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"Wir brauchen einen Aufschrei der Politik"

Tunesische Fischer wollten Schiffbrüchige retten: Zweieinhalb Jahre Haft. Ein Gespräch mit Elias Bierdel *

Elias Bierdel ist ehemaliger Vorsitzender der Hilfsorganisation Cap Anamur und Gründungsmitglied von borderline europe. Gemeinsam mit zwei Mitarbeitern hat er im Juni 2004 vor der italienischen Küste 37 Flüchtlingen das Leben gerettet - und mußte sich deswegen vor Gericht verantworten. Erst gut fünf Jahre später kam der Freispruch. [Siehe: Freispruch - Grund zum Feiern?.]



Dasselbe Gericht in Agrigento/Sizilien, das Sie, den Kapitän der »Cap Anamur«, Stefan Schmidt, und den ersten Offizier Wladimir Daschkewitsch Anfang Oktober vom Vorwurf der Fluchthilfe für illegale Einwanderer freigesprochen hat, hat am Dienstag zwei von sieben tunesischen Fischern verurteilt: zu jeweils zweieinhalb Jahren Gefängnis, weil sie ebenso wie Sie Migranten in Seenot halfen. Wie kam es zu dem Urteil?

Das ist gängige Praxis in Italien: Man zerrt Menschen, die aus Sicht der Politik »die Falschen« retten, vor Gericht und verwickelt sie in Prozesse. Das hat man mit uns so gemacht, jetzt auch mit den Fischern. Man sucht eine Möglichkeit, ihnen etwas anzuhängen. Nachdem es mit dem Vorwurf der Beihilfe zur illegalen Einwanderung nicht klappte, hat man einen anderen Weg gewählt. In diesem Fall besonders empörend: Verurteilt hat man sie wegen eines angeblichen Angriffs auf ein Kriegsschiff.

Dabei war es am 8. August 2007 so: Nach der Rettung der 44 Menschen versuchte eine Korvette der italienischen Marine, dem Fischerboot mit den Geretteten an Bord den Weg abzuschneiden. Die haben sich aber nicht abdrängen lassen, sondern Kurs gehalten, um die Flüchtlinge an Land zu bringen.

Gehörte die Korvette zur sogenannten EU-Grenzagentur Frontex?

Bei dieser Aktion war Frontex nach meiner Kenntnis nicht beteiligt. Dieser Fall war in den Händen nationaler italienischer Behörden. Es passierte so: Die Fischer sehen ein Boot sinken. Und weil sie ahnen, daß es Ärger geben könnte, rufen sie die Küstenwache an. Man sagt ihnen: Nichts anfassen, wir kümmern uns drum. Mindestens 15 Minuten später hätte Hilfe da sein müssen, aber kein Küstenwachkreuzer tauchte auf. Die Fischer übernehmen die Rettung dann selber, weil sie ja nicht zusehen können und wollen, wie Menschen vor ihren Augen ertrinken. Resultat: Anklage wegen Schlepperei. Aber was soll denn das für ein Schlepper sein, der zuvor die Behörden anruft? Da kann man sehen, wie hoffnungslos die Lage ist: Will man jemanden kriminalisieren, findet sich ein Anlaß. Am Ende steht das Urteil wegen angeblichen Angriffs auf ein Kriegsschiff. Die tatsächlichen Verhältnisse: Grausamerweise wurde ein Kriegsschiff losgeschickt, um ein Boot mit geretteten Flüchtlingen zu hindern, europäische Küsten zu erreichen. Wir bräuchten einen Aufschrei in der Politik: Es ist Zeit zum Aufwachen. Aber nichts passiert.

Die Verteidigung wird in Berufung gehen ...

Natürlich muß man sich wehren, wenn die Rettung von Menschen aus Lebensgefahr - die übrigens auch im Verfahren unbestritten ist - auf diese Weise kriminalisiert werden soll. Für die betroffenen Fischer heißt das jedoch, daß das grausame Spiel mit ihnen in der nächsten Instanz vor Gericht in Palermo weitergeht. Sie sind sozial ruiniert, ihre Familien stehen ohne Einkommen da, ihre beschlagnahmten Boote rotten irgendwo im Hafen von Lampedusa vor sich hin. Die beabsichtigte Wirkung der Abschreckung ist erreicht. Unter den Fischern hat sich herumgesprochen: »Du kriegst einen Riesenärger, wenn du die Menschen rettest - also laß es lieber bleiben«.

Die Politiker der EU stellen sich ihrer Verantwortung nicht, sie legen die Migration in die Hand von Militärs - was ein entsetzlicher Irrweg ist, den Menschen mit dem Tod bezahlen müssen. Die Bundesregierung ist an der Aufrüstung der europäischen Grenzwächterarmee beteiligt. In deutschen Mainstream-Medien kommt dieses Thema aber kaum vor, man berichtet lieber über das Schicksal von Verona Poth.

Müßte man die Fischer nicht mit Orden für Zivilcourage auszeichnen, statt sie wie Verbrecher vor Gericht zu stellen?

Wer es schafft, Insassen eines sinkenden Boots zu retten - darunter Frauen und Kinder, teils in Todesangst und der Bewußtlosigkeit nahe, hätte zum allermindesten Würdigung verdient. Es ist das Gegenteil von dem, was wir an hehren europäischen Werten beschwören, wenn diese solidarische Haltung bestraft wird.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, 19. November 2009


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