Neue Medien und der Aufstand
Networking im virtuellen Raum bringt im Nahen Osten kritische Massen auf die Straßen
Von Pedram Shahyar *
Die Linke war historisch auf vielen Ebenen der sozialen Modernisierung die Avantgarde. Für die neuen sozialen Medien kann die Linke in Deutschland diesen Anspruch für sich nicht behaupten. Besorgt um die Privatsphäre, wird den sozialen Netzwerken im World Wide Web oft skeptisch begegnet. Mit der Welle der Revolten im Nahen Osten, die 2009 im Iran begann, ändert sich nun die Wahrnehmung, da die elektronische und interaktive Medientechnik als ein wertvolles Instrument in diesen Kämpfen dienen.
Internetbasierte soziale Communitys, allen voran Facebook, brachten Innovationen für soziale Beziehungen mit sich. Der Nutzer bewegt sich, anders als in der alten E-Mail-Kommunikation, in einem eigens geschaffenen und eingegrenzten Milieu, mit dessen Mitgliedern er sich systematisch und regelmäßig austauscht. Das Milieu bildet sich entlang des Profils, das sich der Nutzer virtuell schafft – dieses ist nicht identisch mit der realen Person, aber an diese gekoppelt. Die innovative Erneuerung der sozialen Medien ist dabei der interaktive Charakter. Jedes Mitglied im angeschlossenen Milieu kann auf die Beiträge der Person reagieren und diese in Form eines Feedbacks bewerten. Die Menge des Feedbacks zeigt, wie stark die Person wahrgenommen wird. Online-Communitys ermöglichen die Verbreitung von Informationen. So kann jeder mit einem Mausklick attraktive Neuigkeiten an das eigene Umfeld weiterleiten, wodurch wellenförmige Nachrichtenströme entstehen. Diese neue Möglichkeit der Informationsstreuung gibt politischen Außenseitern die Möglichkeit, deren benachteiligte Position in der etablierten Medienöffentlichkeit zu kompensieren.
Politische Mobilisierung im Netz
Neben der Informationsfunktion ist für eine politische Mobilisierung die Verdichtungsfunktion der sozialen Medien wichtig. Durch das Feedback kann die Akzeptanz einer Aktion oder eines Projektes gemessen und das Potenzial des Erfolges abgeschätzt werden. Der Auslöser der Revolte in Ägypten war ein Aktionsaufruf in Facebook, um dem brutalen Polizei-Mord an Khaled Saeed zu gedenken. Die enormen Rückmeldungen zeigten, dass hier ein Nerv getroffen war und die Aktivisten gewannen Mut, gegenüber der repressiven Polizei eine kritische Masse zu werden. So war es vor allem diese Funktion zur Streuung und Verdichtung von Inhalten und Aktivitäten, die die sozialen Medien unter den diktatorischen Regimen im Nahen Osten für die Entstehung einer dissidenten Öffentlichkeit so wichtig machte.
Die große Bedeutung dieser Medien in der Region ist aber auch sozial-strukturell bedingt. Die soziale Modernisierung der letzten Dekaden produzierte eine neue Schicht von gebildeten und internet-affinen jungen Menschen. Diese war bislang einer gesellschaftlichen Realität ausgesetzt, in der sie sich im öffentlichen Raum nicht frei äußern konnte. Jetzt fand sie über das Internet Zugang zur globalen Kultur. Auch den vorherrschenden familiären Strukturen, Normen und Verhaltensweisen entsprachen sie nicht mehr. Der von sozialen Medien gestützte virtuelle Raum wurde so zu einer Fluchtwelt, in der sich diese Generation frei äußern und finden konnte. Die Widersprüche zwischen den Sehnsüchten dieser jungen Schicht und der gesellschaftlichen Realität war auch ein entscheidender Grund einer lang anhaltenden Diaspora und der Abwanderung von Menschen aus dem Nahen Osten, die neue Medien nutzen. Die Migration verstärkte wiederum ihr Nutzungsverhalten, da über soziale Medien freundschaftliche Bindungen über lange Distanzen gehalten und gepflegt werden können.
Neben sozial-strukturellen Gründen geht die Dynamik der sozialen Medien aber auch auf ihre Kopplung an nicht-virtuelle Strukturen zurück. Auf der Ebene der Organisation sind die Internetcafés von besonderem Interesse. Da viele Jugendliche zu Hause keine schnelle Leitung besitzen, sind die Cafés nicht nur Orte der virtuellen Vernetzung, sondern auch Offline-Treffpunkte von sozialen Netzwerkern und Bloggern.
Verknüpfung mit Offline-Aktivitäten
Die Informationsfunktion der sozialen Medien hat in den letzten Jahren insbesondere durch die Kopplung an etablierte Medienapparate enorm an Bedeutung gewonnen. Vorreiter war die progressive Online-Zeitung Huffington-Post in den USA. Für diesen Trend steht aktuell vor allem der Sender »Al Jazeera«, da die Regierungen die journalistische Arbeit in den aufständischen Regionen enorm erschwert haben. Die Berichterstattung stützte sich dann zunehmend auf die Informationen aus den sozialen Medien. Die redaktionelle Arbeit und Ressourcen wurden in die Sammlung und Validierung dieser Nachrichten verlagert. Die sozialen Medien verändern somit die Wahrnehmung von politischer Aktivität grundlegend. Ihre Wucht erklärt sich aber nicht allein als Medium, sondern in ihrer Verbindung mit gesellschaftlichen Prozessen und Offline-Realitäten.
* Pedram Shahyar, geboren 1973 im Iran, arbeitet im Bereich politische Kommunikation mit sozialen Medien.
Aus: Neues Deutschland, 5. März 2011
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