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Washington spannt einen neuen Raketenschirm

Warschau und Prag hoffen auf Beteiligung am mobilen System

Von Olaf Standke *

USA-Vizepräsident Biden erörtert in dieser Woche in Polen und Tschechien die neuen Raketenabwehr-Pläne von Präsident Obama. Die Vereinigten Staaten würden weiterhin der Sicherheit beider NATO-Partner verpflichtet sein, heißt es in Washington.

Joe Biden hatte sich schon vor seinen Gesprächen in Warschau und Prag bemüht, die dortigen Irritationen nach dem von Präsident Barack Obama verkündeten Verzicht auf ein von der Bush-Regierung vereinbartes Raketenabwehrsystem in Polen und Tschechien abzubauen. So klagte etwa Tschechiens konservativer Ex-Premier Mirek Topolanek, der Beschluss zeige, dass Washington »kein großes Interesse mehr« an der Region habe. Zuvor hatten 22 Staatsmänner und Intellektuelle die Stationierung in einem offenen Brief an die Obama-Regierung sogar zum »Symbol für Amerikas Glaubwürdigkeit« stilisiert, so als habe es in Polen und vor allem in Tschechien nicht auch massiven Widerstand in der Bevölkerung gegen das Vorhaben gegeben. Und das vom Springer-Verlag herausgegebene polnische Boulevardblatt »Fakt« schrieb kurz und bündig: »Verrat! Die USA haben uns an Russland verkauft.«

Das bestreitet Biden in der gestrigen Ausgabe der Warschauer Tageszeitung »Rzeczpospolita«: »Wir haben keinerlei Abmachungen mit Russland zu Lasten von Zentraleuropa getroffen.« Bemühungen um bessere Beziehungen mit Moskau würden nicht auf Kosten der NATO-Partner gehen. »Wir schätzen die Kooperation mit unseren Verbündeten im Bereich der Raketenabwehr sehr, besonders unsere Zusammenarbeit mit Polen und Tschechien.« Washington zähle daher bei künftigen Projekten auf diese Kooperation. Auch Außenministerin Hillary Clinton hatte betont, dass Polen und Tschechien Hauptkandidaten für die Stationierung von oberirdischen Elementen des neu zu konzipierenden US-amerikanischen Raketenabwehrsystems blieben.

Denn abgesagt hat Obama das Milliarden Dollar verschlingende Rüstungsprojekt nicht. Ein verändertes Abwehrprogramm soll sich nun auf den Schutz vor iranischen Kurz- und Mittelstreckenraketen konzentrieren. Statt aufwendiger Abfangsysteme für Langstreckenraketen plant das Pentagon zum Beispiel die Stationierung von einfacheren und nicht zuletzt auch billigeren SM-3-Raketen, die anfliegende Ziele in einer geringeren Entfernung zerstören können. Das erfolgreich getestete System, mit dem schon die US-amerikanische und die japanische Marine ausgerüstet sind, könnte zunächst bis 2011 in strategischen Zonen auf Schiffen installiert werden, bis 2015 dann als landgestützte Version auch in der Türkei, auf dem Balkan oder eben in Polen.

Sein Land betrachte das SM-3-Konzept als »sehr interessant und nützlich«, erklärte gestern Ministerpräsident Donald Tusk nach einem Treffen mit Biden und begrüßte die neuen Pläne von Präsident Obama. Polen sei als »gleichberechtigter Partner« der USA bereit, die Mitverantwortung für die Sicherheit zu übernehmen. Zum Sinneswandel dürfte auch beigetragen haben, dass Washington dem Wunsch Warschaus entsprochen hat, zudem möglichst schnell Patriot-Raketen zu stationieren. Sie sollen wahrscheinlich schon im ersten Quartal 2010 aufgestellt und möglicherweise in die polnische Landesverteidigung integriert werden.

Prager Medien wiederum spekulieren, dass Washington in Tschechien das logistische Zentrum für sein mobiles Raketenabwehrsystem einrichten werde, und berufen sich auf die stellvertretende USA-Außenministerin Ellen Tauscher, die unlängst auf einer Konferenz des Atlantik-Rats die neuen Pläne vorgestellt hat. Die Obama-Regierung schlägt zudem eine engere Zusammenarbeit mit tschechischen Firmen in der militärwissenschaftlichen Forschung zur Vervollkommnung der Raketenabwehr und einen verstärkten Technologieaustausch vor. Die Prager Wunschliste ist allerdings noch länger. So will Tschechien nach Möglichkeit wieder aktiv in der Raumfahrt mitwirken und träumt von der Entsendung eines weiteren Astronauten ins All.

In Moskau dürfte man die Entwicklung genau beobachten. Die neuen Raketenabwehrpläne würden weniger Risiken für Russland mit sich bringen als die ursprünglichen, meint Außenminister Sergej Lawrow. Zumal die USA laut Pentagon-Vize Alexander Vershbow nicht vorhätten, Anlagen außerhalb der NATO zu stationieren, wie er gerade während eines Besuchs in Tbilissi sagte. Zuvor wollte Georgiens Vizeaußenminister Alexander Nalbandow eine Stationierung von Elementen der US-Raketenabwehr in seinem Land nicht ausschließen. Der stellvertretende US-Generalstabschef James Cartwright hatte vor einigen Wochen erklärt, das Pentagon erwäge solche Anlagen im Kaukasus, dabei aber keinen konkreten Standort genannt. Risiken also bleiben für Moskau. Auch, weil eine einseitige Ausweitung der strategischen Raketenabwehr den Prozess der atomaren Abrüstung wesentlich komplizierter gestalte, wie der russische UNO-Botschafter Vitali Tschurkin betont. Deshalb sei es dringend erforderlich, den Zusammenhang zwischen strategischen Offensiv- und Defensivwaffen in einen neuen russisch-amerikanischen Vertrag über die Reduzierung der Atomwaffenarsenale festzuschreiben.

Hintergrund: Der Traum von der Unverwundbarkeit

George W. Bush war nicht der erst USA-Präsident, der von der Unverwundbarkeit der Supermacht träumte. Am 23. März 1983 gab sein republikanischer Vorgänger Ronald Reagan (Foto: dpa) mit einer »Sternenkriegsrede« den Startschuss für die Strategic Defense Initiative (SDI). Mit dieser »Strategischen Verteidigungsinitiative« sollte unter Verletzung völkerrechtlicher Vereinbarungen das Wettrüsten in den Weltraum getragen werden. Doch viele Komponenten erwiesen sich als unrealistisch und zu teuer. Das Programm, das 1993 endgültig auslief, soll trotzdem weit reichende Wirkungen gehabt haben. »Unsere Wissenschaftler haben uns gesagt, dass wir für eine Antwort noch viele Jahre gebraucht hätten«, so der damalige Moskauer Außenminister Eduard Schewardnadse. »Wir waren deshalb an Entspannung interessiert.« SDI sei so einer der Gründe dafür gewesen, dass man die deutsche Wiedervereinigung zuließ.

In den USA dachte das Militär weniger an Entspannung und arbeitete weiter an modifizierten SDI-Varianten. Noch zur Regierungszeit Bill Clintons wurde 1999 das Gesetz zur Nationalen Raketenverteidigung verabschiedet. Um es umzusetzen, kündigte Washington zwei Jahre später den mit der UdSSR 1972 geschlossenen ABM-Vertrag auf. Die National Missile Defense (NMD), die im Unterschied zu SDI auf landgestützte Raketenabwehrsysteme setzt, entwickelte sich zum teuersten Rüstungsprojekt der Bush-Ära. Allein im Haushalt 2008 wurden knapp neun Milliarden Dollar bereitgestellt. Bis 2013 sollten auch in Osteuropa Anlagen stationiert werden, angeblich um Raketenangriffe von »Schurkenstaaten« wie Iran zu verhindern. In Polen wollte man zehn Abfangraketen - kleiner und leichter als die bereits installierten NMD-Systeme in Alaska oder Kalifornien und ohne Sprengkopf - in unterirdischen Silos platzieren. Sie sollten feindliche Flugkörper mit großer Geschwindigkeit rammen und zerstören. Eine Radarstation der Raketenabwehr-Agentur des Pentagon, die seit zehn Jahren auf einem Atoll im Pazifik steht und Tests des Systems überwacht, hätte am neuen Standort in Tschechien die Daten für den Abschuss geliefert.

Abgesehen vom Widerstand Russlands, das die Pläne als Bedrohung verstand, gab es immer auch Zweifel an Eignung und Machbarkeit des Projekts. Laut einer in diesem Jahr vorgelegten Studie des New Yorker EastWest Institute sind die geplanten Anlagen in Osteuropa für die Früherkennung und Abwehr iranischer Interkontinentalraketen mit nuklearen Sprengköpfen, die in den nächsten fünf bis sechs Jahren ohnehin nicht zu erwarten wären, völlig ungeeignet. In der Obama-Regierung muss man dies gut gelesen haben. Sta



* Aus: Neues Deutschland, 22. Oktober 2009


Orbitale Hintertür

Von René Heilig **

In Polen werden vorerst nur NATO-generierte »Patriots« stationiert, Tschechien darf sich den Weltraum weiterhin nur durch Teleskope anschauen. Die Lange entspannt sich. Heißt es.

Schön wäre es. Man muss nicht James-Bond-Freak sein, um zu ahnen, dass es noch diverse andere Möglichkeiten gibt, um All-gegenwärtig militärische und damit politische Überlegenheit zu erreichen. Nicht von ungefähr hat die russische UN-Delegation gerade versucht, einen Resolutionsentwurf in die Weltdebatte einzubringen, der sich gegen eine weitere Aufrüstung im Kosmos wendet. Man darf davon ausgehen, dass diese Bemühungen abermals am Unwillen der USA scheitern. Washington hat Übung darin, sich eine SDI-Hintertür offen zu halten. Gerade jetzt, da man sich von der Nutzlosigkeit polnisch-tschechischer Varianten überzeugt hat, ist diese Taktik erneut zu erwarten - es sei denn, Obama überrascht uns und stimmt Moskaus Ideen über mehr Frieden im Orbit zu.

Unberührt vom Streit unter den großen Weltraummächten machen sich kleine im Kosmos breit. Deutschland beispielsweise. Nachdem die SAR-Lupe-Aufklärungskette arbeitet und durch einen Nachrichtensatelliten effektiviert wurde, arbeiten Ingenieure bereits an einer neuen Generation von militärischen Aufklärungssatelliten.

** Aus: Neues Deutschland, 22. Oktober 2009 (Kommentar)


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