"Damit Krieg planbar wird"
Wie wird man Totalverweigerer? Stefan hat einfach zu Ende gedacht. Heut steht er vor Gericht
Von Ulrike Gramann *
Stefan Gierke ist 20. Aus Gewissensgründen verweigert er nicht nur den
Dienst an der Waffe, sondern auch den Zivildienst. Geschätzt gibt es pro
Jahr rund zehn gewissensmotivierte Totalverweigerungen in Deutschland.
Manche erklären ihre Totalverweigerung, nachdem sie zur Bundeswehr
einberufen sind. Andere sind anerkannte Kriegsdienstverweigerer und
entscheiden sich bei Einberufung zum Zivildienst. Zur Zeit sind drei
laufende Strafverfahren gegen Totalverweigerer bekannt. Sollte Ende 2010
die Wehrpflicht tatsächlich ausgesetzt werden, könnte Stefan Gierke
einer der letzten rechtskräftig verurteilten Totalverweigerer sein.
Nicht einmal lügen hätte er müssen. Ein kleines »Ich weiß noch nicht«
hätte genügt, als er vor anderthalb Jahren im November gefragt wurde, ob
er bei der Bundeswehr dienen oder Zivildienst leisten möchte. Vielleicht
wäre er dann ausgemustert worden. Seine Chancen standen nicht schlecht,
46 Prozent aller Kandidaten wurden 2008 ausgemustert. Doch Stefan Gierke
ließ es nicht darauf ankommen und entschied sich für den Zivildienst.
Zunächst zumindest. Bereut er heute seine Ehrlichkeit? »Wäre ich
ausgemustert worden, würde ich die Welt heute anders sehen. Vielleicht
hätte ich weniger nachgedacht.« Mit Sicherheit würden ihm einige
Erfahrungen fehlen, die er Gleichaltrigen nun voraus hat. Denn am Ende
seines Nachdenkens verweigerte Stefan auch den Dienst im Krankenhaus.
Einer von zehn
Der Abiturient, der in Berlin-Spandau aufgewachsen ist und ab Herbst
2010 Physik studieren wird, »konnte Waffen noch nie leiden«. Das klingt
nach viel Gefühl. Aber wenn es um die Gründe seiner Verweigerung geht,
verfügt der sonst so freundliche junge Mann auch über druckreife Sätze,
denen man lange Stunden des Nachdenkens anhört. Ein Antrag auf
Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen kann heute,
abhängig von der Schulbildung des Antragstellers, sehr kurz sein. Selbst
von Gymnasiasten wird kaum eine Seite Begründung erwartet, wenn nur die
richtigen Stichworte fallen. Und die findet man im Internet. Stefan
schreibt trotzdem fünf, sechs sehr persönliche Seiten. »Ich hatte
Kumpels, die aus Kosovo und Kurdistan kamen. Daher wusste ich, was Krieg
bedeutet.« Seine Gründe werden akzeptiert. Im Januar 2009 bewirbt er
sich bei seiner späteren Dienststelle, dem Malteser-Krankenhaus Berlin.
Dort arbeitet ein Zivildienstleistender in der technischen Abteilung,
zusätzlich zu drei fest angestellten Hausmeistern. Es gibt einen zweiten
Bewerber. Stefan verspricht, pünktlich und zuverlässig zu sein, er wird
angenommen.
Damals kommen ihm erste Zweifel: Die drei Hausmeisterstellen sind der
klägliche Rest von einstmals zehn. »Man konnte heraushören, wie dringend
der Zivi benötigt wird.« Gesetzlich vorgeschrieben ist, dass der
Zivildienst »arbeitsmarktneutral« zu sein hat. In Stefan rumort es.
Warum hat »der Staat« überhaupt das Recht, ihn einzuziehen? Im
Grundgesetz liest er, dass der Zivildienst den Dienst an der Waffe
ersetzen soll. »Dann ist er ja ein Teil der Wehrpflicht, kein sozialer
Dienst!« Für den Kriegsfall steht fest, wie Zivildienstleistende
eingesetzt werden. Stefan findet, »dass auch damit Krieg planbar gemacht
wird«.
Pflichtbewusst schiebt Stefan die Zweifel beiseite für eine andere
Pflicht - das Abitur. Aber nach den Prüfungen sind die Zweifel wieder
zur Stelle. Stefan geht zu einer antinationalistischen Demonstration,
und in Dresden, hört er, wird ein Anschlag auf Bundeswehrautos verübt.
»Ich wurde politischer und habe mir Gedanken darüber gemacht, was ich
eigentlich tue.« Stimmt er Brandanschlägen zu? »Nein. Aber ein Offizier
sagte im Interview, ein Anschlag auf die Bundeswehr sei ein Anschlag auf
die Demokratie. Was haben Militär und Demokratie gemeinsam? Das hat mich
mehr beschäftigt als abgebrannte Autos.«
Die meisten der jährlich etwa zehn Totalverweigerer treffen ihre
Entscheidung sehr bewusst und allein. Stefan kennt im Frühling 2009
keinen einzigen anderen, nur Blogs von Totalverweigerern im Internet. Er
ist entschlossen, aber er will auch keinen Ärger machen. »In meiner
Familie hatte noch nie jemand mit dem Gericht zu tun.« Stefan informiert
sich, in welchem Rahmen sich die Urteile für Totalverweigerer bewegen.
Er liest viel: Brechts »Furcht und Elend des Dritten Reiches«, die
»Flüchtlingsgespräche«. Er denkt über Erzählungen seiner Oma nach, die
als Jugendliche Hitler unterstützte und dies später tief bereute. Eine
Stelle aus »Hamlet« kann er auswendig: »Sei dir selber treu und daraus
folgt, so wie die Nacht dem Tage, du kannst nicht falsch sein gegen
irgendwen.« Wo nimmt er das her, so genau? Ein Onkel aus dem Osten hat
darüber mit ihm diskutiert, »ein alter Sozialist«, Lehrer für Deutsch
und Staatsbürgerkunde. »Freigeistig« sei der gewesen, nicht linientreu,
einer, für den sich Eltern nach 1989 einsetzten, damit er Lehrer bleiben
konnte. Stefan, der sonst fast gemütlich wirkt, sagt es mit Pathos.
Totalverweigerung ist eine radikale Entscheidung: bewusst, öffentlich,
mit dem eigenen Gesicht und auch bei Strafe für eine Überzeugung
einzustehen. Steckt dahinter eine Ideologie? Stefan hat Marx gelesen und
Texte über Anarchie, Trotzkismus, kritische Theorie. »Das war schwere
Kost.« Marxist oder Anarchist ist er nicht geworden: »Gar nichts mit
-ist.« Er diskutiere auch mit Leuten, die weniger gelesen haben, will
kein Eigenbrötler sein. »Die haben ihre Inspiration eben anderswo her.«
Einige Freunde haben Zivildienst geleistet, obwohl sie das als verlorene
Zeit ansahen. Einer ging sogar freiwillig zur Bundeswehr. Stefan hat
sich mit ihm auseinandergesetzt, sie haben einander verstanden und ihre
Entscheidung doch nicht geändert. »Wenn ihm etwas passieren würde, würde
ich um den Freund trauern, um den Soldaten trauern könnte ich nicht.«
Bei anderen toleriert er eine Trennung in privat und dienstlich, für
sich nicht. Er weiß, damit ist er »nicht so kompatibel mit der Welt«.
Er möchte allen gerecht werden, wenn er es schon nicht allen recht
machen kann. Unter dem Druck der eigenen Zuverlässigkeit ersinnt er eine
Strategie: bei Dienstantritt erklären, dass und warum er keinen
Zivildienst leisten kann, danach noch zwei Wochen bleiben, in denen
Ersatz gefunden werden kann. »Die Malteser konnten ja nichts für meine
moralischen Bedenken.« Er geht hin, am 3. August 2009, und tut, was ihm
aufgetragen wird. Er ist neu, fremd, keiner spricht mit ihm, allein
schleppt er Patientenakten aus einem Keller. Dann macht er »klar
Schiff«. Bei der Caritas Reinickendorf, der das Malteser-Krankenhaus
untersteht, schicken ihn die Frauen, denen er seine Entscheidung
erläutert, mit den Worten weg: »Sie sind ein Kämpfer für eine bessere
Welt.« Anschließend erstatten sie Anzeige. Sollte Stefan deswegen wütend
sein, merkt man es ihm nicht an. Hatte er keine Angst, im Gefängnis zu
landen? »Die Wahrscheinlichkeit war gering, das hat mich beruhigt.« Er
lacht, er lacht oft und ein bisschen zu laut, da ist auch Unsicherheit.
Pazifist nennt er sich nicht, aber er lehnt Gewalt, egal in welchem
Kontext, ab. Das ist wohl doch Pazifismus.
Warum nicht am 1. September?
Im Januar 2010 findet der Prozess vor dem Amtsgericht Berlin statt.
Stefan geht hin, ohne Anwalt, und vertritt sich selbst. Es ist nicht wie
bei einer Prüfung, er spürt keine Aufregung, nur diese Intensität, als
sei er da und zugleich auch nicht. An jedes Stiftklappern kann er sich
erinnern. »Gerichtssäle sind so groß, dass sie einen erschlagen.«
Und dann packt er seine Strafprozessordnung aus, sein Grundgesetz, seine
persönliche Erklärung. Er erwähnt, dass das Zivildienst-Amt ihn
ausgerechnet am 1. September aufforderte, den Dienst wieder anzutreten.
Warum dieses Datum, 70 Jahre nach Kriegsbeginn, ihn in der Entscheidung
bestärkte, versteht der Richter nicht. Sein Urteil ist hoch: vier Monate
Haft auf Bewährung und 600 Stunden gemeinnützige Arbeit, »um die
versäumte Zeit des Zivildienstes auszugleichen«, brummt er Stefan auf.
Das wäre mehr als ein Vierteljahr Vollzeitarbeit, außerdem würde Stefan
als vorbestraft gelten. Das macht ihn, endlich, wütend. Der Richter habe
seine Argumente nicht gesehen, nur die Arbeitszeit. Das Schlimmste sei
gewesen, danach nichts mehr sagen zu dürfen. Freunde und Mitschüler,
auch eher unpolitische, die ihn begleiteten, sind schockiert. In der
Schule haben sie gelernt, dass sie in einem demokratischen Rechtsstaat
leben. Diese Gewissheit wird nun zum ersten Mal erschüttert. An diesem
Tag geht Stefan spät nach Hause, froh, dass die besorgten Eltern
gearbeitet und nicht im Gerichtssaal gesessen haben.
Stefan hat, nun doch mit Anwalt, Berufung gegen das Strafmaß eingelegt.
Bei der Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung arbeitet er seit Februar
ehrenamtlich mit, hilft im Büro, verfasst eine Dokumentation über
Prozesse gegen Totalverweigerer. Die 600 Stunden, die er zwangsweise
ableisten soll, hat er hier aus freien Stücken gearbeitet. Bis
Semesterbeginn will er weitermachen. Das sei sozial, sagt er, »keine
Sühnehandlung«. Die Totalverweigerung ist Alltag geworden, sogar für
seine Eltern: »Wir machen Witze.« Heute findet die Berufungsverhandlung
vor dem Landgericht Berlin statt.
* Aus: Neues Deutschland, 27. Juli 2010
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