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Neue Verantwortung

Zum 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus: Die Linke muss für eine andere Wirtschaftsordnung kämpfen und für eine Entspannungspolitik gegenüber Russland

Von Oskar Lafontaine *

Am Donnerstag abend hat die Linksfraktion zur Gedenkveranstaltung »Befreiung« im Bundestag eingeladen. junge Welt (und wir) dokumentiert (dokumentieren) die Rede (laut Vorabmanuskript) von Oskar Lafontaine, Vorsitzender der Fraktion Die Linke im saarländischen Landtag und früherer Vorsitzender der Partei Die Linke.

Jahrestage und Gedenkveranstaltungen prägen die Erinnerungskultur der Menschen. Das gilt besonders für den 8. Mai, den Tag des Kriegsendes in Europa.

»Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat«, schrieb einst der Aufklärer Voltaire. Aber wer hat sich auf was geeinigt? Marx und Engels helfen da weiter: »Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken.« Die herrschende Geschichtsschreibung ist die Geschichtsschreibung der Herrschenden.

Das galt und gilt auch für die Jahrestage und Gedächtnisfeiern zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Als Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede am 8. Mai 1985 sagte: »Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.« Und weiter: »Wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Kriege führte.« Und: »Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten.« Da wurde er von allen zu Recht gefeiert. Einen Tag später meinte Willy Brandt zu mir: »Das habe ich schon so oft erzählt, aber es ist wohl etwas anderes, wenn ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier oder ein ehemaliger Emigrant so etwas sagt.« Das deutsche Bürgertum, das sich, von einigen Ausnahmen abgesehen, den Nazis weder 1933 noch in den folgenden Jahren ernsthaft entgegengestellt hatte, bewertete das Ende des Zweiten Weltkrieges anders als die Arbeiterbewegung, die schon vor 1933 und während der Nazidiktatur Widerstand leistete.

Auch der Widerstand gegen Hitler wurde nach dem Krieg in Westdeutschland instrumentalisiert. Im Geschichtsunterricht an den Schulen wurde er auf das Attentat vom 20. Juli 1944 und auf den vereinzelten Widerstand überzeugter Christen reduziert. Vom Kampf und den Leiden der Arbeiterbewegung, von den Gewerkschaftern, Kommunisten und Sozialdemokraten, die in die Konzentrationslager gebracht wurden, war weniger die Rede. Auch von dem Schreiner Georg Elser, der schon am 8. November 1939 bei einer Kundgebung im Münchner Bürgerbräukeller ein Attentat auf Hitler und die nationalsozialistische Führungsspitze versuchte, hörten wir in der Schule nichts.

Im Schwur von Buchenwald hieß es: »Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.« Den Überlebenden von Buchenwald ging es um die Wurzeln des Faschismus. Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, dass sie dabei das kapitalistische Wirtschaftssystem im Auge hatten. In den Analysen der Arbeiterbewegung wird dieser Zusammenhang immer wieder hergestellt. Als Bertolt Brecht schrieb: »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch«, und: »Wir müssen sagen, dass gefoltert wird, weil die Eigentumsverhältnisse bleiben sollen«, wollte er uns bewusst machen, dass die ungerechte Verteilung des Eigentums und die Verachtung der menschlichen Würde einander bedingen.

Horkheimers Diktum

Schon am Vorabend des Zweiten Weltkrieges hatte Max Horkheimer seinen berühmten Satz formuliert: »Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom Faschismus schweigen.«

Folgerichtig setzte nach dem Krieg auch in Westdeutschland eine Debatte darüber ein, inwieweit die kapitalistische Wirtschaftsordnung den Nationalsozialismus wenn nicht zwangsläufig herbeigeführt, so doch seinen Aufstieg entscheidend begünstigt hat. Selbst die christlichen Sozialisten in der CDU schrieben 1947 im Ahlener Programm: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen (…) Durch eine gemeinschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.«

Während in der DDR der Kapitalismus als Nährboden und Ursache des Faschismus gesehen wurde, verebbte die Debatte über den Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus in Westdeutschland schnell, nicht zuletzt deshalb, weil der Kapitalismus unter dem Label freie soziale Marktwirtschaft zum »Wirtschaftswunder« führte und die Frage, wie es zur Nazidiktatur kommen konnte, in den Hintergrund drängte. Aber die Frage ist und bleibt aktuell.

Auf einer Gedenkveranstaltung in Dachau vor wenigen Tagen sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel, auch heute könne man die Augen nicht davor verschließen, dass Synagogen und jüdische Schulen nicht ohne massiven Polizeischutz auskommen und Rabbiner auf offener Straße angegriffen werden. Auf der selben Veranstaltung sprach der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster: »Wenn ich darauf blicke, wie heute einige Bürger gegen Flüchtlinge hetzen oder wie abwertend über Juden gesprochen wird, dann frage ich mich: Wie sehr ist das hohe Gut der Menschenwürde eigentlich noch in den Köpfen verankert?«

Die Antwort der Linken, und das ist ihre historische Aufgabe, muss immer folgende sein: Nur eine Wirtschaftsverfassung, die das hohe Gut der Menschenwürde zur Grundlage ihrer inneren Ordnung macht, kann dieses hohe Gut in den Köpfen der Menschen verankern. Es führt kein Weg daran vorbei. Die Alltagserfahrung prägt die Einstellung der Menschen, und eine Wirtschaftsordnung mit Leiharbeit, Werkverträgen, prekärer Beschäftigung, Hungerlöhnen und Hungerrenten verankert in den Köpfen der Menschen das Gefühl von Ohnmacht und Ausgeliefertsein, aber nicht das hohe Gut der Menschenwürde. Und die Nutznießer dieser Ordnung in Wirtschaft, Politik und veröffentlichter Meinung vergöttern das Gewinnstreben und sehen die Beachtung der Menschenwürde als nachrangig an.

Wenn der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Marx, ein falsches Freiheitsverständnis in der Moderne beklagt, dann legt er den Finger in die Wunde: »Eine Freiheit, die sich bindungslos entfaltet und die orientiert ist am ökonomischen Profit, läuft in die Leere und schlägt um in Unfreiheit und blinde Anpassung (…) Ein solches Verständnis von Freiheit kann nur in die Krise kommen und ist letztlich zerstörerisch.« Wie diese Krise aussieht, haben wir gelernt, als im Namen der Freiheit in Guantánamo und Abu Ghraib gefoltert wurde.

Deshalb muss Die Linke, im Gegensatz zu den systemkonformen Parteien CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne, die diese Wirtschaftsordnung nicht mehr hinterfragen, unbeirrbar für den Aufbau einer Wirtschaftsordnung eintreten, in der die Beschäftigten die Erfahrung eines selbstbestimmten Arbeitslebens machen können, in der sie nicht Objekte, sondern Subjekte sind. Nur so können sie der Unfreiheit und der blinden Anpassung entkommen. Das gilt für jede kapitalistische Wirtschaftsordnung, ob in den USA oder in Europa oder wo auch immer in der Welt, und selbstverständlich auch für den Oligarchenkapitalismus in der Ukraine oder in Russland. Kennzeichen dieser Wirtschaftsverfassungen, denen das millionenfache Unrecht der Enteignung zugrunde liegt, ist die Verachtung der Menschenwürde.

Diktatur der Finanzmärkte

Wir haben heute einen Ehrengast bei uns, Manolis Glezos, mit dem das griechische Volk den Widerstand gegen den nationalsozialistischen Terror verbindet. Lieber Manolis Glezos, deine Anwesenheit heute ist für uns eine große Ehre. Du bist für viele Linke ein Vorbild. Über elf Jahre saßt du im Gefängnis, und über vier Jahre warst du im Exil, weil du unbeugsam und aufrecht für unsere Ideale gekämpft hast.

Der griechische Geschichtsschreiber Thukydides überlieferte uns eine Definition der Demokratie, die von Perikles stammt. Perikles sah in einer Gesellschaftsordnung, in der sich die Interessen der Mehrheit durchsetzen, das entscheidende Merkmal der Demokratie. Heute, in einer Zeit, in der wir in der Diktatur der Finanzmärkte leben, kann nirgendwo in Europa von einer Gesellschaft die Rede sein, in der sich die Interessen der Mehrheit durchsetzen. Besonders aber in deiner Heimat, lieber Manolis Glezos, führen die Diktatur der Finanzmärkte, der Abbau von Demokratie und Sozialstaat unter dem Druck der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel für viele Menschen zu unhaltbaren Lebensverhältnissen. Die deutsche Linke steht an eurer Seite, wenn ihr das Troika-Diktat abschütteln und den Abbau von Demokratie und Sozialstaat stoppen wollt. Und wir sagen wie du: Nur wenn die Oligarchenherrschaft in Athen, wenn die Macht der wenigen reichen Familien, die die griechische Wirtschaft und den politisches Klientelismus dominieren, gebrochen wird, ist ein demokratischer Neubeginn möglich. Und Syriza muss diesen Schritt machen, auch wenn diese Familien die griechischen Medien kontrollieren und jeden nach allen Regeln der Kunst fertigmachen, der ihnen an die Pfründe geht, wie wir gestern in der Welt lesen konnten.

Wir haben auch Gäste aus Russland. Sie erinnern uns an die Verpflichtung, die wir gegenüber dem russischen Volk haben. Richard von Weizsäcker sagte in seiner bereits erwähnten Rede zum 8. Mai: »Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass gegen andere Menschen, gegen Russen oder Amerikaner, gegen Juden oder Türken, gegen Alternative oder Konservative, gegen Schwarz oder Weiß. Lernen Sie miteinander zu leben, nicht gegeneinander.«

Heute geht es um das Miteinander mit Russland und um die Lüge, die die offizielle zeithistorische Deutung verbreitet. Was passiert ist, hat der Grandseigneur der amerikanischen Außenpolitik, George Kennan, schon 1997 in der New York Times vorausgesagt: »Die Entscheidung der Regierung Clinton, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der Ära nach dem Kalten Krieg. Diese Entscheidung muss erwarten lassen, dass die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der Meinung Russlands entzündet werden, dass sie einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Demokratie in Russland haben, dass sie die Atmosphäre des Kalten Krieges in die Beziehungen zwischen Osten und Westen wiederherstellen und die russische Außenpolitik in Richtungen zwingen, die uns entschieden missfallen werden.«

Kennan hat Ursache und Wirkung der Ukraine-Krise klar benannt. Die Lüge, auf die man sich geeinigt hat, um Voltaire zu zitieren, macht nicht diesen verhängnisvollen Fehler der amerikanischen Politik, sondern Putin zum Verursacher dieser Krise. Aufgabe der Linken gerade an dem heutigen Tag ist es, auch in Erinnerung an die weit über 27 Millionen Kriegstoten der Völker der ehemaligen Sowjetunion, darunter fünf bis sieben Millionen Ukrainer, dafür zu werben, die Politik der Entspannung und der guten Nachbarschaft mit Russland und der Ukraine, für die Willy Brandt den Friedensnobelpreis erhielt, wieder aufzunehmen. Sicherheit in Europa, auch das ist die Lehre des Zweiten Weltkrieges, ist nicht gegen, sondern nur mit Russland zu erreichen. Auch am heutigen Tag haben wir den Beitrag der USA zum Sieg über den Nationalsozialismus nicht vergessen, aber wenn der aggressive US-Imperialismus nach dem Zusammenbruch der UdSSR jede Selbstbeschränkung aufgegeben hat und in fahrlässiger Weise seine Expansionspolitik weiterverfolgt, dann reklamieren auch wir Linke eine neue Verantwortung Deutschlands in der Welt. Allerdings begreifen wir diese Verantwortung anders, als es die herrschenden Parteien tun. Wir brauchen endlich eine eigenständige europäische Außenpolitik, die den Werten Europas, der Freiheit, der Demokratie, der sozialen Gerechtigkeit und der Menschenwürde verpflichtet ist und auf Interventionskriege und neokoloniale Abenteuer verzichtet. Unsere Verantwortung besteht darin, einer verhängnisvollen US-Politik in den Arm zu fallen und darauf zu bestehen, dass Russland seinen Platz im gemeinsamen Europäischen Haus hat. Wir wollen mit Russland in Frieden leben, weil wir gemäß dem Schwur der Überlebenden von Buchenwald eine Welt des Friedens und der Freiheit bauen wollen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 8. Mai 2015


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