Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Scheibchenweise Aufklärung

Sächsische Überwachungsaffäre weitet sich aus. Justizministerium nennt Zahl von über 40000 Betroffenen. Neonazigegner fordern unabhängige Untersuchungskommission

Von Markus Bernhardt *

Das Ausmaß der staatlichen Überwachung von Antifaschisten, die sich im Februar dieses Jahres an den Massenblockaden gegen einen Neonaziaufmarsch in Dresden beteiligt haben, wird immer größer. Am Wochenende räumte das sächsische Justizministerium aufgrund einer sogenannten kleinen Anfrage des SPD-Landtagsabgeordneten Henning Homann ein, daß durch die Ermittlungsbehörden Bestandsdaten von über 40700 Betroffenen erhoben wurden. Dabei wurden Name, Geburtsdatum und Adressen von den jeweiligen Providern weitergeleitet. Nachdem der sächsische Innenminister Markus Ulbig (CDU) erst kürzlich gegenüber dem Parlament von 460 gespeicherten Datensätzen sprach, hat sich damit die Zahl der direkt Betroffenen nahezu verhundertfacht.

Harsche Kritik am Umgang der aus CDU und FDP bestehenden sächsischen Staatsregierung mit der Überwachungsaffäre kommt vom antifaschistischen Bündnis »Dresden Nazifrei!«, das die erfolgreichen Proteste im Februar organisiert hatte, und von der Linksfraktion im sächsischen Landtag.

»Nachdem mittlerweile mehrfach klar wurde, daß es nicht im Interesse der Verantwortlichen liegt, diesen Skandal umfassend aufzuklären, erachten wir den Einsatz einer unabhängigen Untersuchungskommission für zwingend notwendig«, erklärte Franziska Radtke, Sprecherin von »Dresden Nazifrei!« am Montag gegenüber junge Welt. Rico Gebhard, innenpolitischer Sprecher der Linksfraktion, bezeichnete es als »in höchstem Maße ignorant, so zu tun, als gäbe es keine sächsische Daten- und Handyaffäre«. Parallel werde munter weiter mit den rechtlich zweifelhaft erhobenen Verbindungsdaten gearbeitet. Dies sei auch ein Affront gegenüber dem Datenschutzbeauftragten, der mit der Prüfung des Sachverhaltes betraut worden war, so der Landtagsabgeordnete weiter.

Kritik übte das bundesweite Bündnis »Dresden Nazifrei!«, das unter anderem von Gewerkschaften, SPD, Grünen und autonomen Antifagruppen unterstützt worden war, auch an der Dresdner Staatsanwaltschaft. Diese weigere sich – angeblich aus ermittlungstechnischen Gründen – vehement, potentiellen Opfern der staatlichen Massenüberwachung Auskünfte über die Verwendung der Datensätze zu geben.

Angesichts der hohen Zahl gefilterter Personen könne nun nicht mehr davon ausgegangen werden, daß sich die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wie bisher behauptet, auf die Zahl der potentiell schweren Straftaten konzentrieren würden. Vielmehr müsse nunmehr davon ausgegangen werden, daß »Bewegungen und Strukturen einer Protestkultur in Sachsen massiv ausspioniert werden, um mit repressiven Mitteln gegen diese vorzugehen«, konstatierte Franziska Radtke.

Die Dresdner Polizei hatte am 19. Februar dieses Jahres insgesamt mehr als eine Million Datensätze von Mobiltelefonen gespeichert und dabei auch sogenannte IMSI-Catcher eingesetzt, mit deren Hilfe auch Gespräche mitgehört werden können. Zudem ermittelt die eigens ins Leben gerufene »Sonderkommission 19/2« noch immer wegen der angeblichen »Bildung einer kriminellen Vereinigung« nach Paragraph 129 StGB gegen »Dresden Nazifrei!«

www.dresden-nazifrei.com

* Aus: junge Welt, 26. Juli 2011


Zurück zur Seite "Rassismus, Antisemitismus und Neofaschismus"

Zur Seite "Innere Sicherheit"

Zurück zur Homepage