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Bürger- und Menschenrechtsgruppen: "Fahrlässiger Umgang mit dem Grundgesetz" - "Verfassungsschutzbericht" schönt und verschweigt

"Grundrechtereport 2009" vorgelegt - Schäuble kommentiert den Verfassungsschutzbericht. Mehrere Artikel und Interviews

Am 18. Mai legten die herausgebenden neun Bürger- und Menschenrechtsorganisationen ihren "alternativen Verfassungsschutzbericht" vor. Er heißt "Grundrechte-Report - Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland" und wird jährlich herausgegeben. Der Zufall wollte es, dass einen Tag später Innenminister Schäuble den "Verfassungsschutzbericht" der Öffentlichkeit vorstellt. Zwei Sichtweisen vom Zustand der inneren Demokratie in unserem Land, wie sie unterschiedlicher nicht sein können!
Wir dokumentieren im Folgenden:


Ex-Bundesverfassungsrichter mahnt sorgsameren Umgang mit Grundrechten an

Hassemer lobt zum 60-jährigen Verfassungsjubiläum gestiegenes Bewusstsein für Datenschutz / Striktes Verbot der Verwertung von Folter-Aussagen gefordert

Der frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Winfried Hassemer, hat zu einem sorgsameren Umgang mit den Grundrechten aufgerufen. "Wir beobachten in Gesetzgebung und Verwaltung einen allgemeinen Trend hin zu mehr Sicherheit und Prävention, der häufig zu Lasten der klassischen bürgerlichen Freiheiten geht", sagte Hassemer anlässlich der Vorstellung des Grundrechte-Reports 2009 am Montag in Karlsruhe. Als Beispiel nannte er die zunehmende Beschränkung der Demonstrationsfreiheit durch immer strengere Versammlungsgesetze.

Kurz vor dem 60. Jubiläum des Grundgesetzes am 23.5.2009 zog Hassemer ein kritisches, aber auch positives Fazit der deutschen Verfassungswirklichkeit. "Insbesondere im Bereich des Datenschutzes erleben wir, dass ein schon fast tot geglaubtes Grundrecht neu an Bedeutung gewinnt, weil die Bürger durch die Überwachungsskandale in großen Unternehmen aufgeschreckt werden", sagte der ehemalige Bundesverfassungsrichter, der von 1991 bis 1996 auch hessischer Datenschutzbeauftragter war.

Klar wandte der emeritierte Professor für Strafrecht der Universität Frankfurt sich gegen Tendenzen, zum Zweck der Verfolgung oder Verhütung von Terroranschlägen das Folterverbot des Grundgesetzes aufzuweichen. "Vor vergifteten Beweismitteln dürfen wir nicht die Augen verschließen. Wenn es belastbare Anzeichen gibt, dass Zeugenaussagen in ausländischen Gefängnissen unter Folter erzwungen wurden, dann muss ihre Verwendung sowohl deutsche Behörden als auch Gerichten strikt verboten sein."

Für die Herausgeber des Grundrechte-Reports kritisierte Till Müller-Heidelberg, ehemaliger Bundesvorsitzender der Humanistischen Union, einen abnehmenden Respekt der Politik gegenüber dem Grundgesetz. Als Beispiel nannte er die im vergangenen Jahr durch das Bundesverfassungsgericht verworfene Online-Durchsuchung: "In das neue BKA-Gesetz wurde die Erlaubnis dazu dann gleich wieder hineingeschrieben, zusammen mit einem Bündel von fragwürdigen Eingriffsermächtigungen - vom Belauschen von Berufsgeheimnisträgern bis zur schon tot geglaubten Rasterfahndung", sagte Müller-Heidelberg. Ebenso rügte er die Rechtsblindheit von Ermittlungsbehörden und sogar Gerichten, die immer wieder gegen die gefestigte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts etwa zur Unverletzlichkeit der Wohnung nach Artikel 13 Grundgesetz verstießen.

Auch Betroffene kamen zu Wort. So schilderte ein Totalverweigerer "erzieherische Maßnahmen" der Bundeswehr, die darauf hinausgelaufen seien, seine Gewissensentscheidung gegen die Wehrpflicht zu brechen. Der Anmelder einer Demonstration in Karlsruhe berichtete, wie er zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, weil Teilnehmer sich an vergleichsweise marginale Auflagen nicht gehalten hatten: Die Ordner seien der Polizei 15 Minuten zu spät vorgestellt worden, manche Teilnehmer "zu ähnlich gekleidet" gewesen.

Der im Fischer Taschenbuch Verlag verlegte, 1997 erstmals erschienene "Grundrechte-Report" versteht sich als "alternativer Verfassungsschutzbericht". Neun Bürger- und Menschenrechtsorganisationen dokumentieren darin jährlich den Umgang mit dem Grundgesetz.

Grundrechte-Report 2009 - Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland; Herausgeber: T. Müller-Heidelberg, U. Finckh, E. Steven, M. Assall, M. Pelzer, A. Würdinger, M. Kutscha, R. Gössner und U. Engelfried.
Preis € 9,95; 256 Seiten; ISBN 978-3-596-18373-9; Fischer Taschenbuch Verlag; Juni 2009.



Pressestimmen:

"Wettlauf um den niedrigsten Standard"

Die staatlichen Attacken auf die Grundrechte treffen aber auf immer mehr Widerstand. Ein Gespräch mit Rolf Gössner

Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Publizist, Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte und Mitherausgeber des Grundrechte-Reports 2009, der am gestrigen Montag (18. Mai) in Karlsruhe vorgestellt wurde.

Wie würden Sie die Bilanz von 60 Jahren Grundgesetz (GG) im Sinne von Anspruch und Wirklichkeit zusammenfassen?

Die Bundesrepublik hat eine Verfassung, um die uns viele in der Welt beneiden und die manchen Ländern als Vorbild dient. Doch im Laufe der Zeit haben zahlreiche Veränderungen dazu geführt, daß die Freiheitsrechte im Namen der Freiheit drastisch beschränkt und liberal-rechtsstaatliche Prinzipien verkürzt worden sind. Denken wir nur an die Notstandsgesetze, die Aushöhlung des Grundrechts auf Asyl für politisch Verfolgte und die Unverletzlichkeit der Wohnung mit Hilfe des Großen Lauschangriffs – und nicht zuletzt an die zahlreichen Antiterrorgesetze seit den Anschlägen vom 11. September 2001. Auch die Praktiken der »wehrhaften Demokra-tie« vertreiben uns rasch aus dem Verfassungshimmel in die Niederungen der Verfassungsrealität – erinnert sei etwa an die exzessive Kommunistenverfolgung der 50er und 60er Jahre.

Und viele ärmere und benachteiligte Menschen haben nur wenig Chancen auf die Segnungen des Rechtsstaats; sie sind kaum in der Lage, die verbrieften Gleich-heits- und Freiheitsrechte auszukosten. Diese Rechte bedürfen deshalb einer Ergän-zung durch einklagbare soziale und wirtschaftliche Grundrechte und erweiterte Teil-haberrechte – von einer gerechteren Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung mal ganz zu schweigen.

Welche Besonderheiten sehen Sie im Zeitraum von 9/11 bis heute?

Der ausufernde Antiterrorkampf hat uns eine besorgniserregende Einschränkung der Freiheitsrechte und die Entgrenzung staatlicher Gewalten beschert. Polizei- und Geheimdienstbefugnisse wurden verschärft, Sicherheitsüberprüfungen von Arbeitnehmern auf »lebens- und verteidigungswichtige« Betriebe ausgedehnt, biometrische Daten in Ausweispapieren erfaßt, Migranten und Muslime als besondere Sicherheitsrisiken unter Generalverdacht gestellt.

Polizei und Geheimdienste werden verzahnt, die Bundeswehr mutiert zur nationalen Sicherheitsreserve, die zunehmend im Landesinnern eingesetzt wird. Der entfesselte, nur noch schwer zu kontrollierende Sicherheitsstaat im alltäglichen Ausnahmezustand rückt in greifbare Nähe – und das Bundesverfassungsgericht kommt kaum noch nach, etliche der Antiterrorgesetze ganz oder teilweise für verfassungswidrig zu erklären. Jedenfalls verweist die hohe Anzahl von Gesetzen und Maßnahmen, die in den letzten Jahren für illegal erklärt werden mußten, auf ein katastrophales Verfassungsbewußtsein in der politischen Klasse.

Hat sich das Bewußtsein für Datenschutz und Bürgerrechte in der Bevölke-rung aus Ihrer Sicht positiv entwickelt, oder hängt es im Zweifel von Me-dienberichten ab?

Seit den Datenskandalen und betrieblichen Bespitzelungsaffären der letzten Zeit ist das Problembewußtsein tatsächlich wieder im Kommen – selbst bei jenen Politikern und Parteien, die Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung seit Jahren mit Füßen treten. Auch bei manchen jener Bürger, die einen sorglosen Umgang mit ihren persönlichen Daten pflegen und eigentlich »nichts zu verbergen« haben. Die Gefahr, daß die Angstpolitik beim nächsten Anschlagsversuch wieder verfängt, ist damit leider nicht gebannt.

Welche Folgen hatte Ihrer Meinung nach die Föderalismusreform für die Grundrechte?

Die Reform brachte vor allem eine Veränderung der Gesetzgebungskompetenzen – mit der Folge, daß u.a. das Strafvollzugsrecht und die vom Grundgesetz geschützte Versammlungsfreiheit den einzelnen Bundesländern zur Regelung überantwortet wurden. Das Bundeskriminalamt wird seitdem zu einem deutschen FBI ausgebaut, dem nun auch geheimpolizeiliche Präventivbefugnisse zur Terrorismusbekämpfung und Vorfeldausforschung zustehen. Und die Verschärfungsversuche hinsichtlich des Versammlungsrechts in Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen zeigen, daß der Wettlauf um die jeweils niedrigsten Standards längst begonnen hat.

Ist Ihrer Meinung nach die Demokratie bundesweit gestärkt aus der Auseinandersetzung um das Bayerische Versammlungsgesetz hervor gegangen?

Das breite demokratische Engagement in Bayern gegen die Verschärfung des Versammlungsgesetzes durch die dortige Landesregierung hat mit der ersten Entscheidung vor dem Bundesverfassungsgericht einen wichtigen Teilsieg mit Signalwirkung einfahren können. Jetzt mussten CSU und FDP einen neuen Gesetzentwurf vorlegen. Doch die Auseinandersetzungen um die Versammlungsfreiheit in Bund und Ländern ist damit noch längst nicht ausgestanden.

Das Gespräch führte Claudia Wangerin

junge Welt, 19.05.2009


Verdrehte Grundrechte

Neuer Grundrechte-Report: Ex-Verfassungsrichter warnt vor Aufweichung des Folterverbots

Von Ulrike Gramann, Karlsruhe


Am 23. Mai jährt sich die Verabschiedung des Grundgesetzes zum sechzigsten Mal. Am Montag mahnte der frühere Bundesverfassungsrichter Winfried Hassemer einen sorgsameren Umgang mit den Grundrechten an. Der Trend hin zu immer mehr Sicherheit und Prävention gehe zu Lasten der klassischen bürgerlichen Freiheiten. Gefahren für die Grund- und Freiheitsrechte gingen in den letzten sechzig Jahren nicht von den Bürgerinnen und Bürgern aus, erklärte Till Müller-Heidelberg (Humanistische Union) am Montag bei der Vorstellung des Grundrechte-Reports 2009. Immer wieder bedroht würden sie vor allem von Gesetzgeber und Verwaltung. Neu sei, dass Verstöße gegen grundlegende Rechte zunehmend von der privaten Wirtschaft verübt werden.

Prominente Unterstützung für seine Kritik erhielt der Mitherausgeber des »alternativen Verfassungsschutzberichtes« in diesem Jahr vom ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Winfried Hassemer kritisierte am Montag bei der Präsentation in Karlsruhe ein gewandeltes Staatsverständnis. Wurden Grundrechte in die Verfassung aufgenommen, um die Bürger vor dem Zugriff des Staates zu schützen, erscheine der Staat heute als »Partner gegen Risiken«: »Die Verstärkung des Sicherheitsparadigmas geht auf Kosten der Freiheit.«

Hassemer beklagte den »Niedergang des Datenschutzes«. Dieses Grundrecht sei »ein Geisterfahrer geworden, unterwegs in der falschen Richtung«. Der Schutz der Person erfordere konsequenterweise auch den Schutz der kommunizierenden Person, der nicht durch Verdrehungen wie »Datenschutz ist Täterschutz« untergraben werden dürfe. Wenige Tage vor dem Grundgesetzgeburtstag sieht der einstige hessische Datenschutzbeauftragte aber auch positive Tendenzen: Ein schon fast tot geglaubtes Grundrecht wie der Datenschutz sei immerhin wieder imstande, »die Menschen aufzuregen«.

Auch Müller-Heidelberg kritisierte Verfassungsblindheit und mangelnden Respekt der Politik vor dem Grundgesetz. Kaum habe im vergangenen Jahr das Bundesverfassungsgericht die Online-Durchsuchung verworfen, sei sie vom Gesetzgeber ins neue BKA-Gesetz wieder hineingeschrieben worden.

Hassemer warnte zudem vor einer Aufweichung des Folterverbots. Folter sei ein Verstoß gegen die Menschenwürde, der in einem Rechtsstaat keinen Platz habe. Vize-Generalbundesanwalt Rainer Griesbaum hatte im vergangenen Jahr gefordert, die Erkenntnisse aus ausländischen Foltergeständnissen im Einzelfall für weitere Ermittlungen zu verwenden. Hassemer plädiert dagegen für ein striktes Verbot -- »wir würden sonst fremde Folterer unterstützen«. Verhörergebnisse, die durch Folter gewonnen wurden, seien nicht verlässlich. »Vor vergifteten Beweismitteln dürfen wir nicht die Augen verschließen«, erklärte der emeritierte Frankfurter Strafrechtsprofessor. Wenn es belastbare Anzeichen gebe, dass Zeugenaussagen in ausländischen Gefängnissen unter Folter erzwungen wurden, dann müsse ihre Verwendung strikt verboten sein.

Die konkrete Missachtung von Grundrechten schilderten am Montag (18. Mai) auch Betroffene. Der Anmelder einer Demonstration in Karlsruhe berichtete, wie er zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, weil Demonstrationsteilnehmer gegen Auflagen verstoßen haben. Er wurde dafür bestraft, dass Teilnehmer Sonnenbrillen trugen, Transparente keinen Mindestabstand von 1,50 Meter zueinander hatten und Demonstranten nicht langsam genug gingen. Aus seiner Sicht sollen mit solchen Urteilen andere potenzielle Demoanmelder abgeschreckt werden.

Der Totalverweigerer Alexander Hense schilderte, wie die Bundeswehr versuchte, durch Arrest seine Gewissensentscheidung gegen die Wehrpflicht zu brechen. Der Staat sehe den Menschen in der Wehrpflicht als Objekt. »Das widerspricht der Menschenwürde«, sagte Hense.

Der Grundrechte-Report ist ein Gemeinschaftsprojekt zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland und wird seit 1997 jährlich herausgegeben von neun Bürgerrechtsorganisationen, darunter dem Komitee für Grundrechte und Demokratie, der Humanistischen Union und Pro Asyl. Wichtige Artikel des Grundgesetzes, die die Grundrechte und den demokratischen Staat betreffen, werden darin mit Fällen von staatlicher und gesellschaftlicher Missachtung von Grundrechten konfrontiert. Der Report erscheint im Fischer Taschenbuch Verlag und gilt als alternativer Verfassungsschutzbericht. ug

Neues Deutschland, 19. Mai 2009


Foltergeständnisse müssen tabu sein

VON URSULA KNAPP

Winfried Hassemer ist zwar seit einem Jahr nicht mehr Bundesverfassungsrichter, doch seine Worte haben nach wie vor großes Gewicht. Am Montag forderte er in Karlsruhe, unter Folter erzwungene Aussagen dürften von deutschen Gerichten und Behörden unter keinen Umständen verwertet werden.

Der frühere Strafrechtsprofessor aus Frankfurt sagte bei der Vorstellung des Grundrechte-Reports 2009, der Staat könne sich nicht damit rechtfertigen, für Menschenrechtsverletzungen in ausländischen Gefängnissen nicht verantwortlich zu sein: "Wenn wir erfolterte Informationen abkaufen, dann haften wir dafür." Allerdings fordert der ehemalige Bundesverfassungsrichter "belastbare Anzeichen", dass ein Zeuge in einem ausländischen Gefängnis unter Folter aussagte. Die Behauptung allein genüge nicht. Bisher wurden Foltergeständnisse nicht verwertet. Auch nicht das Geständnis von Magnus Gäfgen, der 2002 in Frankfurt unter Folterandrohung den Fundort des ermordeten Jakob von Metzler preisgab.

Zuletzt hatte Vize-Generalbundesanwalt Rainer Griesbaum das absolute Verwertungsverbot solcher Zeugenaussagen infrage gestellt. Der Leiter der Abteilung Terrorismus in der Bundesanwaltschaft Karlsruhe sagte auf dem Juristentag 2008, auch unter Folter erzwungene Aussagen ausländischer Inhaftierter sollten in Einzelfällen für weitere Ermittlungen benutzt werden können.

Anmelder von Demo verurteilt Bei der Vorstellung des Grundrechte-Reports wurde bekannt, dass der Anmelder einer Demonstration gegen den G-8-Gipfel verurteilt wurde, weil Teilnehmer gegen einzelne Auflagen verstoßen hatten. Vor dem Regierungstreffen in Heiligendamm hatte die Bundesanwaltschaft 2007 eine Großrazzia mit 900 Polizeibeamten angeordnet. Hiergegen fand in Karlsruhe eine Demonstration statt, die auch am Gebäude der Bundesanwaltschaft vorbeizog.

Ein Student meldete die Protestaktion an. Da bei der friedlich verlaufenden Demonstration einzelne Demonstranten rannten statt zu laufen, dazu Sonnenbrillen und Kapuzen trugen, sowie die Kameraleute der Polizei als "Arschloch" bezeichneten, erhielt der Anmelder einen Strafbefehl von 160 Tagessätzen. Auf seinen Einspruch verurteilte ihn das Amtsgericht zu 60 Tagessätzen. Der Fall ist jetzt vor dem Landgericht Karlsruhe anhängig. Der Grundrechte-Report, der von neun Bürgerrechtsorganisationen herausgegeben wird, verurteilt die Strafverfolgung als Einschüchterungsversuch und Einschränkung des Grundrechts der Demonstrationsfreiheit.

Mitherausgeber Till Müller- Heidelberger kritisierte am Montag, die Politik missachte die Rechtsprechung. Obwohl Karlsruhe die Online-Durchsuchung 2008 stark eingeschränkt habe, sei "die Erlaubnis dazu" dann wieder im BKA-Gesetz verankert worden. Gegen das neue Polizeirecht haben Vertreter von Ärzten, Anwälten und Journalisten das Bundesverfassungsgericht angerufen.

Frankfurter Rundschau 19.05.2009


Grundrecht auf Datenschutz

Ex-Verfassungsrichter Hassemer feiert bei der Vorstellung des Grundrechtereports die Wiedergeburt des Datenschutzes und fragt: "Wie erleben Menschen Scham?"

VON CHRISTIAN RATH


"Ich bin happy, weil ich mich geirrt habe", sagte Ex-Verfassungsrichter Winfried Hassemer gestern in Karlsruhe. "Ich dachte, der Datenschutz sei tot, aber die Leute regen sich immer noch auf, wenn sie überwacht werden. Das ist wunderbar."

Hassemer, der bis 2008 Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts war, stellte gestern den Grundrechtereport 2009 vor - ein Taschenbuch, das von Bürgerrechtsorganisationen herausgegeben wird.

Hassemer bezog sich vor allem auf die Datenschutzskandale des letzten Jahres - Lidl, Telekom, Deutsche Bahn. "Die Skandalisierung solcher Übergriffe gelingt allerdings nur, solange wir glauben, dass die meisten Unternehmen sich korrekt verhalten", erläuterte der Frankfurter Rechtsprofessor, der in den 90er-Jahren auch hessischer Datenschutzbeauftragter war.

"Wenn jedoch alle den Datenschutz missachten, dann können wir nur noch nach Hause gehen und weinen", so Hassemer in seiner gewohnt prägnanten Sprache.

Hassemer räumte dabei auch einen zweiten Irrtum ein. "In den 80er-Jahren dachten wir, die gefährlichsten Eingriffe in den Datenschutz gehen vom Staat aus. Das war falsch", sagte der Ex-Verfassungshüter mit Blick auf die anlasslose Überwachung von Mitarbeitern in vielen Betrieben.

Zugleich zeigte sich Hassemer ratlos und forderte Grundlagenforschung. "Ich will wissen, was in den Köpfen der Leute vorgeht. Was verstehen sie heute unter Privatheit, wie erleben sie Scham?" Erst dann könne man sinnvoll über den Hang vieler Menschen zur Selbstentblößung - im Internet, im Fernsehen oder beim Telefonieren im Zug - diskutieren. An sich sei Datenschutz, so Hassemer, nämlich ein "sehr intimes Grundrecht, viel intimer als das Eigentum und fast so intim wie die Menschenwürde". Es gehe schließlich auch um privateste Informationen, "etwa um unsere ganz persönlichen Ängste und Hoffnungen".

Hassemer warnte gestern auch vor einer Aufweichung des Folterverbots. "Wenn Zeugenaussagen in ausländischen Gefängnissen unter Folter erzwungen wurden, dann muss ihre Verwendung in Deutschland strikt verboten sein", erklärte der Jurist.

Dies gelte nicht nur vor Gericht, sondern auch für die Polizei. Solche Aussagen dürften von den Ermittlern nicht einmal als Anlass für weitere Ermittlungen genutzt werden.

Praktisch sehr wichtig ist dabei die Frage: Wann muss ein Gericht davon ausgehen, dass ein Zeuge, dessen Aussage nur verlesen werden kann, zuvor gefoltert wurde? Die Bundesanwaltschaft will Aussagen nur dann nicht verwerten, wenn Folter bewiesen ist.

Hassemer will dagegen schon "belastbare Anzeichen für Folter" gelten lassen. Es könne allerdings nicht genügen, so der Jurist, dass die Verteidigung einfach so Foltervorwürfe erhebt. "Wir dürfen auch nicht naiv sein, sonst machen wir das Folterverbot selbst kaputt", betonte Hassemer.

Der Anwalt Till Müller-Heidelberg rügte gestern "die zunehmende Rechtsblindheit von Polizei und sogar Gerichten", die Karlsruher Vorgaben etwa für Wohnungsdurchsuchungen missachten.

Der Grundrechtereport wird von neun Organisationen, darunter der Humanistischen Union und der Neuen Richtervereinigung, herausgegeben. In diesem "alternativen Verfassungsschutzbericht" wird jährlich beschrieben, wie Staat und Unternehmen die Grundrechte gefährden und verletzen.

Hassemer nannte das im Buchhandel erhältliche Bändchen eine "segensreiche Erfindung". Der Report sei das "vielleicht wichtigste Instrument zur Vermittlung der Grundrechte in die Bevölkerung."

taz 19.05.2009


Schäuble über Neonazis beunruhigt

Verfassungsschutz belegt Zunahme rechter Gewalt, doch der Minister will kein NPD-Verbot

Rechtsradikal motivierte Straftaten in Deutschland haben besorgniserregend zugenommen. Laut Verfassungsschutzbericht 2008 stieg die Anzahl der rechtsextremistischen Taten gegenüber dem Vorjahr um 15,8 Prozent auf 19 894. Der Bundesinnenminister zeigte sich zwar alarmiert, hält aber nichts von einem neuen Anlauf zum Verbot der NPD.

Berlin (ND-Heilig). Fast traditionell warnten Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) und der Präsident des Inlandsgeheimdienstes Heinz Fromm am Dienstag in Berlin vor islamistisch geprägtem Terrorismus. Zugenommen habe Internetspionage gegen deutsche Unternehmen und Behörden. Wieder erregt alles, was links ist, Argwohn. Auch die 2008 aus PDS und WASG entstandene LINKE, denn: »Ungeachtet ihres ambivalenten Erscheinungsbildes bietet die Partei ... weiterhin tatsächliche Anhaltspunkte für extremistische Bestrebungen«, heißt es.

Stärker als gewohnt schauten die Verfassungsschützer auf das rechtsextremistische Gewaltspektrum. Als besonders gefährlich gelten die Autonomen Nationalisten, die erstmals am 1. Mai 2008 bei einem Nazi-Aufmarsch in Hamburg als straff geführter schwarzer Block auftraten und immer öfter Auseinandersetzungen mit Gegendemonstranten und der Polizei provozieren.

Die Statistik der Kölner Demokratie-Wachleute zu rechten Untaten stützt sich auf Erhebungen des Bundeskriminalamtes. Die lassen erschrecken, obwohl sie nach Meinung von Fachleuten keineswegs komplett sind: Totschlag, Körperverletzung, Brandstiftung, Landfriedensbruch, Raub, Erpressung. Im Gefolge werden Sachbeschädigungen, Propagandadelikte und Volksverhetzung aufgelistet.

»Die Zahl der Neonazis, und das ist beunruhigend, ist erneut gestiegen«, sagte der Innenminister. Insgesamt nahm ihre Zahl deutlich von 4400 auf 4800 zu. Es gebe zwar weniger NPD-Mitglieder, die Rolle der Neonazis in der Partei sei aber gewachsen, liest man. Schäuble kann also keine Entwarnung in Sachen NPD verkünden, dennoch lehnte er abermals einen erneuen Anlauf für ein NPD-Verbotsverfahren ab. Das stünde »auf tönernen Füßen«. Er muss es wissen, schließlich verhindern »seine« V-Leute in der NPD einen klaren Richterspruch gegen die rechtsextremistische Partei. Unlängst hatten die SPD-Landesinnenminister - zum Ärger Schäubles - für ein NPD-Verbot geworben und eine eigene Materialsammlung vorgelegt.

Die Sorge des Bundesamtes für Verfassungsschutz scheint in manchen Bundesländern nicht angekommen zu sein. Beispiel Niedersachsen: In Eschede rotten sich seit geraumer Zeit auf einem Grundstück Junge Nationaldemokraten (JN) zusammen, die nachweislich enge Kontakte zu den Autonomen Nationalen haben. Hier wurden zu Jahresbeginn die JN-Stützpunkte Delmenhorst und Lüneburg gegründet. Demnächst wird wieder »Sonnenwende« gefeiert. Die Befürchtung, dass hier ein Propagandastützpunkt der Neonazis aufgebaut wird, ist evident. Doch die sorgenvolle Anfrage der Linksfraktion im Landtag von Hannover aktiviert den Innenminister Uwe Schünemann (CDU) nicht. Lakonisch stellt er fest: »Es ist nicht auszuschließen, dass auch in der Zukunft vereinzelte Veranstaltungen dort stattfinden werden.«

Auch Hessen legte gestern seinen Verfassungsschutzbericht vor. Trauriger Höhepunkt dessen, was Innenminister Volker Bouffier (CDU) »Rechts-Links-Konfrontationen« nennt, war im Sommer 2008 der brutale Überfall von Rechtsextremisten auf ein Zeltlager der Linksjugend [?solid] am Neuenhainer See.

Neues Deutschland, 20. Mai 2009


Verfassungsschutz warnt vor Terrorgefahr

Von Claudia Wangerin

Einen deutlichen Anstieg rechtsextremer Straf- und Gewalttaten hat der Verfassungsschutz im Jahr 2008 registriert. Dies teilten Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und Verfassungschutzpräsident Heinz Fromm bei der Vorstellung des Jahresberichts der Behörde am Dienstag in Berlin mit. In den letzten Jahren habe sich ein Block von 400 bis 500 gewaltbereiten »Autonomen Nationalisten« herausgebildet, der bei Demonstrationen gezielt Randale anzettle. Fromm sprach von einem »neuen Phänomen«. Die registrierte Anzahl rechtsextremer Gewalttaten stieg im Jahr 2008 um 6,3 Prozent auf 1042. Die Gesamtzahl der Straftaten -- überwiegend Propagandadelikte -- erreichte mit 19894 einen Höchststand. Sie stieg um 15,8 Prozent an. Die »Amadeu Antonio Stiftung« wirft der Behörde vor, die Zahl der Todesopfer herunterzuspielen: »Während der Verfassungsschutz zwei Todesopfer rechter Gewalt benennt, haben wir im vergangenen Jahr bedauerlicherweise fünf zählen müssen«, erklärte Sprecherin Anetta Kahane.

Bei den Straftaten mit »linksextremistischem Hintergrund« wurde ein Anstieg um 13 Prozent verzeichnet. Die registrierten Gewaltdelikte gingen hier allerdings um 15,8 Prozent zurück. Insgesamt stellte der Verfassungsschutz im vergangenen Jahr 3124 »linksextrem motivierte« Straftaten fest.

Weiterhin sieht Schäuble im islamistischen Terrorismus eine Gefahr für Deutschland. Er macht diese an Videobotschaften fest. Als Grund für die wachsende Gefahr nannte er den deutschen Militäreinsatz in Afghanistan -- ohne jedoch »unser Engagement in Afghanistan« in Frage zu stellen.

Über die Erwähnung der Partei Die Linke im Verfassungsschutzbericht beschwerte sich deren Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch. Die Linke verteidige die Verfassung gegen Eingriffe in persönliche und verbriefte Freiheitsrechte. Daß sie überhaupt im Bericht auftauche, sei »inakzeptabel und ein Skandal«.

junge Welt, 20. Mai 2009


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