive zu gelangen. Das rechtsextrem-klerikale Spektrum war nach der Wahlniederlage der rechtskonservativen Regierung von Jaroslaw Kaczynski im November 2007 weitgehend in der Versenkung verschwunden. Bei einem »Marsch der Unabhängigkeit« an dem polnischen Nationalfeiertag, dem 11. November, wollten die Ultrarechten das Signal für einen Neuanfang geben. Hierzu wurde das gesamte rechtsextreme Spektrum zur Teilnahme aufgerufen: von rechtskatholischen Gruppierungen, über Fußballhooligans, Naziskinheads und autonome Nationalisten bis hin zum rechten Rand der ehemaligen rechtskonservativen Regierungspartei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) des Jaroslaw Kaczynski. Der rechten Offensive drohte allerdings das totale Fiasko, da die randalefreudigen Hooligans im Demonstrationszug zur Verwüstung der Warschauer Innenstadt übergingen, nachdem Antifaschisten den Aufmarsch blockierten.

Erst nachdem die Verhaftung einiger deutscher Antifaschisten im Vorfeld der Demonstration publik wurde, konnte der PiS-Führer Kaczynski die antideutsche Karte ausspielen und vor deutschen »Schlägerbanden« warnen, die am Nationalfeiertag »polnische Patrioten« angegriffen hätten. Dabei verglich er die deutschen Antifaschisten mit deutschen SS-Männern. Seitdem ist vor allem die PiS bemüht, das tatsächlich gegebene deutsche Hegemonialstreben in Europa für ein Comeback der extremen Rechten in Polen zu instrumentalisieren. Am 13. Dezember marschierten Tausende Rechte durch Warschau, um gegen den Verlust nationaler Souveränität im Gefolge der von Berlin durchgesetzten Änderung der EU-Verträge zu protestieren.

* Aus: junge Welt, 4. Januar 2012


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