Freispruch - Grund zum Feiern?
Elias Bierdel, Lebensretter von der "Cap Anamur", zur Festung Europa / Der Journalist, geboren 1960, hat 37 Schiffbrüchige in den italienischen Hafen von Porto Empedocle gebracht
ND: Vier Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von 400 000 Euro wollte der
Staatsanwalt Ihnen und Ihrem Kapitän Stefan Schmidt »drüberziehen«, weil
sie mit der »Cap Anamur« im Mittelmeer Menschenleben gerettet haben. Der
Richter entschied anders: Freispruch! Was empfinden Sie?
Bierdel: Fünf Jahre hat man uns durch ein Schandverfahren gezogen. Mit
Lügen und Verleumdungen. Wenn man nun von uns ablässt, dann ist das kein
Grund zum Jubeln. Zudem - und das ist noch wichtiger: Das Sterben geht
weiter. Europa beschreitet weiter diesen verhängnisvollen Irrweg und
schickt Flüchtlingen Kriegsschiffe entgegen. Heute Nacht sind hier vor
der Küste sieben Menschen ertrunken.
Mit dem Verfahren gegen Sie und Ihre Crew wollte man deutlich machen,
dass Humanität strafbar sein kann ...
Und unser Urteil ist auch noch nicht rechtskräftig. Die Kammer muss es
jetzt innerhalb von 90 Tagen begründen. Danach hat die
Staatsanwaltschaft 45 Tage Zeit, sich zu überlegen, ob sie in Revision geht.
Die Politik ist also noch lange nicht fertig mit Ihnen?
Natürlich freuen sich jetzt so viele Unterstützer, die uns zur Seite
standen, die - auch das sage ich so klar - uns bisweilen getröstet
haben. Doch ich kann nicht anders, als immer wieder zu sagen: Wir haben
allen Grund, uns auseinanderzusetzen mit dem, was hier draußen
geschieht. Hier zeigt sich ein Europa, von wir uns hätten nicht träumen
lassen, dass es so existieren kann.
Sie sind vom »Neuen Deutschland«, also wissen Sie, was ich meine. Ich
bin unmittelbar an der Mauer aufgewachsen. Im Westen von Westberlin, in
Staaken. Die Mauer war 50 Meter vor meinem Elternhaus. Und ich kann
nicht anders, als zu sagen: Die Schandmauer ist nicht weg. Sie steht nur
woanders. Wie kann es denn sein, dass unsere Gesellschaften es heute für
normal halten wollen, dass da draußen im Mittelmeer Tausende
verschwinden? Umkommen, einfach so. Damit werde ich mich niemals abfinden!
Menschenrechte sind nicht teilbar, hieß es im sogenannten freien Europa
als die Mauer noch stand.
Richtig. Und deshalb sollten sich viele Politiker, Journalisten,
Juristen und Beamte fragen, wie es um ihre Verantwortung bestellt ist.
Wir mussten uns verleumden lassen und wenn ich nachlese, was vor fünf
Jahren verbreitet worden ist, dann ist das auch für viele Medien eine
Schande.
Also wenig Grund, sich zu freuen, nicht einmal am heutigen Tag. Ist es
aber dennoch ein kleiner Sieg gegen den politischen Trend von
Unmenschlichkeit?
Wir sprachen gerade über Schande. Ich würde den Staatsanwalt gerne
fragen, ob er sich jetzt wenigstens schämt.
Eine Frage, die man auch an Minister und Regierungen weitergeben sollte?
Ja. Der damalige deutsche Innenminister Otto Schily hat uns in jeder
Weise öffentlich verunglimpft. Er hat - während wir hier auf Sizilien im Gefängnis saßen - Interviews gegeben, in denen er sagte, er sei dagegen, dass wir aus dem Gefängnis kommen. Am 17. Juli 2004 haben er und sein italienischer Amtskollege bei einer Innenministerkonferenz in Sheffield gesagt, es gehen im Fall der »Cap Anamur« darum, einen gefährlichen Präzedenzfall zu verhindern.
Das ist letztlich nicht gelungen.
Ich will es hoffen. Doch noch einmal: Hier vor der Küste Italiens
sterben täglich Menschen.
Gespräch: René Heilig
* Aus: Neues Deutschland, 8. Oktober 2009
Kein Grund zum Feiern
Von Aert van Riel **
Der Freispruch für den ehemaligen Chef der Hilfsorganisation Cap Anamur
Elias Bierdel, Kapitän Stefan Schmidt und den Ersten Offizier Wladimir
Daschkewitsch ist juristisch folgerichtig. Sie sind nachweislich keine
Menschenschlepper, sondern haben schiffbrüchige afrikanische Flüchtlinge
gerettet. Auch der Vorwurf, sich durch den Verkauf von Fernsehbildern
der Rettungsaktion finanziell bereichern zu wollen, war bizarr. Das
große Interesse der Medien an dem Drama war dem Verhalten italienischer
Behörden geschuldet, die der »Cap Anamur« drei Wochen lang verweigerten,
einen Hafen anzulaufen. Die damaligen Verantwortlichen der »Cap Anamur«
haben aus ethischen Motiven gehandelt und kein Gesetz übertreten.
Trotz des erfreulichen Freispruchs besteht kein Grund zum Feiern. Denn
das Verfahren hat mit großer Wahrscheinlichkeit eine abschreckende
Wirkung auf Seefahrer, die dem Sterben auf dem Mittelmeer nicht tatenlos
zusehen wollen. Willkürliche Anklage, monatelange Beschlagnahmung des
Schiffes und die Länge des Prozesses haben deutlich gemacht, dass
Rettungstaten juristisch verfolgt werden. Ob dafür eine rechtliche Basis
besteht oder nicht, spielt keine Rolle. Hintergrund des Prozesses ist
die rigide Grenzpolitik der EU: Sie will sich gegen Einwanderer und
Flüchtlinge abschotten und nimmt dabei deren Tod billigend in Kauf.
** Aus: Neues Deutschland, 8. Oktober 2009 (Kommentar)
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