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Der Erste Weltkrieg und die Schuldfrage

Neue geschichtspolitische Debatten um Gründe für den Kriegsausbruch

Von Marcus Meier *

Knapp hundert Jahre nach Beginn des ersten Weltkrieges steht die Kriegsschuldfrage wieder auf der Tagesordnung. Aus Sicht des Militärhistorikers Wolfram Wette eine »hochgefährliche« Debatte.

Der Historiker Professor Wolfram Wette befürchtet eine geschichtspolitische Wende in 2014, dem Jahr, in dem sich der Beginn des ersten Weltkrieges zum einhundertsten mal jähren wird. Was die deutsche Hauptschuld an der »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« betreffe, sollen »die Köpfe erneut vernebelt werden«. Ähnlich wie in den Jahren zwischen den Weltkriegen, als die »Verteidigungslüge«, der zu folge das deutsche Reich sich lediglich gegen eine zaristische Mobilmachung zur Wehr setzte, ein reaktionäres Klima in Deutschland mitbeförderte.

Das sei hochgefährlich, warnte Wette auf der Fachtagung »Die Waffen nieder: 100 Jahre Erster Weltkrieg – Nichts gelernt?«, die im Rahmen des Bundeskongresses der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG/VK) am Wochenende in Dortmund stattfand. Wette bezog sich dabei insbesondere auf den Erfolg des Buches »The Sleepwalkers« des Historikers Christopher Clark, das vor zwei Wochen auf Deutsch unter dem Titel »Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog« erschien und auch hier auf dem Weg zum großen Verkaufserfolg ist (Platz eins der »Spiegel«-Bestseller-Liste).

Ein »fulminantes Buch«, lobte der »Spiegel«, der Clarks Thesen in mehreren Interviews und Artikeln verbreitete. »Die Deutschen« trügen zwar Schuld am Ersten Weltkrieg, »aber nicht mehr als andere«, wird der Cambrigde-Professor im Hamburger Magazin zitiert – ein direkter Angriff auf den Historiker Fritz Fischer (»Der Griff zur Weltmacht«) und dessen Nachfolger.

Gegen den erbitterten Widerstand des national-konservativen Mainstreams in der Geschichtswissenschaft belegte Fischer in den 1960er-Jahren die deutsche Hauptschuld am Ersten Weltkrieg. Per Hegemonie in Europa zur Weltmacht: Frankreich schwächen, Russland abdrängen, Länder wie Belgien, Italien, Schweden zu deutschen Vasallenstaaten degradieren, so lauteten die zentralen Ziele im »Septemberprogramm« von Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, für Fischer das zentrale Dokument deutscher Kriegszielpolitik. Ob die Fischer-Schule sich mit ihrem Ansatz durchgesetzt habe, werde sich 2014 erweisen, betonte Wolfram Wette in seinem Dortmunder Vortrag. Der deutsche »Wille zum Krieg« basierte in Wettes Sicht auf Militarismus und Nationalismus. Politische wie militärische Eliten des deutschen Kaiserreichs hätten »den Weg in den Krieg« systematisch gesucht, obwohl sie die schrecklichen Gefahren eines industrialisierten Kriegs kannten, betonte Wette.

Der 72-Jährige ließ auch den »Militarismus des kleinen Mannes« nicht unerwähnt. »Viele Proletarier glaubten an Bebel und an Bismarck«, resümierte der in Freiburg Lehrende. Der Internationalismus der Arbeiterbewegung, ein scheinbares Bollwerk gegen Kriege, sei »schlicht überschätzt« worden.

Die DFG/VK hat zusammen mit Partnerorganisationen ein »Netzwerk 2014« etabliert. »Das Thema erster Weltkrieg muss auch von uns aufgegriffen werden, dabei ist der Gegenwartsbezug wichtig«, appellierte Christine Hoffmann, Generalsekretärin der katholischen Friedensorganisation »Pax Christi« in einer Videobotschaft an die Teilnehmer der Dortmunder Tagung. Ansonsten drohe ein »Freudentaumel für die Europäische Union« nach dem Motto »Sieben Jahrzehnte Frieden in Europa«. Doch die Rüstungsspirale drehe sich weiter, von Deutschland gehe wieder Krieg aus und wie 1914 drohen sich militärisches Denken durchzusetzen.

Das »Netzwerk 2014« will reaktionäre Kriegerdenkmäler kreativ umgestalten und organisiert an Pfingsten einen internationalen Friedenskongress mit – in Sarajevo, einer in mehrfacher Hinsicht geschichtsträchtigen Stadt.

* Aus: neues deutschland, Montag, 30. September 2013


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