Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die NATO rüstet auf

Massenprotest beim Chicago-Gipfel gegen Kriegseinsätze und Raketenabwehr

Von Max Böhnel, Chicago *

Die Proteste gegen den NATO-Gipfel gingen auch am Montag weiter. Zum Auftakt hatte Chicago die größten Anti-NATO-Demonstration der USA erlebt. Der Pakt beschloss den Start seiner Raketenabwehr in Europa und eine engere Kooperation bei Rüstungsprojekten. Im Zentrum des zweiten Gipfeltages stand der Afghanistan-Rückzug.

Tag 1 des Chicagoer NATO-Gipfels endete mit der offiziellen Erklärung, der umstrittene Raketenschild werde nun in seine erste Betriebsphase gehen. Bis 2020 soll das System aus Radaranlagen und Abfangraketen vollständig ausgebaut sein. Noch wenige Stunden zuvor hatte Russland erneut vor dem Schritt gewarnt, da er die nukleare Zweitschlagskapazität Moskaus neutralisiere. Davon unbenommen erklärte Bundesaußenminister Guido Westerwelle in Chicago, es handele sich »nicht um ein Projekt gegen Russland«. Man wolle vielmehr gemeinsam die »europäischen Sicherheit insgesamt voranbringen«. Aus dem hermetisch abgeriegelten Tagungsgelände wurden weitere Beschlüsse verlautbart: 13 NATO-Staaten, darunter auch Deutschland, werden ein massives Drohnen-Programm namens »Alliance Ground Surveillance« in Auftrag geben. Zudem sollen die Kosten für die teure Aufrüstung durch engere zwischenstaatliche und privatwirtschaftliche Zusammenarbeit »abgefedert« werden.

Bei der »größten Anti-NATO-Demonstration in der Geschichte der USA«, so Joe Lombardo, einer der Organisatoren, hatten zuvor bis zu 20 000 Menschen gegen den Gipfel protestiert. Zwei Dutzend Jugoslawien-, Irak- und Afghanistan-Veteranen rissen ihre Kriegsorden von den Uniformen und schleuderten sie Richtung Gipfelzentrum. Nach Ende der Kundgebung kam es zu Übergriffen der schwer bewaffneten Polizei auf einen Teil der Demonstranten, der sich nicht nach Hause schicken lassen wollte. Es gab zahlreiche Verletzungen, mindestens 45 Menschen wurden verhaftet. Spontane Proteste im Zentrum von Chicago zogen sich bis kurz vor Mitternacht hin. Getragen wurden sie von Anhängern der »Occupy«-Bewegung.

Zuvor hatte sich auch die linke Bundestagsabgeordnete Inge Höger an die Kundgebungsteilnehmer gewandt und erhielt großen Applaus für ihre Aussage: »Wir zahlen nicht für eure Krise! Und wir zahlen nicht für eure Kriege!« Reiner Braun, der für das Netzwerk »No to War - No to NATO« sprach, forderte »in der Tradition von Albert Einstein die Überwindung der Institution Krieg« und den »sofortigen und vollständigen Abzug der Truppen aus Afghanistan«. Auf dem »Gegengipfel für Frieden und soziale Gerechtigkeit« von USA-Friedensgruppen verwies das Vorstandmitglied der LINKEN Tobias Pflüger eindringlich auf die EU als NATO-Stützpfeiler und den Zusammenhang von Krieg und Demokratieabbau. Für den zweiten Gipfeltag hatte die »Occupy«-Bewegung zur Blockade des Chicagoer Hauptquartiers des Rüstungskonzerns Boeing aufgerufen - der Multi machte seine Tore am Montag dann lieber selber dicht.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 22. Mai 2012


»Es war die größte Anti-NATO-Demonstration in den USA«

Der Friedensaktivist Reiner Braun über die Proteste in Chicago und die Friedensbewegung in den Vereinigten Staaten **

Reiner Braun ist Geschäftsführer von IALANA – »Juristen und Juristinnen gegen atomare, biologische und chemische Waffen« – und seit über 30 Jahren in der deutschen Friedensbewegung aktiv. Mit ihm sprach in Chicago Max Böhnel.

nd: Ihr Eindruck von der Anti-NATO-Demonstration in Chicago?

Braun: Fast 20 000 Menschen, die sich trotz Medienhetze und Polizeieinschüchterung nicht davon abhalten ließen, ihren Willen nach einem Ende der weltweiten Aufrüstungspolitik zu bekunden - das ist sehr beeindruckend. Es war die größte Anti-NATO-Demonstration, die es in den USA je gab. Zum letzten Mal hatte sich die Mitglieder des Nordatlantik-Paktes 1999 in den Vereinigten Staaten getroffen. Zum Gegengipfel tauchten damals gerade einmal 20 Menschen auf. Das Thema NATO interessierte niemanden. Der Höhepunkt der Demonstration jetzt am Sonntag waren die US-Veteranen, die ihre Medaillen und Auszeichnungen wegwarfen und teilweise unter Tränen sagten, sie seien belogen und betrogen worden.

Welche Bedeutung haben solche Veteranenproteste, die es erstmals während des Vietnam-Krieges gab?

All jene, die aus leidvoller Erfahrung berichten, spielen eine wichtige Rolle für die argumentative und emotionale Untermauerung des Anti-Kriegsengagements. So etwas kann man in Europa kaum nachvollziehen, wo das Militär eine weitaus geringere Rolle in den gesellschaftlichen Debatten spielt. Armee und Militär sind in den USA traditionell fast etwas Heiliges, das fast alle als solches anerkennen und das man nicht beschädigen darf. Wenn dann Menschen aus dieser Institution bewusst aussteigen, stellt das einen schwierigen persönlichen Prozess dar. Zumal, wenn sie auch noch den Mut haben, den Ausstieg öffentlich zu erklären.

Vergleichbar ist dieser Ausstieg vielleicht mit dem »whistleblowing«, wenn Menschen mit Zivilcourage aus Gewissensgründen Missstände und unlautere Machenschaften der Mächtigen öffentlich machen. Veteranen, die sich gegen den Krieg wenden, haben in der US-amerikanischen Friedensbewegung eine große moralische Autorität. Darüber hinaus helfen sie auch, in der »Normalbevölkerung« Denkprozesse in Gang zu setzen.

Und ihre politische Bedeutung?

Wer als Veteran offen sagt, Krieg ist ein Verbrechen, deshalb werfe ich meine Auszeichnungen weg, trägt mit Sicherheit dazu bei, dass die Antikriegsstimmung in der Bevölkerung verstärkt wird. Zu hoffen wäre aus meiner Sicht allerdings, dass das nicht erst passiert, wenn ein Krieg verloren ist und es nur noch um einen möglichst verlustarmen Rückzug geht, sondern möglichst schon zum Beginn eines Krieges.

Wären solche Proteste auch in Deutschland denkbar?

Armee - das ist in Deutschland ein schmutziges Wort. »Da gehen die hin, die keine Arbeit haben und die saufen wollen«, ist die Stammtischmeinung. Die Akzeptanz und das Ansehen von Armeeangehörigen, übrigens auch der Offiziere, ist in Deutschland viel geringer als in den USA, wo die Armee aus historischer Sicht eine größere Rolle innerhalb der Gesellschaft gespielt hat. Von daher wären ähnliche Proteste in Deutschland wahrscheinlich weniger aussagekräftig,

Wie ist es eigentlich um die US-Friedensbewegung seit der Wahl Barack Obamas bestellt?

Ich habe selten eine Friedensbewegung erlebt, die so große Schwierigkeiten hat, überhaupt zu gemeinsamen Aktionen zu kommen, wie in den USA. Der Dachverband aller Friedens- und Antikriegsgruppen »United for Peace and Justice« hat sich 2009 kurz nach Obamas Amtsübernahme sogar aufgelöst. Seitdem hat sich ein neuer nationaler Dachverband namens »United National Peace Conference« (UNAC) herausgebildet, in dem allerdings nur die linken Kräfte der Friedensbewegung vertreten sind. Ein anderer Teil sah die Außenpolitik von Präsident Obama zumindest in seinen ersten Amtsjahren kritisch-solidarisch. Einigkeit herrscht zwar darin, dass das Pentagon-Budget gekürzt werden muss, aber sonst ist man weit davon entfernt, wie in den Zeiten unter Präsident Bush eine gemeinsame Sprache zu sprechen.

Das wurde auch bei der Mobilisierung für die Konferenz und die Demonstration in Chicago deutlich. Die Demonstration wurde nicht von allen nationalen Dachorganisationen getragen. Gruppen wie »Peace Action« riefen nicht national, sondern nur mit ihren Ortsverbänden zur Teilnahme auf. Für uns als Gäste war es nicht einfach. Aber mehr als zu bekunden, dass wir mit allen Anti-NATO-Gruppen gerne zusammenarbeiten und das dann auch durchzuhalten, können wir nicht.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 22. Mai 2012


Zurück zur NATO-Seite

Zur Friedensbewegungs-Seite

Zurück zur Homepage