Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ghandi und der Kampf gegen den Imperialismus

Von Johan Galtung *

Mahatma Gandhi kämpfte gegen das britische Imperium, das heißt gegen die britische Invasion und Besatzung. Die Invasion des Vizekönigs Richard Wellesley gegen den Sultan von Mysore im Jahr 1798 hatte einen eindeutig anti-muslimischen Charakter. Im gleichen Jahr überfiel Napoleon in seiner »zivilisatorischen Mission« Ägypten und ernannte sich selbst zum Sultan El-Kebir, dem großen Herrscher. 1801 wurde er aus dem Land gejagt. 1807 kamen die Engländer; Ägypten blieb bis 1922 britische Kolonie.

Gandhi kämpfte gegen ein grausames Imperium, wie die Niederschlagung des Sepoy Aufstandes vor 150 Jahren und das Amritsar-Massaker 1919 zeigten. Churchill bezeichnete Gandhi nicht nur als halbnackten Fakir, er hoffte auch, dass er sich zu Tode fasten würde. Aber 1947 war für die Briten alles vorbei: Zuerst fiel Indien, dann der Rest des Imperiums, vor allem dank Gandhis Gewaltlosigkeit. Heute geht es beiden Ländern gut. Indien mit seinem großartigen Sprachen- Föderalismus hat ein phänomenales Wirtschaftswachstum. England, zwar immer noch ein wenig imperialistisch, nimmt eine ähnliche Richtung. Und Gordon Brown, in seiner »besonderen Beziehung« zum Seniorpartner, klingt wie Tony Blair ohne Flair.

Dem globalen britischen Imperium folgte das größere, stärkere und abscheulichere globale USImperium, mit Israel im Nahen Osten und Australien im Pazifik. Alle sind sie Siedlerkolonien, was nicht anderes bedeutet als Invasion und Okkupation. Die USA heute in Irak, Afghanistan und teilweise Saudi-Arabien; Israel in Palästina. Der Hass der Menschen ist groß, wenn ihr Land überfallen und besetzt wird, unabhängig von den Rechtfertigungen, die der Aggressor und Besatzer erfindet. Deshalb gibt es gegen sie massiven Widerstand.

Wie leistete Gandhi Widerstand? Indem er in hervorragender Weise den Konflikt zwischen kshatriyah varnadharma, dem bewaffneten heroischen Kampf, und seinem eigenen swadharma, dem gewaltlosen Kampf mit der Strategie des satyagraha, dem heroischen gewaltlosen Kampf, überwinden konnte. Er war nicht bereit zu töten, aber er war bereit, getötet zu werden. Er war bereit, das ultimative Opfer zu bringen.

Für viele bedeutet satyagraha vor allem gewaltloser Kampf gegen direkte und/oder strukturelle Gewalt. Aber satyagraha bedeutet viel mehr. Es beinhaltet fünf Punkte, die über solche Begriffe wie Kampf, Widerstand, heroisch, und Opfer hinausgehen, eine tiefgreifendere und weisere Politik als siegreiche Invasionen.

Alle fünf Punkte sind auf den heutigen anti-imperialistischen Kampf anzuwenden. Der Kampf wird dem christlich fundamentalistischen US-Imperialismus und dem unnachgiebigen zionistische Imperialismus das Ende bringen. Aber die fünf Punkte Gandhis könnten den USA und Israel helfen, mit anderen in Freundschaft zusammenzuleben. Sie wirken auf beide Seiten: ihre Botschaft richtet sich nicht nur an die Invasoren und Besatzer – Washington und Jerusalem –, sondern auch an die Angegriffenen und Besetzten: Irak, Afghanistan, Palästina und Saudi Arabien. Je mehr die fünf Punkte in die Praxis umgesetzt werden, desto besser ist es für beide Seiten und für uns alle.

Punkt 1: Fürchte niemals den Dialog. In seinen vielen Kämpfen führte Gandhi den Dialog mit allen, auch mit dem Vizekönig eines Imperiums, den er verabscheute. Und er war damit erfolgreich. Es ist schon erbärmlich, wenn eine US-Außenministerin bei ihren Besuchen in Israel der dortigen Regierung immer wieder versichert, sie werde weder mit der Hamas noch mit der Hizbollah, weder mit Damaskus noch mit Teheran sprechen. Aber genau das müsste sie doch tun, um ihren Standpunkt zu erklären und den Standpunkt der anderen zu erfahren und vielleicht etwas davon zu lernen.

Vielleicht denkt sie ja, sie würde den Bösen zu viel Ehre erweisen. Möglicherweise aber ist für diese ein Treffen mit US-Vertretern gar keine so große Ehre. Diese Herangehensweise wird sie jedenfalls nicht gefügiger machen und sie werden auch nicht einfach verschwinden.

Das trifft auch auf Mullah Omar und Hekmatyar zu, die den religiösen und nationalen Widerstand repräsentieren. Dazu kommt der vielfältige Widerstand der großen Mehrheit der Afghanen, die einfach nur die Invasion und Besatzung ablehnen. Die USA und die NATO führen drei Kriege. Du sollst den Dialog führen: Eine Herangehensweise, die an die Bedingung geknüpft wird, erst müsse die NATO raus, dann werde verhandelt, ist zwar verständlich, aber man kann diesen Standpunkt besser in einem Dialog klarmachen, der alle Fragen einbezieht.

Punkt 2: Fürchte niemals den Konflikt. Er birgt mehr Möglichkeiten als Gefahren. Für Gandhi bedeutete Konflikt eine Herausforderung: sich kennenlernen, Gemeinsamkeiten finden, füreinander Bedeutung haben. Lasst uns darüber reden! Ihm war die Gewalt lieber als die Feigheit, der Konflikt, die Disharmonie lieber als gar keine Beziehung zueinander. Am liebsten aber waren ihm natürlich die Gewaltlosigkeit der Mutigen und harmonische Beziehungen.

Im angloamerikanischen Sinn bedeutet Konflikt bewaffnete Auseinandersetzung handelnder Parteien oder Inkompatibilität ihrer Forderungen. Ersteres führt zur Kontrolle über eine oder mehrere Parteien, normalerweise zur Kontrolle über den Anderen, bis hin zur Entmündigung, Vertreibung, Vernichtung. Letzteres könnte zur Problemlösung führen. Wie können also die legitimen Forderungen aller Parteien in Einklang gebracht werden? Könnte es gar sein, dass auch der Andere legitime Forderungen hat? Und – horribile dictu – dass ich falsch liege?

Unvernünftige und Selbstgefällige sehen in einem Konflikt die Möglichkeit, sich aufzudrängen, die Oberhand zu gewinnen, zu »siegen«. Vernünftigere werden darin eher die Möglichkeit sehen, eher sich selbst zu prüfen, als den Anderen zu zensieren. Für sie kann der Konflikt zur Suche nach neuen Wegen führen, um die legitimen Forderungen aller Beteiligten in Einklang zu bringen. Zum Beispiel die Forderung der muslimischen Welt, den Islam zu respektieren, und die Forderung des Westens nach Demokratie und freiem Markt. Gar nicht so einfach.

Könnte der Westen vielleicht etwas vom Islam lernen, der Wirtschaftsgeschäfte als zwischenmenschliche Beziehungen achtet? Und der Islam vom Westen, der eine größere Meinungsvielfalt achtet?

Im Punkt 3 und 4 wird ein wichtiges Medium eingeführt, in dem sich alle Konflikte entfalten: die Zeit. Diplomaten im Allgemeinen, nicht nur angloamerikanische, verhandeln über ratifizierbare Abkommen, indem ihre Forderungen, Werte und Interessen aufeinander treffen, so wie sie sich in der Gegenwart synchron präsentieren. Aber die Vergangenheit wirft lange Schatten auf die Gegenwart. Konflikte laufen nicht immer synchron, die Beteiligten leben in unterschiedlichen Zeitzonen – oft Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte von einander entfernt.

Im wirklichen Leben ist die Zukunft ein Leuchtturm mit roten, gelben und grünen Leuchtsektoren: Gefahr, bleib draußen! – Vorsichtig weiterfahren! – Hier entlang! Einige Leuchtsignale sind sehr stark und blenden, andere können nur bei größter Lichtempfindlichkeit wahrgenommen werden. Wer sie übersieht, trägt ein großes Risiko. Prof. Stojanovic, der Berater des serbischen Präsidenten Cosic, beschrieb das Vorgehen der USA vor der illegalen NATO-Aggression 1999 gegen Serbien so: Die USA leiden an einer exzessiven Verhaftung in der Gegenwart, sie sind sich weder der Geschichte bewusst noch dessen, was die Zukunft bringen könnte, an Gutem oder Schlechtem.

Punkt 3: Kenne die Geschichte, oder du bist dazu verdammt, sie zu wiederholen. Gandhi kannte die Geschichte und das Imperium der Engländer oft besser als sie selbst und er kannte die eigene, die Fakten ebenso wie die Literatur. Er kam zu dem Schluss, dass des britischen Imperiums Drang nach Ruhm und Herrschaft über die Meere (mit ein paar Ländern dazwischen) an den Wurzeln bekämpft werden musste, mit Gewaltlosigkeit, die England bis ins Herz trifft. Und genau das tat er.

Nicht nur Glanz und Ruhm, sondern auch Trauma und Leid der Geschichte prägen das kollektive Gedächtnis. Wie können wir jemals den Widerstand verstehen, ohne das Trauma zu verstehen, das die Menschen erlitten?

Wer ein Trauma erleidet, dem keine Versöhnung folgt, wird bei der nächsten Invasion sagen – ob zu Recht oder zu Unrecht: »Hier sind sie also wieder.« Die Angloamerikaner haben – wie alle Täter – nur ein kurzes Gedächtnis. Opfer vergessen niemals. Trauma und Leid müssen endlich erkannt werden und Versöhnung muss folgen.

Punkt 4: Stell dir die Zukunft vor, sonst erreichst du sie nie. »Sei heute die Zukunft, die du morgen sehen willst« – das bedeutete für Gandhi: positive Nicht-Kooperation und ziviler Ungehorsam, Verweigerung der Unterdrückungs-Mechanismen bei gleichzeitiger Erhellung der Zukunft und Schulung in satyagrahi (Kraft der Wahrheit mit Liebe) für positiven Frieden und Zusammenleben und nicht nur für eine Aneinanderreihung von Versammlungen, Resolutionen und Demonstrationen.

Die einende Vision heißt: Abzug der Invasoren! Sie muss laut und deutlich ausgesprochen werden. Gandhis Vision ging weiter, über die Unabhängigkeit hinaus, swaraj («Freiheit«, was für ihn bedeutete: Selbstkontrolle, Gleichheit, Selbstgenügsamkeit/wirtschaftliche Unabhängigkeit, Selbstrespekt – die Red.), in eine Welt, die den Besatzer mit einbezieht: noch mehr Engländer, aber als Freunde und auf der Basis der Gleichberechtigung!

Unwiderstehlich und entwaffnend! Könnte die Botschaft für alle Beteiligten nicht lauten: Denkt nach, sprecht miteinander und handelt für eine gemeinsame Zukunft? Zum Beispiel eine Gemeinschaft des Mittleren Ostens nach dem Modell der Europäischen Gemeinschaft, die das ehemalige Nazideutschland aufnahm – mit Israels fünf Nachbarstaaten: Libanon, Syrien, Jordanien, ein voll anerkanntes Palästina und Ägypten und mit einem Israel, das ehemals unnachgiebig und zionistisch war.

Punkt 5: Während du die Besatzung bekämpfst, bringe Ordnung in dein Haus!

Gandhi bekämpfte das Englische Imperium und kämpfte für die swaraj. Aber das hinderte ihn nicht, sich auch der Krankheiten der eigenen Mutter Indien anzunehmen, wie der Unberührbarkeit, der Diskriminierung der Frauen und der Misere. Aber auch der wachsenden Kluft zwischen Hindi und Muslims, die schließlich zur Teilung führte. Die unheilvolle Grenzziehung, die vom letzten Vizekönig, Lord Mountbatten, vorgeschlagen worden war, endete in einem Blutbad und wurde zum Trauma, das über Generationen den Kaschmirkonflikts belastete.

Die Tatsache, dass auch die Kolonialherren die Unberührbarkeit und Frauendiskriminierung kritisierten und die extremste Form die suttee (Selbstverbrennung von Witwen, A.d.Ü) verboten, hinderte Gandhi nicht daran, sich selbst gegen diese sozialen Plagen zu wenden. Er hielt nichts von der billigen Logik, die dem Hauptgegner abspricht, dass er auch Wahrheiten sagen könnte. Viele Menschen, denen es an Reife fehlt, werden zum Opfer von Polarisierung. Er verurteilte das Kastensystem nicht deshalb, weil die Kolonialherren es oft als Teile-und-herrsche-Taktik nutzten um Indien zu beherrschen, sondern weil das Kastensystem an sich ein Übel ist.

Aber zurück zu den Besatzern und Besetzten: was könnten sie von Gandhi lernen, außer Gewalt mit Gewaltlosigkeit zu ersetzen?

Die USA müssen sich energisch dafür einsetzen den Lebensstandard der unteren 50Prozent der Gesellschaft zu erhöhen, die Kluft zwischen Reich und Arm zu verringern, den Ureinwohnern, den Inuit und den Hawaiianern ihre Würde zurückzugeben, die Diskriminierung zu beseitigen, die Entfremdung und die Angst, die mit Gewalt und Drogenkonsum einhergeht zu vermindern –obwohl das viele, die das US-Imperium hassen, ebenfalls sagen.

Israel muss arabischen Israelis gleiche Bürgerrechte geben, die Kluft zwischen Reich und Arm, zwischen sephardischen und aschkenasischen Juden und anderen Gruppen verkleinern, die Korruption und den grenzenlosen Hedonismus, der die Gesellschaft auseinanderreißt verringen – auch wenn viele davon sprechen, die den unnachgiebigen Zionismus hassen.

Im Irak müssen Sunniten ihr Ziel aufgeben, das Land von Bagdad aus zu regieren, Kurden und Schiiten müssen gewaltlos für ihr unveräußerliches Recht kämpfen, die Grenzen für andere Kurden und schiitische Araber zu öffnen, alle zusammen müssen sie die Einheit in der Unterschiedlichkeit finden, irgendwo zwischen einer Föderation und Konföderation, sie müssen Errungenschaffen bewahren, wie sie unter Hussein geschaffen wurden, wie Bildung, den Wohlfahrtsstaat, freie Wahl der Frauen das Kopftuch zu tragen oder eben nicht – auch wenn Saddam das so wollte.

Afghanistan muss von den Afghanen geführt werden. Aber es muss einen Pakt eingehen mit den Ländern des Drogenkonsums: wir reduzieren das Angebot, ihr reduziert die Nachfrage durch die Schaffung humanerer Gesellschaften. Und wir kontrollieren uns gegenseitig – auch wenn die Invasoren und die Taliban davon reden.

In Palästina muss der Kampf der Hamas gegen die Korruption weitergeführt werden, die Gesellschaft muss sich erneuern, den nicht-muslimischen Palästinensern müssen gleiche Rechte eingeräumt werden und der Kampf für die Gleichberechtigung der Frauen auf der Basis des Koran muss energisch weitergehen.

Saudi-Arabien muss versuchen, die Kluft zwischen Wahhabismus und westlichem Materialismus zu überbrücken, es muss an der vordersten Front stehen bei der Suche nach alternativen, umweltschonenden und nachhaltigen Möglichkeiten der Umwandlung von Energie, den Kampf für die Gleichberechtigung der Frauen auf der Basis des Koran energisch weiterführen, und es muss nicht-westliche Formen der Demokratie prüfen.

Es gibt so viel zu tun! Die Frage ist, wie können die Energien, die durch einen Konflikt entstehen so gelenkt werden, dass sie beiden Seiten zum Vorteil werden. Die drei (einhalb) Besatzungen müssen beendet werden. Die Invasoren müssen nach Hause gehen und ihre imperialen Strukturen abbauen. Beide Seiten müssen von der verhängnisvollen Fessel des Imperialismus befreit werden. Den Kampf in der Art Gandhis führen, Energien positiv nutzen, es wäre für beide Seiten von großem Nutzen.

Gewaltlosigkeit hätte den Irakern geholfen gegen Hussein und würde ihnen helfen gegen Bush, den Afghanen gegen die Invasoren, den Palästinensern innerhalb und außerhalb Israels gegen den unnachgiebigen Zionismus und den Saudis viel mehr als der gewalttätige 9.11. (eine außergerichtliche Exekution und Zerstörung von zwei Gebäuden wegen Sünden gegen Allah?)

Um es noch einmal zu wiederholen, Gandhi benutzte diese fünf Herangehensweisen um Konflikte konstruktiv zu bewältigen:
  • Punkt 1: Fürchte niemals den Dialog
  • Punkt 2: Fürchte niemals den Konflikt. Er birgt mehr Möglichkeiten als Gefahren.
  • Punkt 3: Kenne die Geschichte, oder du bist dazu verdammt, sie zu wiederholen (Burke)
  • Punkt 4: Stell dir die Zukunft vor, sonst erreichst du sie nie.
  • Punkt 5: Während du die Besatzung bekämpfst, bringe Ordnung in dein Haus!
Wie Sonia Gandhi heute morgen in ihrer Rede zum Abschluss des ersten Internationalen Tages der Gewaltlosigkeit sagte: Lasst uns die Gewaltlosigkeit annehmen, lasst uns zu wahren Menschen werden. Dank an Indien, das Gandhi und die Gewaltlosigkeit auf die politische Tagesordnung gesetzt hat!

Übersetzung aus dem Englischen: Doris Pumphrey

* Rede des alternativen Friedens-Nobelpreisträgers Johan Galtung zum Tag der Gewaltfreiheit. Die Rede Galtungs wurde erstmals in einer deutschen Übersetzung im "Neuen Deutschland" vom 20. Oktober 2007 veröffentlicht.



Zurück zur Seite "Konfliktbearbeitung"

Zur Seite "Friedensbewegung"

Zur Indien-Seite

Zurück zur Homepage