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Protest im Bella Center

Beim Klimagipfel machen Vertreter kleiner Staaten auf ihr existenzielles Anliegen aufmerksam

Von Susanne Götze, Kopenhagen *

Seit Montag (7. Dez.) wird in Kopenhagen über ein neues Klimaschutzabkommen verhandelt. Parallel zur UN-Konferenz trifft sich die Zivilgesellschaft zum Gegengipfel.

Baby Mohite ist aus dem Müll nach Kopenhagen gekommen. Die Bewohnerin eines Armenviertels im indischen Pune, einem Vorort von Mumbai, will auf der UN-Klimakonferenz für ihren Beruf kämpfen: »Ich bin Müllsammlerin, und gesammelter Müll vermindert Treibhausgase.« Die 38-Jährige steht fröstelnd in ihrem bunten Sari vor dem Kopenhagener Bella Center, in dem seit Montag »COP15« stattfindet. Mohite wartet mit ihrer Übersetzerin in der Warteschlange auf eine Akkreditierung. Sie will sich über europäische Unternehmen beschweren, die in Indien Müllverbrennungsanlagen bauen. Dies schade den Müllsammlern und dem Klima.

16 000 Teilnehmer aus über 190 Ländern

16 000 Menschen aus der ganzen Welt haben sich angemeldet: Delegierte aus über 190 Ländern, Aktivisten, Beobachter und Journalisten wollen dabei sein, wenn die Welt gerettet wird – oder eben nicht. Täglich kommen hunderte neue Teilnehmer an, um an dem historischen Event teilzunehmen. Doch die meisten glauben nicht, dass sich die Staaten auf ein Abkommen einigen werden. Dabei gibt es Niemanden im Konferenzzentrum, der nicht betonen würde, wie wichtig bindende, ehrgeizige Ziele für die Eindämmung der globalen Erwärmung sind. Und niemand bestreitet hier, dass alles andere unverantwortlich wäre.

Für viele Teilnehmer ist es weit mehr als ein Treffen der Männer in Grau, die nach zähen Debatten ihre Daumen heben oder senken. Es geht um die Existenz von Millionen Menschen, um die Unwiederbringlichkeit von biologischen Arten und ganzen Ökosystemen.

Keiner hat das in der ersten Verhandlungswoche so deutlich gemacht wie Tuvalu. Der viertkleinste Staat der Welt mit gerade einmal 12 000 Einwohnern hat ein Problem: Die südpazifische Inselgruppe wird bald untergehen. Deshalb ist Tuvalu mit 19 Delegierten in Kopenhagen vertreten – zum Vergleich: Die USA haben 198 Delegierte vor Ort. Gleich in den ersten Tagen sorgte der Inselstaat für großen Wirbel: In einem Antrag forderte er, die globale Erwärmung auf maximal 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Ebenso wie die afrikanischen Staaten hält man das bisher gültige Zwei-Grad-Ziel, auf dessen Basis die Industriestaaten verhandeln wollen, für unzureichend. Die dänische Sitzungspräsidentin Connie Hedegaard lehnte den Vorschlag von Tuvalu ab – wegen massiven Widerspruchs insbesondere von erdölproduzierenden Ländern. Auch China und einige Entwicklungsländer lehnten den Vorschlag ab, da sie sich für das 1,5-Grad-Ziel zu starken Emissionsreduktionen verpflichten müssten. Für eine Änderung wären die Stimmen aller Länder nötig gewesen.

Doch Tuvalu gibt nicht auf. Das kleine Land hat zwar keine Chance, so spielt es den Don Quichotte. Und hat die Unterstützung der Klima-Aktivistenszene, die im Bella Center genauso vertreten ist wie vor den Toren der Konferenz. So kam es am Mittwoch zur bisher größten Demonstration – direkt vor den Türen des großen Plenarsaals, in dem die Delegierten verhandelten. Der Lärm der 300 Klimaschützer, die lautstark »Tuvalu« und »Survival« schrien, war so groß, dass die Sitzung unterbrochen werden musste.

Laut wurde es auch, als Afrikaner ihrer Wut über die Tatenlosigkeit der Industriestaaten freien Lauf ließen. Die Panafrikanische Allianz für Klimagerechtigkeit zog mit gereckten Fäusten und ohrenbetäubende Sprechchöre skandierend durch die Hallen des Centers. »Zwei Grad ist das Todesurteil für Afrika«, erklärte der afrikanische Verhandlungssprecher Lumumba Di-Aping.

Das UN-Klimasekretariat handelte sofort: Der Zugang zur Haupt-Verhandlungsstätte wurde stark eingeschränkt. Man richtete eine Schleuse ein, um sich weitere Spontandemos vom Leib zu halten. Außerdem beschränkten die Hausherren die Protestmöglichkeiten am Versammlungsort: Nichtregierungsorganisationen berichten, dass die Zahl ihrer Vertreter schrittweise beschränkt würde. »Diese Konferenzen waren immer ein sehr lebendiger Ort der globalen Zivilgesellschaft. Aber das wird jetzt stark bedroht. Wir dürfen keine Aktionen mit Fahnen machen, die einzelne Länder oder die Weltbank kritisieren«, beschwerte sich der Klimadirektor von Friends of the Earth, Asad Rehman.

Tuvalu legte die Verhandlungen lahm

Tuvalu hat es trotzdem geschafft, die Verhandlungen lahmzulegen, zumindest vorübergehend. Das Land bestand auf der Einrichtung einer »Kontaktgruppe«, die prüfen soll, ob die USA und die EU nach Artikel 20, Paragraf 3 des bestehenden Kyoto-Protokolls zu neuen Reduktionspflichten nach 2012 verpflichtet werden können. Solange diese Gruppe zu keinem Ergebnis kommt, sind die Verhandlungen ausgesetzt. Das halten viele Teilnehmer für unproduktiv, schließlich bleibt nur noch eine Woche bis zum Abschluss der Konferenz. Auf den Einwand von Sitzungspräsidentin Hedegaard, man habe keine Zeit für solche »Spielchen«, antwortete der tuvaluische Delegationsleiter Ian William Fry: »Madame, das ist kein Quatsch, hier geht es ums Überleben.«

Einfach abwarten wollen auch die zahlreichen Aktivisten nicht, die zum Protest gegen die diplomatischen Tippelschritte beim galoppierenden Klimawandel gerufen haben. Wenige Metrostationen vom UN-Konferenzzentrum entfernt, tagt ebenfalls seit Montag das alternative »Klimaforum«, eine Art Gegengipfel. Es ist offen für jedermann und jede Frau. Eine andere Welt, barrierefrei, ist seine Idee. Dafür wird es langsam eng. Von Tag zu Tag reisen mehr Menschen an, die mitdiskutieren, mitdemonstrieren und mitblockieren wollen. Während man bislang meistens auf Workshops und Vorträgen saß, soll mit der heutigen (12. Dez.) Großdemonstration der Startschuss für die lautstarke Protestphase fallen. Bei eisigem Wetter soll stundenlang der Hafen blockiert und zum Sturm auf das Bella Center geblasen werden.

Der Kopenhagener Polizei ist ihre Nervosität anzumerken: Immer mehr Uniformierte säumen die Straßen rund um das Konferenzzentrum. Das Gelände ist weiträumig mit Stacheldraht und Zäunen abgesperrt. Vor einigen Tagen drangen Polizisten in Kampfausrüstung nachts in ein Quartier angereister Aktivisten im Stadtteil Nørrebro ein und durchsuchten das Gebäude, in dem etwa hundert junge Leute schliefen. Die Organisation Climate Justice Actions warf den dänischen Behörden daraufhin »aggressives und konfliktorientiertes Verhalten« vor.

Geburtsstunde der Klimabewegung?

Die Teilnehmer des Gegengipfels lassen sich nicht einschüchtern. Viele sind »gipfelerprobt« und kennen das Prozedere von unzähligen Protesten gegen G8-, G20-, WTO- oder IWF-Treffen. Ob sie den Klimagipfel tatsächlich zu einem neuen Seattle machen, wie es die globalisierungskritische Ikone Naomi Klein prophezeit, wird sich zeigen. Die Proteste in der US-Stadt vor zehn Jahren gegen eine Konferenz der Welthandelsorganisation wurden zur Geburtsstunde der globalisierungskritischen Bewegung erklärt. Nun hoffen viele auf eine starke Klimabewegung: »Es geht darum, das zu verteidigen, was zu wertvoll für den Markt ist – das haben wir vor zehn Jahren getan und das tun wir heute«, so Naomi Klein am Montag bei der Eröffnung des Alternativgipfels. Die Protestszene müsse offensiv Verantwortung einfordern: dafür, dass die Industrieländer ihre historische Klimaschuld bezahlen. Klein spricht aus, was viele denken: »Im Bella Center findet eine Konferenz statt, die die Welt retten soll – und von vornherein zum Scheitern verurteilt wurde.« Was auf den Tischen der Delegierten liege, sei nicht annähernd ausreichend, um den Klimawandel aufzuhalten.

Das wissen auch die Entwicklungsländer und das schürt Wut – auch im Bella Center: Afrikaner, Chinesen, Inder, Indonesier und Tuvaluer sind nach Kopenhagen gekommen, um über Dürren, Wassermangel und steigenden Meeresspiegel zu berichten. Und eines ist sicher: Auch wenn sich die Industrieländer weiter vor ihrer Klimaschuld drücken: Beim Klimawandel sitzen alle in einem Boot – und das Wetter schlägt gerade um.

* Aus: Neues Deutschland, 12. Dezember 2009

Letzte Meldungen

100.000 Menschen bei Großdemonstration **

Fast 100 000 Klima-Demonstranten und eine überharte dänische Polizei: Vor dem Endspurt beim UN-Klimagipfel haben Menschen aus aller Welt am Samstag den in Kopenhagen versammelten Politikern ihre Forderung nach einem ehrgeizigen Klima-Abkommen präsentiert. Diesen Artikel weiter lesen

Für Misstöne sorgte vor allem die dänische Polizei, die knapp tausend Demonstranten «vorbeugend» festnahm und bei Frost stundenlang gefesselt auf der Straße sitzen ließ. Die Polizei entschuldigte sich für die «unverhältnismäßig lange Zeit» bis zum Transport der festgenommenen Demonstranten vom Ende des riesigen Zuges in einen Massen-Arrest. Augenzeugen berichteten von Ohnmachtsanfällen der bitter frierenden Gefesselten, die nicht einmal auf die Toilette gehen konnten. Am Sonntag waren von 968 Festgenommenen bis auf zwei Dänen und einen Franzosen alle wieder auf freiem Fuß. Nur gegen die drei gab es einen konkreten Verdacht.

Trotz Winterkälte marschierten am Samstag bis zu 100 000 Klima- Aktivisten aus Kopenhagens Innenstadt zum sechs Kilometer entfernten Konferenzzentrum «Bella Center». Dort wollen bis Freitag 192 Länder, davon 115 mit ihren Staats- und Regierungschefs, ein Abkommen über die Begrenzung des global bedrohlichen Temperaturanstiegs durch Treibhausgas-Emissionen aushandeln.

«Ihr habt recht, es ist genug geredet. Jetzt müssen wir handeln», rief die dänische Präsidentin des Klimagipfels, Connie Hedegaard, den Demonstranten zu, als sie deren Forderungen aus der Hand der irischen Ex-Präsidentin Mary Robinson entgegennahm. Neben den Begrenzungen der Emissionen stand schnelle und umfassende Hilfe für die Entwicklungsländer im Vordergrund.

Die Demonstranten hatten sich zunächst bei Sonnenschein vor dem dänischen Parlament versammelt und dabei freundliche Volksfeststimmung mit ernstem Inhalt verbreitet. «Wie lange wollen die Staatsführer noch zulassen, dass Menschen bei uns durch den Klimawandel sterben?», rief die Sängerin Angelique Kidjou aus dem westafrikanischen Benin von der Rednerbühne.

Das dänische Ex-Supermodel Helena Christensen verlangte vor allem von US-Präsident Barack Obama weiterreichende Klima-Zusagen, wenn er am Freitag persönlich bei der Konferenz in Kopenhagen mit Vertretern der anderen 191 Staaten ein neues Klima-Abkommen aushandelt: «Die USA müssen einsehen, dass sie mit ihrer Macht enormen Einfluss darauf haben, was im Klimaschutz passieren kann.»

Auslöser für die massive Polizeiaktion waren Steinwürfe einer kleinen Gruppe am Ende des Demonstrationszuges. Dabei erlitt ein Polizist leichte Verletzungen im Gesicht. Mehrere Fenster der alten Börse gingen zu Bruch. Vor dem «Freistaat Christiania», einem seit mehr als drei Jahrzehnten besetzt gehaltenen Kasernengelände, zündeten die Randalierer vier Autos an.

Mehr als 950 Demonstranten in Kopenhagen wieder auf freiem Fuß

Nach den Massenfestnahmen am Rande der Großdemonstration von Klima-Aktivisten in Kopenhagen sind die meisten der mehr als 950 Festgenommenen wieder auf freiem Fuß. Es seien noch 13 der zunächst 968 Festgenommenen in Haft, teilte die dänische Polizei am Samstag mit. Drei von ihnen, zwei Dänen und ein Franzose, sollten wegen Gewalt gegen Polizisten dem Haftrichter vorgeführt werden.

Veranstalter der Klimaproteste kritisieren dänische Polizei

Nach den Massenfestnahmen am Rande der Klima-Großdemonstration in Kopenhagen haben die Veranstalter der dänischen Polizei "Verletzung von Menschenrechten" vorgeworfen. Die Beamten hätten wahllos hunderte Demonstranten festgenommen, erklärte der Zusammenschluss von Umweltaktivisten, Climate Justice Action. Nach seinen Angaben wurden rund hundert von ihnen trotz der großen Kälte weiterhin in den Straßen der dänischen Hauptstadt festgehalten, "gefesselt und in sitzender Position aufgereiht".

Die dänische Vorsitzende des Klimagipfels, Connie Hedegaard, bezeichnete die Demonstrationen als großen Erfolg. Angesichts der wachsenden weltweiten Mobilisierung der Menschen für mehr Klimaschutz sei der "politische Preis" eines Scheiterns inzwischen so hoch, dass sich die "politischen Führer sorgfältig überlegen werden, ob sie diesen Preis zu zahlen bereit sein werden", sagte sie auf einer Pressekonferenz.

Rund 200 Festnahmen bei neuen Protesten in Kopenhagen

Am Rande des Klimagipfels in Kopenhagen hat die Polizei am Sonntag eine Demonstration aufgelöst und etwa 200 Menschen festgenommen. Mehrere Gasmasken und andere verbotene Gegenstände seien beschlagnahmt worden, sagte ein Polizeisprecher der Nachrichtenagentur AFP. An der Demonstration, zu der das Aktionsbündnis Climate Action Justice aufgerufen hatte, nahmen den Angaben zufolge mehrere hundert Menschen teil. Einige von ihnen waren vorübergehend bereits am Samstag in der dänischen Hauptstadt festgenommen worden. Zahlreiche Demonstranten waren laut Polizei vermummt und skandierten anti-kapitalistische Parolen.

** Quelle: Nachrichtenagenturen dpa, Ap, ddp und AFP vom 12. und 13. Dezember 2009




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