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Friedensarbeit im 21. Jahrhundert: Bellizisten und Pazifisten gemeinsam?

Ein Vortrag von Erhard Eppler (SPD) und eine erste kritische Entgegnung

Erhard Eppler, SPD, prominenter Raketengegner in den 80er Jahren, seit dem Jugoslawien-Krieg 1999 Verfechter von "humanitären Interventionen" hielt am 17. Dezember 2004 in Frankfurt am Main auf einer Veranstaltung des Vereins zur Förderung der entwicklungspolitischen Publizistik einen Vortrag über "Friedensarbeit im 21. Jahrhundert". Die Frankfurter Rundschau veröffentlichte das Referat zu großen Teilen einen Tag darauf auf ihrer Dokumentations-Seite.

Wir wollen dem nicht nachstehen und dokumentieren im Folgenden ebenfalls Epplers Thesen, wollen sie aber nicht unkommentiert lassen. Aus diesem Grund schicken wir einen kritischen Schnellschuss aus der Feder von Wolfgang Kuhlmann, bekannt als "FriedensTreiber" (http://friedenstreiberagentur.de/), hinterher.
Epplers Rede schließt an die Pazifismus-Debatte an, die vor einiger Zeit zwischen den Vertretern des Hamburger Friedensforschungsinstituts, dem leider viel zu früh verstorbenen Dieter S. Lutz und Reinhard Mutz auf der einen, und dem SPD-Abgeordneten Gernot Erler auf der anderen Seite ausgetragen wurde. Wir haben diese Debatte seiner Zeit dokumentiert, siehe unsere Zusammenfassung: NATO-Krieg und Völkerrecht: Der Bundestag muss noch viele blinde Flecken aufarbeiten.


Friedensarbeit im 21. Jahrhundert

Das Gegeneinander von Pazifisten und Bellizisten wird sinnlos, denn beide sind aufeinander angewiesen

Von Erhard Eppler*


Nur gegen den Krieg zu sein, ist für Friedensaktivisten heute zu wenig. Gewalt hat in Zeiten zerfallender Staaten vor allem in Afrika viele Gesichter. Der Autor plädiert für eine Entwicklungszusammenarbeit, die die Bildung von Institutionen stärkt, Armut bekämpft und gegebenenfalls auch militärische Mittel gegen das Morden nicht scheut.

Friedensarbeit im 20. Jahrhundert das bedeutete zuerst und vor allem Kriegsverhütung. War sie misslungen, sprachen. einmal die Waffen, so ging jede Mahnung zum Frieden im aufgewühlten Meer nationaler Gefühle unter, wenn sie nicht mit der Todesstrafe bedroht war.

Aber jede Friedensarbeit hatte eine Voraussetzung, über die niemand nachdachte, weil sie sich von selbst verstand: Dass nämlich Krieg und Frieden klar und sauber zu unterscheiden waren.

Friedensarbeit im 21. Jahrhundert muss damit zurechtkommen, dass Konflikte und Gewaltausbrüche überhand nehmen, die zwar sicher nicht dem entsprechen, was wir bislang Frieden nannten, aber auch nicht dem, was im Völkerrecht oder im Kriegsrecht mit der Bezeichnung "Krieg" belegt wurde. Herrscht in Palästina Krieg? In einem Land, in dem es nur eine Armee gibt, nämlich die israelische, während die Palästinenser noch nicht einmal einen Staat haben? War das Gemetzel in Ruanda ein Krieg? Oder eben nur ein Gemetzel? Herrscht gegenwärtig an der Grenze von Ruanda zum Kongo Krieg? Und wie ist das im Sudan? Ist das, was die arabischen Milizen schwarzen Sudanesen antun, Krieg? Oder doch Bürgerkrieg?

Natürlich kann man dieser Frage ausweichen, indem man, alle Gewalttätigkeiten einfach mit der Bezeichnung "Neue Kriege" schmückt. Aber wo ist dann die Grenze zur organisierten Kriminalität? Ist es ein Verbrechen, wenn fünf Banditen ein Hotel überfallen, aber Krieg, wenn 50 Banditen eine kleine Stadt terrorisieren? Und vor allem: Wer den Begriff desKrieges ins Unbestimmte dehnt, kann dann auch Präsident Bush nicht widersprechen, wenn er täglich seinen Mitbürgern einhämmert, sie seien nun, einmal "at war", im Krieg gegen den Terrorismus.

Der Krieg und der Staat

Ich bleibe dabei, dass Krieg etwas mit Staat zu tun hat. Entweder ist Krieg der bewaffnete Kampf zwischen. Staaten, oder er ist - als Bürgerkrieg - die bewaffnete Auseinandersetzung um die Macht in einem Staat. (...) Aber wo niemand mehr weiß, wer gegen wen mit welchem Ziel Menschen umbringt, - und das war der Fall, als im Kongo zwei Millionen Menschen, vor allem Kinder und Frauen, umkamen -, rede ich nicht von Krieg, sondern von Gewalt, privatisierter, entstaatlichter und meist auch kommerzialisierter Gewalt. Eine der Formen dieser Gewalt ist das, was Innenminister als Terror definieren und bekämpfen, wobei ich hinzufüge, dass der Terror von Warlords oder Killerbanden, Paramilitärs und Todesschwadronen schon tausendmal mehr Opfer gefordert hat und heute noch fordert als das, was Bush bei seinem Krieg gegen den Terror im Auge hat.

Es gehört wenig Scharfsinn dazu, auszurechnen, dass dieser Terror im engeren Sinne seit Beginn des Irakkrieges zugenommen hat und wohl weiter zunehmen wird. Bei intensiverem Nachdenken wird klar, dass der 12. September 2001 für die Welt nicht weniger verhängnisvoll war als das grandiose Verbrechen des 11. September 2001. Als Bush den "war an terrorism" proklamierte, fiel manchem auf, dass der französische Präsident und der deutsche Kanzler diese Wortwahl nicht übernahmen, sondern vom "Kampf gegen den Terror" - oder auch Terrorismus - sprachen. Damit kündigte sich eine politische Differenz an, die für die nächsten Jahrzehnte entscheidend sein dürfte. Denn der "Krieg gegen den Terrorismus" hat Folgen, die sich schon im September 2001 abzeichneten, von denen ich aber heute weniger als damals weiß, welche davon gewollt und welche ungewollt waren.

War es gewollt oder doch wohl ungewollt, dass Bush einen Großverbrecher zum Kriegsgegner, damit zum Kriegführenden, ja zum gleichwertigen Gegenspieler aufwertete? Noch heute neige ich dazu, dies für eine ungewollte Folge anzusehen, weil die Vorstellung, Bush habe dies gewollt, uns in Abgründe blicken ließe, in die nur Schwindelfreie blicken können.

War es gewollt oder ungewollt, dass mit dem "war an terrorism" die Schwelle zum Krieg zwischen Staaten, also dem im Irak, abgehobelt wurde? War es möglicherweise gewollt, dass mehr als die Hälfte der US-Bürger im - damals schon beschlossenen -Irakkrieg nichts wirklich Neues, sondern nur eine neue Phase in einem längst tobenden Krieg sahen?

Wussten die Strippenzieher im Weißen Haus, was es bedeutet, Verbrecherjagd zum Krieg zu überhöhen? Wollten sie, was sie nachher tun mussten: den wirklichen Krieg als Verbrecherjagd inszenieren, mit Fahndungsliste und Kopfprämie? Wussten und wollten sie, dass damit das geltende Kriegsrecht ausgehebelt wurde? Denn dieses Kriegsrecht sieht den Krieg als Verbrecherjagd nicht vor, also auch keine "feindlichen Kämpfer", ohne Anspruch auf humane Behandlung.

Es war doch wohl eher ungewollt, dass der Irakkrieg fugenlos in das Weltbild der islamistischen Terroristen passte. Sie begründen ihre kriminelle Handlungsweise ja auch damit, dass der Militärmaschinerie der USA keine Armee der Welt widerstehen kann, dass also der Terror die einzig mögliche und wirksame Form des Widerstands sei. Wo auch immer die Überlegenheit dieser Kriegsmaschine demonstriert wird, fühlen die Terroristen sich bestätigt. Die Zahl der Selbstmordattentäter steigt.

Gewollt oder ungewollt, die Folgen sind fatal. Sie könnten zu so etwas wie einer Globalisierung des Nahostkonflikts führen: Auf der einen Seite eine moderne, unschlagbare Armee, auf der anderen Seite privatisierter Widerstand weltweit, notfalls mit der ultimativen Waffe, die der Hegemonialmacht nicht zur Verfügung steht: Dem Selbstmordattentäter oder, noch weniger fassbar, der Selbstmordattentäterin.

Ich widerspreche allen, die erwarten, dass der Krieg zwischen Staaten wieder zu einem normalen Mittel der Politik wird. Nicht, weil die Politiker, die sich einen Krieg leisten können - und das sind nicht mehr viele -, ein allzu sensibles Gewissen, hätten, sondern weil mit Kriegpolitische Ziele nicht mehr zu erreichen sind.

Der Irakkrieg wäre wirklich nur der erste einer Serie von Hegemonialkriegen gewesen, hätte er das Ergebnis gehabt, das sich Cheney oder Wolfowitz erträumt haben: Einen demokratischen, US-freundlichen Irak, in dem US-Firmen das Ölgeschäft beherrschen. Wie immer die Zukunft des Irak aussehen könnte, so jedenfalls nicht. Vielleicht plagt die Klügeren in der Bush-Regierung heute schon die Frage, wie sie wohl ohne Gesichtsverlust aus dem irakischen Chaos herauskommen könnten.

Der Krieg zwischen Staaten nützt heute in der Regel auch dem Sieger nicht. Nicht die Gewalt des Siegers hat das letzte Wort, sondern die entstaatlichte, privatisierte Gewalt im Lande des Besiegten. Militärischer Sieg führt zur Erosion des staatlichen Gewaltmonopols, zumal dann, wenn der tumbe Sieger, wie im Irak, erst einmal, den Staat abschafft. (...)

Moderne Industriegesellschaften sind auch nicht mehr bereit, die Menschenopfer zu bringen, die in den Weltkriegen noch hingenommen wurden. (...) Natürlich werden in neokonservativen Zirkeln neue Kriege ausgeheckt. Aber ob sie je stattfinden, ist mehr als zweifelhaft, solange im Irak geschieht, was nüchterne Beobachter vorausgesagt haben. Der Krieg zwischen Staaten wird im Irak nicht rehabilitiert, sondern ad absurdum geführt. Der Unilateralismus hat nicht triumphiert, er scheitert. Ein internationales Gewaltmonopol könnte sogar die Hegemonialmacht entlasten, sobald sie eingesehen hat, dass sie diese Entlastung brauchen kann.

Friedensarbeit am Beginn des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr Verhinderung von Kriegen. Welche Kriege in Europa sollten wir Deutschen denn verhindern? Mit unseren Bündnispartnern in der Nato? Da Russland das einzige Land ist, mit dem, wenn auch nur theoretisch, europäischer Krieg noch möglich wäre, finde ich das freundschaftliche Vertrauensverhältnis zwischen Gerhard Schröder und Wladimir Putin auch dann erfreulich, wenn die meisten Russen samt ihrem Präsidenten offenbar überzeugt sind, dass ihr riesiges Reich ein gewisses Maß an autoritärer Führung brauche.

Privatisierung von Gewalt

Kriege im Sinne des 20. Jahrhunderts sind noch möglich zwischen Indien und Pakistan, Nord- und Südkorea. Aber auch die halte ich für unwahrscheinlich, solange die übrige Welt, vor allem auch die Vereinigten Staaten, diese Kriege verhindern wollen.

Friedensarbeit im 21. Jahrhundert wird wenig an klassischem Krieg, aber sehr viel an Gewalt zu verhindern, zurückzudrängen, manchmal auch nur zu mildem haben. Sicher, das kann auch Staatsgewalt sein, gesetzlose Staatsgewalt eines Diktators, Staatsterror, wie wir ihn aus dem 20. Jahrhundert zur Genüge kennen. Aber in den meisten Fällen dürfte es entstaatlichte, privatisierte, kommerzialisierte Gewalt sein.

Das können, wie im Sudan, gewalttätige Milizen sein, die einmal von der Regierung gefördert wurden, was noch lange nicht heißt, dass sie dieser Regierung gehorchen müssten. Daher wundere ich mich oft über die deutschen Gazetten, für die es ganz im Belieben der sudanesischen Regierung liegt, ob diese Milizen Ruhe geben oder sich gar selbst auflösen. So mächtig sind afrikanische Regierungen häufig nicht. Das Gewaltmonopol, das wir voraussetzen, gibt es nur in wenigen afrikanischen Staaten. Was aber häufig vorkommt, ist das, was ich die Privatisierung der Gewalt von oben nenne: Dass Regierungen das, was sie ihren regulären Soldaten und Polizisten an Scheußlichkeiten nicht zuzumuten wagen, an paramilitärische Verbände delegieren, die sich dann irgendwann eigene Finanzierungsquellen erschließen und auf die Regierung pfeifen. (...)

Warlords entmachten

Privatisierte und kommerzialisierte Gewalt, das können auch Warlords sein, die vor allem, in zerfallenden und zerfallenen Staaten gedeihen. Sie haben meist keine politischen Ziele außer der Ausübung von Macht zur Absicherung und Förderung ihrer Geschäfte. Ihre Gewalt muss sich rentieren. Sie sind Unternehmer, Kommandeure und lokale Herrscher in einem. Friedensarbeit im 21. Jahrhundert bedeutet, diese Kriegsherren entweder zu entmachten oder ihre Macht den Gesetzen eines Staates zu unterwerfen.

Im 20. Jahrhundert gingen Gewalt und Terror vor allem von Staaten aus. Im 21. Jahrhundert werden Gewalt und Terror vor allem da entbunden, wo der Staat verfällt. (...) Im 20. Jahrhundert hatten wir Grund, uns vor dem übermächtigen Staat zu fürchten. Im 21. Jahrhundert kommen Millionen um, weil der ohnmächtige Staat sie nicht mehr vor der Willkür verwilderter Söldner schützen kann. Kein Wunder, dass wir Mühe haben, den neuen Realitäten gerecht zu werden. Wir sträuben uns gegen unsere Einsichten und haben daher Mühe, daraus die nötigen Schlüsse zu ziehen.

Ein Schluss fällt uns nicht schwer: Wenn Krieg zwischen Staaten ein unrentables Auslaufmodell ist, dann schwindet die Bedeutung militärischer Überlegenheit. Wettrüsten hat keinen Sinn mehr. Peter Struck hat recht, wenn er hunderte von Panzern verscherbelt.

Schon weniger gerne geben wir zu, dass es trotzdem nicht ratsam, ist, auf bewaffnete Macht ganz zu verzichten. Zwar werden wir weniger Soldaten und mehr Polizisten brauchen, auch die Geheimdienste werden ausreichend Arbeit haben, aber es wird auch künftig Fälle geben, wo beide überfordert sind, sicher nicht in Deutschland oder Frankreich, wohl aber auf dem Balkan, in Afghanistan oder Westafrika. Dass die Bundeswehr umgekrempelt werden muss, ist inzwischen ein Gemeinplatz. Ob dies so radikal geschieht, wie es angezeigt wäre, dürfte noch Gegenstand der Diskussion werden.

Noch schwerer fällt es vielen von uns, militärische Interventionen zu billigen. Wer sie grundsätzlich für falsch hält, müsste dann wohl auch die Abschaffung der Bundeswehr fordern. Richtig bleibt, dass Waffen keinen Frieden stiften können, auch nicht Soldaten, die Schulen, bauen oder Hilfsorganisationen beschützen. Das wussten wir schon, ehe die Erfahrungen im Kosovo dies bestätigt haben. Aber es wird immer wieder bewaffnete Kräfte brauchen, die das Morden stoppen und damit Friedensarbeit erst ermöglichen. Natürlich können Soldaten nur die Aufgabe haben, sich selbst überflüssig zu machen, aber wir sollten dann nicht die Monate zählen, sondern die Jahre, und dies ohne Ungeduld.

So richtig es ist, dass Friedensarbeit, die Eindämmung gesetzloser Gewalt, nicht ohne legitime Gewalt möglich ist, so sicher ist auch, dass die entscheidende Arbeit anderswo zu leisten ist.

Was führt denn dazu, dass Staaten zerfallen und dem Platz machen, was die Franzosen "entité chaotique ingouvernable" nennen? Da ist zum Beispiel die Korruption. Wie soll ich einer Justiz vertrauen, wenn ich weiß, dass Richter sich bestechen lassen? Eine der Ursachen der Korruption sind die oft lächerlichen Gehälter der Staatsdiener. Sie sind, zumal in Afrika, oft so berechnet, dass sie nur mit den Zusatzeinnahmen aus Schmiergeldern ausreichen, eine Familie zu ernähren. Das gilt häufig auch für die Polizei. Staatsverfall tritt in eine akute Phase, wenn Polizisten keine Lust mehr haben, für ein miserables Gehalt ihr Leben bei der Verbrechensbekämpfung aufs Spiel zu setzen. Damit ist auch gesagt: Die Aushungerung des Staates, für neoliberale Ideologen nicht selten ein erstrebenswertes Ziel, verträgt sich nicht mit der Bekämpfung der Korruption, auch nicht mit der Erhaltung staatlicher Gewaltmonopole.

Natürlich gibt es Länder, die so arm sind, dass sie keine Ratgeber aus Washington brauchen, um die Autorität von Justiz und Polizei zu untergraben. Manche afrikanischen Länder sind in einen neuen Elendszirkel geraten: Weil sie arm sind, können sie Investoren keine Rechtssicherheit bieten, und weil sie dies nicht tun können, werden sie immer ärmer.

Natürlich hat Armutsbekämpfung zuerst einmal das Ziel, Menschen satt zu machen, ihnen Arbeit zu verschaffen, dazu einen Brunnen, ein Hospital, einen Arzt, den sie erreichen können. Aber der Kampf gegen extreme Armut ist inzwischen auch, deutlicher als im 20. Jahrhundert, Friedensarbeit, Ein legitimes, von den betroffenen Menschen anerkanntes Gewaltmonopol ist sicher nicht für Geld zu haben, aber ebenso sicher auch nicht ohne Geld.

Entwicklungszusammenarbeit dürfte im 21. Jahrhundert wohl leichter als im 20. als Friedensarbeit erkennbar, erfahrbar und propagierbar werden. Aber damit haben sich auch die Akzente innerhalb der Hilfsanstrengungen verschoben, und sie werden sich weiter verschieben. Erfolg solcher Hilfe wird wohl immer weniger an den Wachstumsraten des Sozialprodukts ablesbar sein, jedenfalls nicht kurzfristig, sondern am Zustand einer Gesellschaft und ihres Staates. Ist diese Gesellschaft so strukturiert, sind ihre Institutionen, die staatlichen und die zivilgesellschaftlichen so beschaffen, dass dieses Land sich entwickeln kann, wirtschaftlich, politisch, kulturell? Gelingt es, jede Gewalt, die staatliche wie die privatisierte, dem Recht zu unterwerfen?

Dies bedeutet mehr als früher Aufbau von Institutionen, Stärkung von bestehenden. In Afrika - und hier liegt die Hauptaufgabe für uns Europäer - kann dies heißen, dass wir alles fördern und stützen, was der Gesellschaft Gestalt und Halt gibt, was dem Chaos widersteht. Das können Vereine sein, Kirchengemeinden, Gewerkschaften, NGO, aber auch lokale, regionale und gesamtstaatliche Verwaltungen, Justiz und Polizei. Natürlich wird man immer darauf achten müssen, dass nicht der Eindruck einer Bevormundung entsteht. Daher werden wohl auch die multilateralen Bemühungen zunehmen müssen. Aber auch etwas so Verpöntes wie Budgethilfe wird neu zu diskutieren sein, wenn und wo die Regierenden sich als resistent gegen Korruption erwiesen haben.

Natürlich wird dies alles erleichtert, wenn ein Land zu so etwas wie Demokratie gefunden hat. Aber wie verhalten wir uns da, wo davon noch wenig zu spüren ist? Zu dem, was der Irak uns lehrt, gehört auch, dass zwar Diktatoren durch Krieg entmachtet werden können, dass aber gerade danach das Chaos droht. Natürlich gibt es kriminelle Diktaturen, mit denen man nicht arbeiten kann. Aber nicht jede autoritäre Herrschaft gehört dazu. Eine solche Herrschaft im Laufe von vielen Jahren langsam zu demokratisieren und damit auch zu legitimieren, ist des Schweißes und der Geduld der Edlen wert.

Schlichte Thesen taugen nicht

Wenn es um Frieden geht, meinen wir einen Zustand ohne jene Gewalt. Die Engländer - zusammen mit allen romanischen Völkern - nennen sie "violence" nach dem lateinischen "violare", was so viel bedeutet wie "verletzen". Von wem auch immer diese Gewalt ausgeht, von den Truppen eines aggressiven Staates, von den marodierenden Soldaten eines zerfallenden Staates, von den verwilderten Söldnern oder Kindersoldaten eines Warlords, von paramilitärischen Säuberungskommandos oder von den Fanatikern eines terroristischen Netzwerks, sie erlaubt zwar meist nicht die Bezeichnung "Krieg", aber sie verwehrt es uns, von Frieden zu sprechen. Die schlichte Antithese, Krieg-Frieden wird die Realität nur noch selten treffen. Friedensarbeit findet also statt in einem Umfeld und für ein Umfeld, das irgendwo zwischen Krieg und Frieden anzusiedeln ist. Vielleicht finden wir noch ein Wort, das diesen Zustand beschreibt.

Eben weil die Antithese Krieg-Frieden meist nicht mehr anwendbar ist, gelten auch nicht mehr die Handlungsalternativen des 20. Jahrhunderts. Nicht mehr: Entweder zivile Konfliktprävention und Konfliktbewältigung oder militärische Intervention, sondern eine breite Palette von Maßnahmen, die beides umfasst. Das Gegeneinander von Bellizisten und Pazifisten wird sinnlos, gefragt ist die Zusammenarbeit von Militärs, die das Schießen stoppen können und Friedensarbeitern, die in ihrem Schutz Frieden vorbereiten und stiften wollen. Was wir brauchen, und zwar auf beiden Seiten, ist das Bewusstsein, dass beide aufeinander angewiesen sind. Allerdings: Je intensiver und erfolgreicher Entwicklungszusammenarbeit sein wird, desto weniger werden Militär und Polizei zu tun bekommen. Sie werden froh darüber sein, denn an Arbeit wird es ihnen trotzdem nicht fehlen.

* Erhard Eppler, Jahrgang 1926, SPD, von 1968 bis 1974 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Von 1973 bis 1981 war er Landesvorsitzender der SPD in Baden-Württemberg. 1983 leitete er den 20. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hannover. Dort stand im Zentrum eine sehr lebhafte Diskussionen um die Raketenstationierung.
Auf dem SPD-Parteitag 1999 stellte er sich hinter die rot-grüne Bundesregierung, als er die deutsche Beteiligung an Nato-Einsätzen in Jugoslawien befürwortete.

Aus: Frankfurter Rundschau, 18. Dezember 2004 (Dokumentation);
Internet: www.fr-aktuell.de



Warum Friedenspolitik in der SPD scheitert (kontra Eppler)

Von Wolfgang Kuhlmann

Gerade das, was die Überschrift besagt, wollte Erhard Eppler nicht erklären. Er wollte eher Werbung dafür machen, daß eine solche Politik auch in (und dann logisch: "mit") der SPD möglich ist. Doch die FTA-Überschrift ergibt sich von selbst, wenn man die Dokumentation der FR, in der Eppler über "Friedensarbeit im 21. Jahrhundert" schreibt, näher betrachtet.

Es ist schon der Untertitel, der darauf hinweist, daß etwas bei Eppler unstimmig sein muß. Sie lautet:
Das Gegeneinander von Pazifisten und Bellizisten wird sinnlos, denn beide sind aufeinander angewiesen

Bellizisten sind zu keiner Zeit auf Pazifisten angewiesen. Letztere stören die ersteren sogar bei ihrem Tun. Richtig ist allenfalls, daß Pazifisten insoweit auf die Bellizisten angewiesen sind, als daß ohne diese und ihre Kriege kein Pazifismus denkbar wäre. Es wäre Frieden in der Welt, Pazifismus als namenlose Doktrin und Fakt allgegenwärtig. Mithin ziemlich nah am Idealzustand.

Die platte Alltagsphilosophie auf die Spitze treibend: erst war der Frieden, dann kam der Krieg, und dann die Sehnsucht nach Frieden, Pazifismus genannt. Das alles nicht gott- oder naturgegeben, sondern den jeweils herrschenden gesellschaftlichen Kräften geschuldet.

Eppler plädiert für eine Verschränkung von Entwicklungsarbeit mit militärischer, sprich kriegerischer Gewalt:
Entwicklungszusammenarbeit, die ... gegebenenfalls auch militärische Mittel gegen das Morden nicht scheut.

Daß dieses Ausbeutungsverhältnis stabilisierende militärisch-zivile "Modell" in der Realität soeben in Irak und Afghanistan scheitert, die Hintergründe für "das Morden" nicht mehr hinterfragt, nimmt Eppler nicht zur Kenntnis.

[Einschub: meine Rechtschreibprüfung, dieses gewitzte Vehikel schon so mancher Erkenntnisse, riet mir rot(!) geschlängelt, die "Ausbeutungsverhältnis" durch "Eigentumsverhältnis" zu ersetzen. Hat viel miteinander zu tun. Man merkt eben doch, daß mein Mail-Programm aus dem ehemaligem Ostblock stammt.]

Eppler beschränkt den Begriff "Krieg" auf den völkerrechtlichen, den zwischen zwei Staaten.
Ich bleibe dabei, dass Krieg etwas mit Staat zu tun hat. Entweder ist Krieg der bewaffnete Kampf zwischen Staaten, oder er ist - als Bürgerkrieg - die bewaffnete Auseinandersetzung um die Macht in einem Staat.
Und alles andere fällt aus dem Rahmen. Was beispielsweise Warlords auf eigene oder - wie in Afghanistan - auch auf fremde Rechnung treiben, verkommt allenfalls zum schlichten Terror, welcher für ihn privater Terror ist. Widerstand, der juristisch und ethisch auch militant sein *kann*, gibt es anscheinend für Eppler nicht. Er fiele unter Terror.

Aus dem Rahmen fallen auch die sozialen Kriege, die von den Herrschenden mittels sozialer und struktureller Gewalt geführt werden. Sie sind im Sinne der Herrschaftserhaltung leichter auszublenden, weil sie "saubere" Kriege sind.

Die Opfer sterben nicht blutend vor laufenden Kameras, sondern allenfalls im stillen Winkel. Dieses Sterben wird individualisiert, die Schuld auch sprachlich dem Einzelnen zugewiesen: "Selbst" und "Mord" wird es dann genannt, was in der Kombination dieser Begriffe besonders verwerflich und damit ausgrenzend wirkt.

Was am Beispiel dieser sozialen Tötungen besonders krass deutlich wird, gilt im übrigen auch für die (psychisch) Verletzten dieser sozialen Killing Fields. Bei näherer Betrachtung gibt es Opfer auch nur auf der einen Seite. Oder hat man je davon gehört, daß ein Politiker oder Wirtschaftsführer aufgrund des berechtigten Widerstandes im sozialen Krieg - sei es Streik oder Montagsdemo - gestorben ist?
Dieser Krieg ist partiell in der Tat "sauber".

Dann kommt der Schlüsselabsatz:
War es gewollt oder doch wohl ungewollt, dass Bush einen Großverbrecher zum Kriegsgegner, damit zum Kriegführenden, ja zum gleichwertigen Gegenspieler aufwertete? Noch heute neige ich dazu, dies für eine ungewollte Folge anzusehen, weil die Vorstellung, Bush habe dies gewollt, uns in Abgründe blicken ließe, in die nur Schwindelfreie blicken können.

Wenn man schon, wie Eppler, die Augen vor anderen Möglichkeiten als der staatsoffiziellen Verschwörungstherie zum ElftenNeunten verschließt, dann sollte man sie doch zumindest für die Beantwortung dieser selbst gestellten Frage öffnen - und sie mutig bejahen. Und ebenso die in der Dokumentation nachfolgenden Fragen. Dann wird das Weltgeschehen rund um und mit dem militärisch-industriellen Komplex - früher als USA bekannt - verständlich und logisch.

Dann kommt man auch nicht dazu, aus der Wortwahl von Schröder und Chirac ("Kampf" statt "Krieg" gegen den Terror) heraus ihr Handeln einerseits als pazifistisch zu überhöhen (ist demnach gegen Krieg gerichtet) und andererseits zu rechtfertigen (ist nur gegen Terroristen, die bekanntlich verbrecherisch sind, gerichtet, also eine simple wenngleich weltweite Polizeiaufgabe).
Wenn man die Welt dermaßen begreift, dann ist Friedenspolitik in dieser Partei, zu deren Vordenkern Eppler in seinem Arbeitsfeld gewiß noch zählt, zum Scheitern verurteilt.

Nicht geteilt werden kann auch die Differenzierung zwischen "gutem" staatlichem Gewaltmonopol - welches jedoch auch nach Eppler zu Kriegen mißbraucht werden kann - und "schlechtem" Widerstand gegen staatliche Gewalt in Form von Besatzung beispielsweise. Dies wird deutlich im folgenden Absatz
Auf der einen Seite eine moderne, unschlagbare Armee, auf der anderen Seite privatisierter Widerstand weltweit, notfalls mit der ultimativen Waffe, die der Hegemonialmacht nicht zur Verfügung steht: Dem Selbstmordattentäter oder, noch weniger fassbar, der Selbstmordattentäterin.

Für Anhänger des staatlichen Gewaltmonopols ist logisch ein privatisierter Widerstand ein Greuel. Doch wie anders als Widerstand möglich?
Erst recht steht dieses Frage im Raum, wenn die Strukturen des besiegten Staates zerschlagen worden sind oder wenn in (Pseudo-)Kolonien noch keine eigenstaatlichen aufgebaut werden konnten.

Selbstbefreiung - für Eppler undenkbar.

Wiederstand gegen staatliche Repression kann nur "privatisiert" sein: die Befreiung der Menschen kann nur das Werk der Menschen sein. Nicht das einen Mit-Staates.

Und noch ein letztes Wort, zu den Selbstmordattentätern:
Diese "ultimative Waffe" steht sehr wohl auch den Staaten zur Verfügung. Sie heißt im normalen Sprachgebrauch nur nicht "Selbstmordattentäter" sondern gemeinhin "Soldat". Es ist eben ein staatlicher und nicht ein privatisierter Gewalt-Inhaber. Auch der Soldat ist bereit, seinen eigenen Tod in Kauf zu nehmen (wenngleich hoffend und davon ausgehend, aufgrund überlegener Waffentechnik lebendig davon zu kommen), um den Gegner zu töten.

Scharf gemacht und ferngesteuert wird diese Waffe ähnlich wie der gemeine Selbstmordattentäter durch Religion, Nationalismus, Rassismus, wo das nicht hilft: durch Vaterlandsliebe oder deren modernisierter Form Standortsliebe.
Worin also besteht der Unterschied?

Merke: geht die staatliche "ultimative Waffe" kein eigenes Lebensrisiko mehr ein, sitzt sie garantiert im Pentagon und mutiert sprachlich zum Mordattentäter.

Quelle: Newsletter von FTA; Internetseite: http://friedenstreiberagentur.de/


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