Expansion und Eskalation: 60 Jahre NATO
Von Andreas Buro und Martin Singe *
Am 4. April 1949 wurde die North Atlantic Treaty Organization von zwölf
westlichen Staaten gegründet. Auf den jetzt stattfindenden offiziellen
Feiern zum 60. Geburtstag wird die NATO als Verteidigungsbündnis präsentiert
– eine, nicht nur angesichts von Kosovo- und Afghanistankrieg, höchst
zweifelhafte Selbstdarstellung. Denn die eigentliche Ursache für die Gründung
des Militärbündnisses war die militärische Durchsetzung und Absicherung
kapitalistischer Expansion. Was heute vergessen ist: Die NATO war
auch (und keineswegs zuletzt) eine Konsequenz aus der Weltwirtschaftskrise
von 1929.
Von Beginn an stellte diese Krise eine dramatische Bedrohung für die kapitalistische Weltwirtschaft und damit für die bürgerlich-parlamentarischen
Gesellschaften dar. Selbst in den Vereinigten Staaten befürchtete man, die
eigene Gesellschaftsordnung könne ohne Wirtschaftswachstum zusammenbrechen.
Auch die auf die Krise reagierende New Deal Policy der US-Regierung
konnte die Stagnation nicht überwinden; dies gelang erst durch die
riesige, staatlich finanzierte Aufrüstung während des Zweiten Weltkrieges.
Aus dem Weltkrieg gingen die USA als der eigentliche Sieger hervor. Nicht
nur die vernichtend geschlagenen Gegner Deutschland und Japan, sondern
auch die europäischen Verbündeten England, Frankreich und die Sowjetunion
waren entscheidend geschwächt. Das machte die Vereinigten Staaten
zur führenden Weltmacht nach 1945. Zentrale Richtlinie für die US-amerikanische
Außenpolitik nach 1945 war daher, alle Möglichkeiten für kapitalistische
Expansion offen zu halten bzw. zu öffnen, um eine solche verheerende
ökonomische Krise in Zukunft zu verhindern.
Kurzfristig ging es nach dem Krieg vor allem um die Integration der westlichen
Alliierten, aber auch der besiegten Industrieländer Italien und Westdeutschland,
in die kapitalistische Weltökonomie. Die zentralen Instrumente
hierfür waren der „Marshall-Plan“ und die Organisation für europäische Entwicklung und Zusammenarbeit (heute OECD).
Die NATO wurde in diesem Kontext als „militärischer Arm“ dieses Ziels
konzipiert. Ihre Gründung richtete sich gegen alle Versuche sozialistischer
Bestrebungen im amerikanischen Einflussbereich. Die NATO hatte dabei auch
die Aufgabe, die eigene militärische Eskalationsdominanz gegenüber der
Sowjetunion zu sichern, einschließlich der berüchtigten atomaren Abschreckungspolitik samt der Fähigkeit, ganz Europa im Konfliktfall zu vernichten.
Diese Aufgabe erforderte ein Programm der ständigen Aufrüstung. Hinter
dieser Konfrontations- und Bedrohungspolitik stand die Erwartung, Teile
des sowjetischen Herrschaftsbereichs in Krisensituationen herausbrechen zu
können. Da die UdSSR und auch die anderen realsozialistischen Staaten als
nicht-kapitalistische, staatlich organisierte Gesellschaften den freien Marktzugang ausschlossen, ist der West-Ost-Konflikt deshalb auch als Kampf um
die Öffnung ihrer Gebiete für ökonomische Expansion zu verstehen. In diesem
Kampf hatte die NATO auch die Funktion, die ökonomischen Ressourcen
der UdSSR durch Aufrüstungszwänge zu binden und die westliche Welt durch
das Feindbild „Kommunismus“ gegen das sogenannte realsozialistische System
zusammenzuschweißen.
Auch der Kampf um die politische Orientierung peripherer Länder in Stellvertreterkriegen (wie Korea, Vietnam, später Nicaragua u.a.) entsprach dem
großen „Wachstumsprogramm“. Mit der NATO wollte man verhindern, dass
die früheren Kolonien im Zuge der Entkolonialisierung massenhaft in Richtung
Sozialismus abdrifteten. Wo das zu befürchten stand, führte man Krieg
bis zum Äußersten. Wo dies nicht zu befürchten war, konnten mörderische
und korrupte Marionetten Präsidenten werden und auf westliche Unterstützung
rechnen. In diesem Sinne gehörte die Auflösung der westlichen Kolonialreiche
ebenfalls zum „Wachstumsprogramm“: Washington wollte nicht
länger hinnehmen, dass einzelne Staaten (insbesondere Großbritannien und
Frankreich) dem Weltmarkt große Bereiche in Form von Kolonien entzogen;
deshalb wollte die US-Regierung die großen Kolonialreiche auflösen. Insofern
mag man in der Tat darüber streiten, wer mehr zur Befreiung der Kolonien beigetragen hat: die Befreiungsbewegungen oder die USA.
Die NATO im Kalten Krieg: Strategie der „massiven Vergeltung“
Fast genau ein Vierteljahrhundert nach dem „Schwarzen Freitag“ an der Wall
Street, dem 25. Oktober 1929, wurde am 23. Oktober 1954 der Weltkriegsgegner
Deutschland mit seinem westlichen Teil Bundesrepublik in die NATO
aufgenommen. Damit standen Deutsche wieder ihrem Kriegsgegner im Osten
aus dem Zweiten Weltkrieg gegenüber.
Heute, nach erfolgter Osterweiterung, zählt die NATO 28 Mitgliedstaaten
(zuletzt sind mit Beginn dieses Jahres Albanien und Kroatien beigetreten).
Geschäftsgrundlage ist der NATO-Vertrag, demzufolge der Angriff auf einen
Mitgliedstaat als Angriff auf das Bündnis insgesamt gilt und den Bündnisfall
(Artikel 5) auslösen kann. In diesem Fall sind die Mitgliedstaaten aufgerufen,
nach eigener Entscheidung Art und Umfang des Beistandes zu bestimmen.
In der Zeit des Kalten Krieges waren NATO und Warschauer Vertragsorganisation
(WVO) gegeneinander ausgerichtet. Nachdem die NATO der WVO für den Fall eines Angriffs anfangs mit der Strategie der „massiven Vergeltung“ gedroht hatte, schwenkte sie 1967 auf die Triaden-Strategie der „flexible response“ (flexible Antwort) um, derzufolge aus dem Arsenal der konventionellen sowie der taktischen und strategischen Atomwaffen jeweils verschieden kombinierbare Einsatzoptionen gewählt werden konnten, bis hin zur (wechselseitigen) nuklearen Totalvernichtung. Der NATO-Doppelbeschluss von 1979 führte 1983 zur Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenwaffen in Europa (108 Pershing II und 464 Cruise Missiles), die erst im Zuge massiver Proteste der Friedensbewegung und der Wende in der Sowjetunion unter Gorbatschow mit dem INF-Vertrag von 1987 (inklusive der sowjetischen SS 20) wieder beseitigt wurden.
Die Einkreisung Russlands
Erst das Ende des Ost-West-Konflikts ab 1989/1991 führte zu grundlegenden
Veränderungen. Man sprach nun viel vom „Gemeinsamen Haus Europa“, das
Ost und West in enger Partnerschaft miteinander verbinden sollte.
Die NATO gab ihre ursprüngliche Strategie jedoch keineswegs auf, sondern
bereitete rasch ihre eigene Expansion nach Osten vor. 1994 gründete sie
das Programm „Partnerschaft für den Frieden“, das zum zentralen Instrument
der NATO-Osterweiterung wurde. Nach mehreren Erweiterungsrunden wird
derzeit über einen möglichen Beitritt Mazedoniens, der Ukraine und Georgiens
diskutiert. Insbesondere Washington argumentiert, dass eine Mitgliedschaft
die beitretenden Staaten stabilisieren und so auch mehr Sicherheit für
die Nachbarn entstehen würde. Der Georgienkrieg vom letzten Jahr beweist
indes das Gegenteil.
[1]
Indem die NATO unter der De-facto-Führung der USA zur dominierenden
Organisation auf der Nordhalbkugel wurde, verschlechterte sich die militärische
Position Russlands. Der völkerrechtswidrige Angriff der NATO auf
Jugoslawien und die Anerkennung des Kosovo beschnitten Moskaus traditionellen
Einfluss auf dem Balkan erheblich. Der Irakkrieg zielte nicht nur auf
die dortigen Ölreserven, sondern auch auf die dauerhafte Installierung strategischer Stützpunkte in diesem Land – also im Süden Russlands. Der Afghanistankrieg, den der neue US-Präsident Barack Obama mit Zehntausenden
zusätzlichen Soldaten verschärfen will, soll eine ähnliche Situation in Zentralasien schaffen. Hinzu kommt, dass die USA den ABM-Vertrag zur Begrenzung
von Raketenabwehrsystemen – ein zentrales Vertragswerk der Rüstungskontrollpolitik – am 13. Dezember 2001 gekündigt haben. Die geplante Einrichtung eines US-Raketenabwehrschildes in Tschechien und Polen bedroht die
nukleare Abschreckungsfähigkeit Russlands – und Moskau weiß, dass maßgebliche
Kräfte in den USA sich um eine atomare Erstschlagfähigkeit bemühen.
[2] Es ist also nicht verwunderlich, dass sich Russland mehr und mehr militärisch
eingekreist und bedroht sieht.
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts änderte sich die zuvor begrenzte
Rolle der NATO dramatisch: Sie wurde globalisiert.
Zum 50. Jahrestag der NATO 1999 verkündete man eine neue NATO-Doktrin.
Sie sollte die Organisation zu umfassender Durchsetzung US-amerikanischer
und EU-europäischer Interessen befähigen. Von amerikanischer Seite wurde
gefordert, dass die NATO-Strategie künftig auch mögliche Krisen in der
Golfregion oder in der Straße von Taiwan berücksichtigen müsse. Dies bedeutete
konkret: zurück zur „Kanonenbootpolitik“ – nur diesmal mit modernsten
Angriffswaffen. Damit wurde die bereits erwähnte Schranke aus Artikel 5 des
NATO-Vertrages („Einsatz nur zur Verteidigung des Bündnisgebietes“) aufgehoben.
Seitdem geht es offen um die weltweite „Verteidigung“ der eigenen
Interessen. Dabei soll die gewalttätige Interessendurchsetzung gegebenenfalls
ohne Rücksicht auf internationales Recht erfolgen. Die Handlungsfähigkeit
der NATO dürfe bei sogenannten vitalen Herausforderungen, so die
herrschende Diktion, nicht durch eine UN- oder OSZE-Mandatierung behindert
werden. Die Selbstmandatierung der NATO im Kosovokrieg war also keineswegs
ein „Sonderfall“, sondern ein gewaltiger Schritt in Richtung auf die
planmäßige Zerstörung internationalen Rechts. Operationen der NATO sollen
mithin „im Krisenfall“ – und wann wäre der nicht zu konstruieren? – auch ohne
völkerrechtliche Legitimation möglich sein. Dies heißt im Klartext: Es zählt das
Recht des Stärkeren statt die Stärkung des internationalen Rechts.
Obwohl wir inzwischen „von Freunden umzingelt“ sind (Helmut Kohl),
behielt und behält es sich die NATO vor, Atomwaffen als erste einzusetzen.
Die NATO-Strategie ist weiterhin durch eine aggressive, militärgestützte
Interventionspolitik gekennzeichnet, die von globalen ökonomischen Expansionsnotwendigkeiten angetrieben wird. Wie die gegenwärtige Krise lehrt,
bleibt der Zwang zum ständigen Wirtschaftswachstum erhalten, soll nicht die
kapitalistische Produktionsweise in Gänze zusammenbrechen. Das freilich
gilt nicht nur für die USA, sondern für alle in der NATO zusammengeschlossenen
Industriestaaten (und darüber hinaus). Die große Frage lautet: Werden die
daraus resultierenden Konflikte mit militärischer Gewalt ausgetragen, oder
ergeben sich andere Möglichkeiten der Konfliktbearbeitung, die zukunftsfähigere
Umstrukturierungen der Weltgesellschaft ermöglichen?
„Toward a Grand Strategy in an Uncertain World“
Die Position der NATO ist dagegen eindeutig. Mit dem im Mai 1991 auf dem
NATO-Gipfel in Rom beschlossenen Strategiepapier reagierte die NATO kurz
nach dem Niedergang des osteuropäischen Realsozialismus und unmittelbar
nach dem Golfkrieg vom Februar 1991 auf die veränderte Weltlage. Kurz
zuvor, am 11. September 1990, hatte US-Präsident George H. W. Bush eine
„neue Weltordnung“ ausgerufen. Das NATO-Strategiepapier bildet zusammen
mit dem Strategie-Dokument vom Washingtoner Gipfel 1999 (im April
während des NATO-Angriffskrieges gegen Jugoslawien) immer noch die
aktuelle Grundlage des Bündnisses.
Zentraler Inhalt der seit 1991 gültigen und seitdem mehrfach aktualisierten
NATO-Strategie ist demnach eine neue Analyse der „Bedrohungen“ und
„Risiken“. Hierzu zählen vor allem der internationale Terrorismus, die Weiterverbreitung von Atomwaffen (Nukleare Proliferation), vom Westen definierte
„failing states“, die Gefährdung wirtschaftlicher Interessen sowie der
Energie- und Rohstoffversorgung des Westens, weltweite Destabilisierungen
und „Migrationsbewegungen“. Auf all diese Bedrohungen kann das Bündnis
nunmehr militärisch reagieren. „Nicht-Artikel-5-Einsätze“ ist das zentrale
Schlüsselwort der neuen Strategiepapiere seit 1991. Dabei ist die Bindung an
einen Beschluss des UN-Sicherheitsrates zwar erwünscht, aber keine unabdingbare
Voraussetzung mehr für einen Militäreinsatz. Den Atomwaffen wird,
auch in Europa, eine dauerhafte zukünftige Funktion in der Gesamtstrategie
zugesprochen – in klarem Widerspruch zur Abrüstungsverpflichtung aus
dem Atomwaffensperrvertrag. Die hier angelegte Grundlinie wird durch das
neue, für den diesjährigen Gipfel erwartete Dokument fortgeschrieben und
verschärft werden. Das von fünf hochkarätigen NATO-Strategen (unter ihnen
General a.D. Klaus Naumann) im Januar 2008 vorgelegte, vorbereitende
Dokument „Toward a Grand Strategy in an Uncertain World“ fordert in diesem
Sinne eine Runderneuerung des Bündnisses, um künftige Kriegs- und
Besatzungseinsätze effektiver durchführen zu können. Dafür sollen auch Strategien zur Aufstandsbekämpfung klarer konzipiert werden. Zum Ausbau der
Besatzungsfähigkeiten gehören intensivierte Formen der sogenannten zivilmilitärischen Zusammenarbeit. Atomare Präventivschläge werden weiterhin
ausdrücklich als Option benannt.
Insgesamt hat sich die NATO zu einem Bündnis zur weltweiten offensiven
militärischen Absicherung „vitaler“ westlicher Interessen bzw. der neoliberalen
Globalisierung entwickelt. Hierbei handelt es sich allerdings keineswegs
um eine „Fehlentwicklung“, sondern um die konsequente Fortschreibung der
Gründungsratio. In diesem Sinne werden die militärischen Fähigkeiten angepasst
in Richtung modernerer, präziserer und adäquaterer Waffensysteme,
Verbesserung von Satellitenaufklärungs- und elektronischer Kriegführungsfähigkeiten, Aufbau umfangreicher Transportkapazitäten und schneller Verlegefähigkeit von Truppen und Waffen, Verstärkung der Einsatzwirksamkeit und Ausbau der Durchhaltefähigkeit der Truppen in entfernten Einsatzorten – alles im Rahmen gigantischer Auf- und Umrüstungsprozesse.
Die gewaltige Dominanz der USA
Der Rüstungsgigant USA stellt mit jährlich rund 600 Mrd. US-Dollar die Hälfte
der weltweiten Rüstungsausgaben (gefolgt von Westeuropa mit rund 250
Mrd.). Schon aus diesem Grunde spielen die Vereinigten Staaten, ungeachtet
der dramatischen Wirtschaftskrise, nach wie vor die dominierende Rolle. Die
NATO ist ohne die Vereinigten Staaten nicht denkbar. Sie können zwar nicht
alles durchsetzen, wie sich jüngst in der Ablehnung des NATO-Beitritts der
Ukraine und Georgiens durch die Europäer zeigte. Aber ohne die USA geht
auch nichts. Ihr militärtechnischer Vorsprung ist uneinholbar, ihre Dominanz
gegenüber den anderen NATO-Mitgliedern gewaltig. Seit die USA nach 1990
zur einzigen Weltmacht geworden sind, hat Washington systematisch und
ohne Rücksicht auf internationales Recht die eigene militärische Stärke für die
Gestaltung der Außenpolitik eingesetzt: in Jugoslawien/Kosovo, in Afghanistan,
im Irak und zuletzt mit den Drohungen gegen den Iran und der Duldung
der Besetzung des Westjordanlandes durch Israel gegen alle UN-Beschlüsse.
Mit dem „Krieg gegen den Terror“ unter Präsident George W. Bush haben
die USA sich selbst einen Freibrief gegeben, überall in der Welt zu intervenieren.
Dabei ist man einerseits bemüht, die NATO-Länder einzubeziehen; andererseits
haben die USA die NATO aber auch benutzt, um eine eigenständige
und konkurrierende Militärentwicklung der EU zu behindern und damit ihre
dominante Position abzusichern. Die Perspektive Washingtons bleibt auch
nach Bush darauf ausgerichtet, die NATO als militärisch-politisches Instrument
im Kampf um die Gestaltung der Globalisierung auszubauen.
Die Vereinigten Staaten versuchen, das NATO-Bündnis für diese neu definierten
Zwecke zu instrumentalisieren – sofern die Mitgliedstaaten nicht ohnehin
im eigenen Interesse mitmachen. Kommt kein NATO-Konsens zustande,
reagieren die USA inzwischen relativ selbstverständlich mit der Bildung von
aktuellen Militär-Koalitionen von „willigen“ Staaten – unabhängig von deren
NATO-Mitgliedschaft – nach dem Rumsfeld-Motto „Die Mission bestimmt die
Koalition, und nicht umgekehrt“, so geschehen im Angriffskrieg gegen den
Irak 2003, der im Weltsicherheitsrat nicht konsensfähig war und für den die
USA die NATO als Ganze nicht nutzen konnten. Für Washington ist in erster
Linie die eigene neue nationale Sicherheitsstrategie (NSS) von September
2002 (aktualisiert 2006) maßgeblich, in der vor allem präventiven bzw.
präemptiven Kriegen das Wort geredet wird, die gegebenenfalls unabhängig
von einem UN-Mandat zur eigenen Interessenverteidigung zu führen seien.
Ausdrücklich betont das Papier die Nichtanerkennung des Internationalen
Gerichtshofs. In diesem Sinne setzten die USA 2002 die Aufstellung der – auch
als Fremdenlegion des Pentagon bezeichneten – NRF/NATO Response Force
als Gegengewicht zur europäischen schnellen Eingreiftruppe durch.
Zur besonderen Rolle der EU
Die EU spielt im Bündnis eine besondere Rolle, seit sie im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) verstärkt eine eigene
Militärstruktur aufbaut, auch um unabhängig von den USA militärisch handlungsfähig zu werden. Dies spiegelt sich unter anderem in der Europäischen
Sicherheitsstrategie (ESS) von Dezember 2003 wider, die sowohl Elemente
aus den neuen NATO-Strategien als auch aus der US-Strategie (NSS) aufgreift
und europäisch einpasst. Unterschiedliche Interessenlagen und Konkurrenzen
werden allerdings zwischen NATO, USA und EU auszutarieren versucht.
Teilweise parallel entstehende Strukturen wie die Aufstellung der NRF/
NATO-Response Force (25 000 Soldaten schnell verlegbarer Eingreiftruppen
mit sogenannter Entry-Funktion, 2002 in Prag beschlossen und einsatzbereit
seit 2006) und der RRF/EU-Rapid-Response-Force (60 000 Soldaten umfassende schnelle Eingreiftruppen, 1999 in Helsinki beschlossen) geraten teils in
Widerspruch, werden dann aber wieder aufeinander bezogen, indem gemäß
NATO-EU-Abkommen von 2003 die NATO auf EU-Potentiale und umgekehrt
die EU auf NATO-Potentiale zurückgreifen darf. Es existierten also zwar
trennbare, aber faktisch nicht getrennte Entscheidungsstrukturen.
In der eigenständigen EU-Aufrüstung, die derzeit unabhängig von der
Inkraftsetzung des EU-Vertrages bereits umgesetzt wird (Aufrüstungsverpflichtung, Aufstellung von Battle-Groups – 13 mal 1500 Soldaten für Schlachttruppen, europäische Rüstungsagentur, (kern)europäische schnelle
Entscheidungsstrukturen) besteht ein nicht zu unterschätzendes zusätzliches
militaristisches Gefährdungspotential für die Zukunft. Dass Frankreich sich
beim Gipfel 2009 wieder in die Militärstruktur der NATO einbinden will, zeigt
zugleich sein massives Interesse an einer tonangebenden Rolle bei der Militarisierung der EU.
Militarisierung vorangetrieben: Die Bundesrepublik in der NATO
Die Bundesrepublik hat den Umwandlungsprozess der NATO und den Militarisierungsschub der EU aus eigenem Interesse mit vorangetrieben. Das Bundesverfassungsgericht schleifte in mehreren Entscheidungen (insbesondere
mit dem Grundsatzurteil zu Out-of-area-Einsätzen von 1994 – AWACS-Aufklärungsflüge in Bosnien, Somalia – und schließlich der Afghanistan-Tornado-
Entscheidung von 2007) von der Verfassung gegebene Hürden. Die NATO
wurde zu einem kollektiven Sicherheitssystem uminterpretiert und so mit Art.
24 Grundgesetz kompatibel gemacht. (Art. 24 GG erlaubt die Einordnung in
ein „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“; solche Systeme wollen die
Sicherheit ihrer Mitglieder untereinander fördern und sind nicht militärisch
gegen äußere Gegner gerichtet. Deshalb ist die NATO von der Anlage her
kein solches System.) In den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992,
die seit 2003 in erneuerter Form vorliegen, werden die NATO-Strategiepapiere
national adaptiert. Auf dieser Grundlage hat die Bundesrepublik den NATO- Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999 aktiv mitgetragen und den Krieg
gegen den Irak 2003 logistisch in vielfacher Hinsicht (von Überflugrechtsgewährung bis BND-Zieldatenübermittlungen) trotz propagandistisch verkaufter Nichtbeteiligung unterstützt.
Seit 2001 ist die Bundesrepublik über die NATO-geführte ISAF (International
Security Assistance Force) und die US-geführte OEF (Operation Enduring
Freedom) am Krieg in Afghanistan und beim Militäreinsatz am Horn von Afrika
beteiligt, auch mit dem geheim operierenden Kommando Spezialkräfte (KSK).
Die Bundesregierung hält – entgegen dem Atomwaffensperrvertrag – an der
„nuklearen Teilhabe“ in der NATO fest, indem sie Trägerflugzeuge für die
in Büchel/Eifel gelagerten US-Atombomben bereithält. Zudem hat die massive
Militarisierung nach außen auch eine innenpolitische Kehrseite, wie Bundeswehreinsätze im Innern, Grundrechte- und Demokratieabbau nach 9/11
zeigen.
Der Wechsel der Zeiten ist unübersehbar: Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise, die Verschiebung der ökonomischen Schwergewichte gen Asien,
die Umweltkatastrophe, der Kampf um die Rohstoff- und Energieressourcen,
asymmetrische Kriege, die auch mit modernster Kriegstechnologie nicht
gewonnen werden können, das Ende der unipolaren Weltkonstellation mit
den USA als Mittelpunkt, die Entwicklung einer multipolaren globalen Kräftekonstellation.
Auf all dies versuchte die NATO bisher, in erster Linie getrieben
durch die Vereinigten Staaten, durch militärische Aufrüstung zu reagieren.
Im November 2008 legte indes der National Intelligence Council unter Mitarbeit
von 16 US-Geheimdiensten eine Studie über die zukünftige weltpolitische
Entwicklung bis 2025 vor. Darin wird den USA ein relativer Machtverlust
vorausgesagt. Sie spielten zwar weiterhin eine prominente, aber nicht
mehr eine dominante Rolle. Ihre Handlungsfreiheit werde zunehmend eingeschränkt.
Internationale Allianzen, die die Welt seit dem Zweiten Weltkrieg
dominiert haben, wären 2025 kaum wiederzuerkennen. Die unipolare Welt
werde von einer multipolaren abgelöst.
[3]
Die große Frage der kommenden Jahre lautet daher: Werden die USA, mit
ihrem neuen Präsidenten Barack Obama, ihren relativen Abstieg akzeptieren
und sich konstruktiv darauf einstellen, oder werden sie die Gewaltanwendung
weiter eskalieren? Hierfür gibt es durchaus unterschiedliche, nebeneinander
existierende Ansätze. Die im Folgenden dargestellten Szenarien sollen daher
Grundzüge möglicher Entwicklungen skizzieren, aber nicht die Zukunft voraussagen.
Anzunehmen ist, dass sich Elemente aus allen Varianten in der realen
Politikentwicklung wiederfinden werden.
Erstes Szenario: Globale Eskalation – eine nicht ganz unwahrscheinliche Entwicklung
USA und NATO eskalieren den weltweiten „Krieg gegen den Terror“. (Erstes
Indiz dafür: Präsident Obama hat bereits angekündigt, die US-Truppen
in Afghanistan erheblich aufzustocken.) Die UNO und internationales Recht
werden weiter zurückgedrängt. Die weltweiten US-Militärstützpunkte werden
weitgehend erhalten. Die Ausdehnung der NATO in den GUS-Staaten,
insbesondere in der Ukraine und Georgien bleiben auf der Tagesordnung.
Russland, das keine in sich kohärente, dynamische Industrie ausgebildet
hat, sondern sich vorwiegend über den Export von Energie und Rohstoffen
finanziert, wird in seiner strukturellen Schwäche von USA und NATO weiter
bedrängt. Es setzt verstärkt auf den Ausbau seiner militärischen Kapazitäten.
Die Doktrin des einflussreichen US-Strategen Zbigniew Brzezinski, die USA
müssten Zentralasien beherrschen als Schlüssel für die Beherrschung der
Welt und Russland sei der wichtigste Gegner, bleibt weiterhin Richtlinie.
[4] Die
Option des atomaren Ersteinsatzes wird in der NATO-Doktrin aufrechterhalten,
die Waffenentwicklung für diesen Zweck weiter vorangetrieben.
All dies bedeutet de facto die Marginalisierung der UNO. Aufrüstung und
Steigerung der Militärausgaben sind vorrangig gegenüber entwicklungspolitischen
Kooperationen zur Lösung vielfältiger konfliktträchtiger Probleme.
Diese vor allem militärgestützte Politik benötigt zu ihrer Legitimation Ideologien vom Typ der gerechten, humanitären Intervention und sie verbreitet massive Feindbilder, wobei die realen und die potentiellen Gegner auf der „Achse
des Bösen“ angesiedelt werden. Das hat auch erhebliche innenpolitische Auswirkungen, nämlich die Entdemokratisierung der Gesellschaften der NATOStaaten
unter dem Vorwand, mehr Sicherheit gegen Terroranschläge zu
schaffen. Dies dient jedoch auch der Ausbildung innenpolitischer Repressionsinstrumente für den Fall, dass die krisenhaften Entwicklungen im Finanz- und Wirtschaftsbereich zu größeren gesellschaftlichen Spannungen führen sollten.
Zweites Szenario: Der gespaltene Westen – Konkurrenz vor Kooperation
Zwischen den USA und der EU besteht nicht nur ein kooperatives Verhältnis
in Hinblick auf die Sicherung der Vormachtstellung der entwickelten Industriestaaten im Globalisierungsprozess. Beide stehen auch in erheblicher währungspolitischer, wirtschaftlicher und politischer Konkurrenz zueinander. So
will die EU bis 2010 die Weltwirtschaftsmacht Number One werden. Diese
Konkurrenz ist nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet, dass die Vereinigten
Staaten ihre Außenpolitik über ihre weit überlegenen Militärpotentiale und
weltweiten strategischen Stützpunkte abstützen und so die eigenen Interessen
gegenüber den Interessen der EU-Staaten auch mit Hilfe der NATO durchzusetzen
versuchen. Für die USA sind die europäischen NATO-Staaten nur ein
Instrument im Rahmen einer ansonsten autonom gestalteten Weltpolitik.
Ein deutliches Anzeichen für Dissens sind das unterschiedliche Verhalten
gegenüber Russland und die mangelnde Bereitschaft der EU-Staaten, sich
geschlossen an den großen US-Kriegsaktionen im Irak und in Afghanistan
zu beteiligen. Auch der Versuch der USA, die EU-Staaten in „Willige“ und
„Nicht-Willige“ zu spalten oder die Installierung der Raketenabwehrsysteme
in Polen und Tschechien, deuten in diese Richtung.
Die EU setzt deshalb auf den Ausbau ihrer militärischen Potentiale. Alle
erforderlichen Strukturen sind im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik bereits geschaffen worden. Im Lissabon-Vertrag werden
die Mitgliedstaaten verpflichtet, ihre Rüstung ständig voranzutreiben. Das Ziel
ist nicht, die USA militärisch zu überholen, sondern die Fähigkeit zu schaffen,
eigene militärische Interventionen weitgehend unabhängig von den USA zu
ermöglichen. Eine schnelle Eingreiftruppe soll bis zu 60 000 Soldaten stellen
können. Zur ökonomischen Weltmacht soll also die militärische Komponente
hinzugefügt werden. Angesichts der europäischen Geschichte spricht nichts
dafür, dass eine EU-Militärmacht zurückhaltender, verantwortungsbewusster
und völkerrechtskonformer handeln würde als die USA. Mit dem Ausbau der
europäischen Rüstungsindustrie setzt eine Eigendynamik zu immer weiterer
qualitativer Aufrüstung ein. Die NATO verliert damit ihre Bedeutung als das
zentrale militärische Interventionsinstrument der westlichen kapitalistischen
Staaten. Sie bleibt aber als Basis für gemeinsame militärische Abstimmung
und, wo erforderlich, für gemeinsame militärische Operationen erhalten.
Drittes Szenario: Erste Ansätze ziviler Konfliktbearbeitung
Die von den US-Geheimdiensten vorhergesagte Verschiebung von einer unipolaren
Weltkonstellation zu einer multipolaren und die damit einhergehende
ökonomische Gewichtsverlagerung nach Asien macht es kaum noch möglich,
Ziele mit militärischen Großinvasionen wie in Irak und Afghanistan durchzusetzen.
Die USA können allein nicht mehr die Mittel für solche Großkriege
aufbringen. Auch erweist sich der „Krieg gegen den Terror“ mit militärischen
Mitteln als wenig erfolgversprechend. Dies gilt auch für innergesellschaftliche
Konflikte in vielen Ländern, in denen es gilt, über einen sozialen Ausgleich
Konflikte zu entschärfen.
Die zu erwartenden Konflikte um Ressourcen und Märkte müssen deshalb
bei fortschreitender Globalisierung, so sie einer wirklichen Lösung zugeführt
werden sollen, zunehmend mit diplomatischen, entwicklungspolitischen,
ökonomischen und rechtlichen Mitteln bearbeitet werden. Regionale Zusammenschlüsse wie in Europa, Südostasien und Amerika gewinnen in der diplomatischen Regulierung von regionalen Konflikten an Einfluss. Weitere regionale Zusammenschlüsse nach dem Vorbild der früheren KSZE bilden sich in
Südasien und Nahost. Internationale Institutionen und internationales Recht
gewinnen an Bedeutung, weil auch weltweite Bemühungen zur Verhinderung
einer Klimakatastrophe koordiniert werden müssen. Diese Entwicklung können
auch die EU-Staaten nutzen, um sich der US-Dominanz zu entziehen. Sie
ließen sich weniger in „Gut-Böse-Konflikte“, die zur Gewalteskalation neigen,
einbeziehen, sondern würden verstärkt auf Dialog und Kooperation setzen. In
diesem Zusammenhang ist das Verhältnis zu Russland und die Schaffung eines
Systems kollektiver Sicherheit, das Russland einschließt, von zentraler Bedeutung.
Es könnte durch eine verstärkte ökonomische Kooperation zu beiderseitigem
Nutzen sehr gefördert werden und, entsprechend dem KSZE-Prozess
der 70er und 80er Jahre, erneut „Wandel durch Annäherung“ bewirken.
Eine weitere Umorientierung könnte sich auf das Verhältnis zu den islamischen
Staaten beziehen und helfen, die gegenseitigen Feindbilder abzubauen.
Ansätze hierfür zeigten sich bereits bei Präsident Obamas ersten Aufritten.
[5]
Durch die (vermutlich nur langsam vonstatten gehende) Umorientierung
verliert die NATO allmählich ihre Bedeutung für die EU-Staaten. Das heißt
nicht, dass sie aus der NATO austreten würden, doch es würde das Gewicht
der NATO als Mittel der Außenpolitik mehr und mehr vermindern. Angesichts
der hohen Kosten und Risiken militärischer Machtpolitik und unter ökologischen
und ökonomischen Zwängen könnten sich die EU und die EU-Staaten
zunehmend auf eine Politik der zivilen Konfliktbearbeitung, die Stärkung der UNO sowie des internationalen Rechts orientieren. Da die USA angesichts der Relativierung ihrer Dominanz auf Bündnispartner angewiesen sind, könnte so auch ihre Umorientierung zu einer auf globale Verständigung gerichteten Politik gefördert werden. So eindeutig aus friedenspolitischer Sicht dem letzten Szenario der Vorzug zu geben ist: Vieles spricht dafür, dass die NATO als Instrument der kapitalistischen Expansion weiter zur Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschheit beitragen wird. Dabei steht heute bereits
fest, dass diese überlebensnotwendigen Grundlagen sich in dieser Zeit der
Umweltkatastrophen, der Verarmung großer Teile der Menschheit, des verstärkten
Kampfes um Zugang zu Rohstoffen, nur durch Kooperation und Dialog erhalten lassen, nicht aber durch kriegerische Mittel.
Bei aller berechtigten Kritik an der NATO darf jedoch nicht verkannt werden,
dass diese Organisation nur eines der Gewaltinstrumente neben anderen
in vielen Teilen der Welt darstellt. Man stelle sich vor, die NATO würde nach
60 Jahren tatsächlich aufgelöst, dann bestünden nach wie vor die riesigen
Militärpotentiale der USA mit Stützpunkten in aller Welt, dann würden die EU
und ihre Staaten ihre militärischen Anstrengungen, wie im Vertrag von Lissabon
vorgesehen, weiter vorantreiben. Auch Staaten wie Russland, China,
Japan, Indien, Pakistan und, und, und ... würden deswegen noch lange nicht
abrüsten. Und dennoch: Die Auflösung der NATO bleibt ein wichtiger Schritt,
um den Vorrang für zivile Konfliktbearbeitung und Strukturen kollektiver
Friedenssicherung endlich durchzusetzen.
Fußnoten-
Vgl. Andreas Buro, OSZE statt NATO: Alternativen zur Gewalteskalation, in: „Blätter“, 10/2008, S. 77-81.
-
Vgl. auch Dieter Senghaas, Abschreckung nach der Abschreckung, in: „Blätter“, 7/2007, S. 825-835, hier S. 829 f.
-
Dokumentiert in: „Blätter“, 1/2009, S. 113-120.
-
Vgl. Hauke Ritz, Die Welt als Schachbrett, in: „Blätter“, 7/2008, S. 53-69.
-
Vgl. hierzu Norman Birnbaum, Neuer Präsident, neue US-Außenpolitik? In: „Blätter“, 3/2009, S. 33-43.
* Dieser Beitrag erschien in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 4/2009, S. 53-63
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