"Eine wunderbare Lehrerin, die mir nie mein rotzfreches Geschwätz verbat, mich aber zur Klärung nötigte"
Dorothee Sölle über ihre Lehrerin Marie Veit
Am 14. Februar 2004 starb Prof. Dr. Marie Veit im Alter von 82. Jahren. Für viele Menschen war sie ein Vorbild in der Arbeit für Frieden und Gerechtigkeit. Sie nannte Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit beim Namen. Sie stellte sich stets auf die Seite der Benachteiligten und Unterdrückten und lebte im besten Sinne eine Theologie "von unten". Marie Veit stand auch Pate bei der Gründung des Friedenspolitischen Ratschlags 1994 in der Universität Kassel.
Alois Reisenbichler aus Wien hat uns auf ein Kapitel in Dorothee Sölles Memoiren "Gegenwind" aufmerksam gemacht, das im Folgenden an Stelle eines Nachrufs auf Marie Veit dokumentiert wird.
Im Anschluss daran dokumentieren wir noch einen Nachruf-Artikel aus der "Oberhessischen Presse".
Marie Veit
Bereits in den letzten Schuljahren war ich sehr fasziniert von einem
nicht
kirchlichen, aber radikalen Christentum. Ich hatte eine
Religionslehrerin,
die einen phantastischen, begeisternden Religionsunterricht gab und mir
in
dieser Frage viel geholfen hat: Marie Veit. In meinem Tagebuch aus jenen
Jahren steht der mich heute erheiternde Satz: "Die neue Religionslehrerin
ist umwerfend gut, leider Christ!" Das zeigt meine achtzehnjährige
Arroganz,
meine Vorstellung, Christen seien eben dumm, zurückgeblieben, feige und
unklar. Bis ich mir zugab, dass das, was mich da faszinierte, viel
stärker
war als meine Weisheit, dauerte es noch einige Zeit. Auf dem Weg nach
Athen
merkte ich plötzlich, dass ich eigentlich nach Jerusalem wollte. Von
Anfang
an.
Marie Veit gehört zu den besten Theologinnen deutscher Sprache; das
bedeutet
in ihrer (und meiner) Generation, dass sie in der Bundesrepublik nicht
die
Karriere, die ihr zukäme, gemacht hat. Frauenspezifisch ist die
Verzögerung:
Erst relativ spät erreichte sie den Übergang von der Schule zur
Hochschule,
und noch zurückhaltender war sie mit Veröffentlichungen.
Marie Veit ist - und war schon, ehe das Wort aufkam - eine Theologin der
Befreiung. Nicht im Sinne eines lateinamerikanischen Imports, sondern im
Sinne der Notwendigkeit eines anderen Christentums nach der Erfahrung des
deutschen Faschismus. In dieser historischen Situation habe ich sie
erlebt,
als sie 1947 in die Unterprima unseres Mädchengymnasiums in Köln trat,
wenige Jahre älter als wir, bei Rudolf Bultmann promoviert, eine äußerst
unbestechliche, exakte, Denkanstrengung und Redlichkeit fordernde und
vorlebende Lehrerin.
Sie hatte eine unnachahmliche Art, meinen Unwillen gegen das Christentum
zu
unterlaufen, indem sie höflich fragte, ob ich denn Paulus meine oder
Luther
oder die Evangelien, wenn ich Jenseitsgesäusel oder hündische Demut
attackierte. Eine wunderbare Lehrerin, die mir nie mein rotzfreches
Geschwätz verbat, mich aber zur Klärung nötigte. Heute denke ich, sie hat
meiner Zorn respektiert und meine Arroganz belächelt, sie hat unsere
Intelligenz herausgefordert, weil sie Menschen einfach zutraute, dass sie
der Erkenntnis und des Gewissens fähig sind.
So lasen wir damals, frierend und für Schulspeisung dankbar, Heidegger
und
Sartre, Bonhoeffer und Paulus und später nach der Schule Herbert Marcuse
und
Freud. Jahre später begründeten wir den Ökumenischen Arbeitskreis in
Köln,
aus dem sich dann das Politische Nachtgebet entwickelte. Marie Veit war
eine
der "Säulen" dieser Gruppe, in Rat und Tat, Sachkenntnis und
theologischem
Wissen, Organisation und Aktion. Ich erinnere mich auch an ihre
unnachahmliche Fähigkeit, älteren Gemeindemitgliedern den Unterschied
zwischen christlichem Glauben und bürgerlicher Wohlanständigkeit nahe zu
bringen.
Marie Veits Stellungnahme zu den großen Auseinandersetzungen zwischen den
Armen und den Reichen, den Waffenlosen und den Rüstungsprofiteuren, dem
biblischen Glauben und der an der Macht teilhabenden Kirche ist seit
Jahrzehnten gewachsen und erprobt. Sie denkt parteilich. "Bürgerlich" ist
an
ihr nur die Genauigkeit, die Präzision, die wissenschaftliche
Zuverlässigkeit und eine sozusagen frühbürgerliche Bescheidenheit der
Ausdrucksweise.
In den letzten Jahren ist mir meine alte Schullehrerin, ohne die ich nie
zur
Theologie gekommen wäre, immer mehr Vorbild als eine Lehrerin der
Hoffnung
geworden.
Textauszug aus: Dorothee Sölle. Gegenwind. Erinnerungen. Hamburg 1995. (Hofmann und Campe), S. 38-40
Ein Leben für den Frieden:
Marburg. Über Jahrzehnte hat die gebürtige Marburgerin Marie Veit im Stadtteil Richtsberg gewohnt. Am 14. Februar starb sie im Alter von 82 Jahren in Köln.
Der Vater von Marie Veit lehrte an der Philipps-Universität. Ein Ruf nach Köln auf den Lehrstuhl für Anatomie war der Grund, dass die Familie 1925 Marburg verließ. Marie Veit, Jahrgang 1921, studierte und promovierte in Marburg, doch aus familiären Gründen ging sie zurück nach Köln. Dort unterrichtete sie an einem Mädchengymnasium. Nach jahrzehntelanger Unterrichtspraxis und verantwortlicher Tätigkeit in mehreren Gremien erhielt sie einen Ruf für Fachdidaktik Religion an die Universität Gießen. Als Wohnort wählte sie Marburg.
Marie Veit wirkte nicht nur als Theologieprofessorin, ihr Engagement strahlte bald in die Öffentlichkeit aus. Sie hielt Vorträge und Gottesdienste, sprach auf Kirchentagen und auf den Podien der Friedensbewegung. Wer sie kannte, weiß: Sie konnte so wunderbar erklären. Bei einer Veranstaltung des neugegründeten Marburger Forums im Mai 1981 saß Marie Veit auf dem Podium. In der Pause diskutierten einige Teilnehmer die Frage: "Warum soll es nicht auch eine christliche Friedensinitiative in Marburg geben?" Marie Veit antwortete, indem sie die Christliche Friedensinitiative mitbegründete.
1996 wurde in der Alten Aula der Philipps-Universität Marie Veits Goldenes Doktorjubiläum gefeiert. Sie legte Rechenschaft ab über ihren wissenschaftlichen Weg seit ihrer Promotion bei dem von ihr verehrten Lehrer Rudolf Bultmann.Zu den Menschen im Stadtteil Richtsberg hatte sie eine enge Beziehung. Marie Veit vertrat den Pfarrer und leitete einen Bibelkreis. Auch viele der am Richtsberg lebenden Russlanddeutschen kamen zu ihr in den Bibelkreis und in die Kirche.
Aus: Oberhessische Presse (Online-Ausgabe)
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