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"Um eine andere Welt". Dorothee Sölle und die "Pax Americana":

Der ungebrochene Widerstand einer protestantischen Mystikerin

Den folgenden Text hat uns dankenswerterweise Alois Reisenbichler zur Kenntnis gebracht. Vielen Dank dafür. Der Artikel erschien vor wenigen Tagen in "Die Furche" (katholische Wochenzeitung, Wien).


Von Dolores M. Bauer

Das Lied der Erde singen, in einer Welt der Gewalt! - So lautete der Titel des Programms, mit dem die bekannte protestantische Theologin und Schriftstellerin Dorothee Sölle und die Musiker der "Grupo Sal" kürzlich in Wien und Wiener Neustadt gastierten. Lateinamerikanische Musik vom Feinsten voller Kraft und Lebensfreude, die sich ungebrochen auflehnt gegen die Realität der Ausgrenzung und Verelendung und dazu die weiche, zuweilen fast zerbrechlich wirkende Stimme der Autorin, die ihre harten, kantigen aber auch sehr liebevollen Texte auf ihre ganz eigene, unnachahmliche Weise vortrug. Ein faszinierender, dichter Abend, dessen innerer Spannung sich niemand aus dem Publikum entziehen konnte.

Dorothee Sölle, inzwischen 73 Jahre alt, hat nichts von ihrer Wortgewalt verloren, nichts von ihrer Offenheit, ihrem Mut, die Dinge beim Namen zu nennen, deutlich zu sagen, was andere kaum zu denken oder nur hinter vorgehaltener Hand auszusprechen wagen. Der Titel ihres Hauptwerkes, wie sie es bezeichnet, "Mystik und Widerstand" war in jedem Wort präsent. Alles in allem: eine kämpferische, eine streitbare Tochter Gottes, als die sie ja schon immer bekannt war, schon aus den Zeiten der berühmten "Kölner Nachtgebete", die ihrer kirchlichen Karriere in Deutschland nicht gerade förderlich waren.

Ob sie das Buch auch heute noch so schreiben würde, fragte ich Dorothee Sölle. Die Antwort kam prompt: "Ja, natürlich, das würde genauso aussehen, denn ich habe die schlimmen Folgen der Globalisierung ja schon damals angeprangert. Ich habe schon damals gegen diese schreckliche Entsolidarisierung, gegen diese Individualisierung angeschrieben, in der der Nächste keinen Platz mehr hat."

Das amerikanische Stigma

Und dann erzählt sie von einem Text unter dem Titel "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst", den sie erarbeiten sollte. Sie habe sich dafür 40 Aufsätze aus der neueren theologischen Literatur ausgehoben und festgestellt, dass in 36 Fällen nur noch drei Wörter vorgekommen sind, nämlich "wie dich selbst". Zwischen den brennenden Fragen: "Wie akzeptiere ich mich?", "Wie gehe ich mit mir um?", "Wie finde ich mich schön" et cetera, hatte ein Nächster, welcher auch immer, ob nahe oder fern, überhaupt keine Chance mehr. Diese Individualisierung ist in den Augen von Sölle natürlich nur eines der Stigmata unserer heutigen Gesellschaft, die vor allem vom American way of life geprägt ist, den sie ja aufgrund ihrer Lehrtätigkeit in den USA gründlich kennen gelernt hat. Auf das, was seit dem 11. September in den USA läuft, angesprochen, meint sie achselzuckend: "Ich kann das überhaupt nicht fassen.

Alle meine Freunde sind sprachlos, verstummend vor der ungeheuren Wirkung, die diese massiven Verblödungsinstrumente, unter denen sie und letztlich wir alle leben, gezeitigt haben. Geist, Nachdenken, Fragen, Nachfragen, das verliert sich und was anderswo läuft, wie es anderen geht, wie andere diese neue Pax Americana erleben, das wird überhaupt nicht mehr wahrgenommen. Es gibt Leute, die sind hochintelligent und gebildet aber gleichzeitig völlig blind."

Im Grunde nur ums Geld.

Was Dorothee Sölle vor allem Sorgen macht, ist die Tatsache, dass sich der Bazillus dieser - so wörtlich - "totalitären Pax Americana" auch in Europa ausbreitet, auch hier - und sie verweist auf das Beispiel eines italienischen Journalisten, der wegen regierungskritischer Äußerungen zu einer hohen Geldstrafe verurteilt worden ist - geht es in vielen Fällen schon nicht mehr um Recht, nicht mehr um Wahrheitsfindung, sondern nur mehr um Claims, nur mehr um Schadenersatz, im Grunde nur mehr um Geld.

Diese Ausdünnung der Rechtsstaatlichkeit, die Aushöhlung der Demokratie, die Vergötzung des Kapitals, die wachsende Ungerechtigkeit, die Selbstbereicherung der Reichen, die Verelendung der Massen, all das, was Papst Johannes Paul II. unter dem Begriff "Strukturen der Sünde" subsumieren mag, prangert auch die evangelische Theologin mit scharfen Worten an und beklagt die mangelnden Widerstandskraft der Kirchenführungen und der Christen überhaupt: "Wir äußern uns viel zu gemessen, viel zu vorsichtig, zu ängstlich vor der Macht der scheinbar Mächtigen. Wir müssten uns wieder der Kraft bewusst werden, die im Glauben steckt. Ich meine, wir streiten uns um nebensächliche Dinge wie darüber, ob wir Christen gemeinsam Mahl halten dürfen oder nicht, statt endlich Hand in Hand dagegen aufzutreten, dass man unsere Welt- und Zeitgenossen ins Elend treibt und vor unseren Augen unsere Mutter Erde ausbeutet. Aufstehen sollten wir gegen die Lizenz zur Plünderung, gegen die Lizenz zum Töten, gegen den Freibrief zum Krieg, denn in diesen Strukturen der Sünde wollten wir den eigentlichen Terror erkennen."

Aber es wäre nicht Dorothee Sölle, würde da nicht auch die Kraft der Hoffnung durchschimmern, die sich am Kleinen, an der bunten Vielfalt der Basisbewegungen festmacht, denen wenig Raum in den Medien gegeben wird.

Sie bringt das in das folgende Bild: "Ja, es gibt sie doch immer wieder, diese wunderbaren kleinen Blumen, die irgendwo aus dem Beton wachsen. Das ist ja in der Bibel auch so: Jesus hat nicht die Ägyptische Augenkrankheit, die es auch damals schon gegeben hat, einfach abgeschafft, einfach weggezaubert, sondern er ist auf einzelne Menschen zugegangen, hat sich ihnen ganz und persönlich zugewendet und hat einige Blinde geheilt, einige von mehreren tausend. So ähnlich ist auch heute. Da gibt es vereinzelt zum Beispiel in Israel und Palästina Gruppen, die sich zusammentun, um Menschen in eingeschlossenen Dörfern Hilfe zu bringen und die dann auch, Israelis und Palästinenser gemeinsam, miteinander ein Fest feiern. Ja, das gibt es und vieles andere mehr, überall auf Gottes im Grunde wunderbarer Welt."

Und Dorothee Sölle verweist auf ihre Erfahrungen mit den so genannten Globalisierungsgegnern, in denen ihrer Meinung nach ein großes Hoffnungspotenzial lebt: "Es war doch im Dezember 1999 in Seattle dieser Protest gegen die Welt-Besitzer. Das war doch etwas ganz Neues, etwas Lebendiges, wie dann auch in Pôrto Alegre und jetzt in Florenz. Da geht etwas weiter, da verändert sich etwas, da ist ein Hauch von lebbarer Zukunft erkennbar. Und dann diese wunderbaren Sätze: ,Eine andere Welt ist möglich', oder ,The World is not for Sale', wie die Herren der Welt meinen - das sind doch Sätze, die auch in der Bibel stehen könnten. Diese Leute haben viele Sätze, die ganz einfach klingen und die eine Lebensfrömmigkeit ausdrücken, die ich unglaublich finde, weil sie meinen, angesichts des totalitären System das uns übergestülpt wird, wuchernden Pessimismus aufhellt."

Alte Kämpferinnen

Dann erzählt sie noch von einem Nachtgebet, das sie gemeinsam mit zwei anderen alten Kämpferinnen aus der Zeit des "Gleichgewichts des Schreckens" in diesem Jahr in Köln veranstaltet hat. An diesem Abend hätte eine Gruppe Jugendlicher in der Kirche einen Wegweiser aufgestellt. Der eine Balken zeigte die Inschrift: WTO ( World Trade Organisation) und in der Gegenrichtung stand der Begriff Demokratie. Junge Menschen also, und das imponierte ihr, die verstanden haben, dass diese beiden Begriffe nicht vereinbar sind.

Und so heißt das dann im Klartext: "Diese junge Generation, von der wir meinen, dass sie nur von cash und fun besessen ist, ist dabei aufzuwachen. Das passiert jetzt. Es ist schon so, ganz lässt sich die Wahrheit nicht totschweigen. Sie geht auf leisen Sohlen und manchmal in seltsamen Verkleidungen herum, aber sie macht sich immer wieder bemerkbar. Dass der Widerstand gegen den Terror der Ökonomie wächst, davon bin ich überzeugt."

Das Gesicht unter dem glatten weißen Haar lächelt mich an, eine Hand legt sich auf meinen Arm, so als würde mir dieser tapfere Mensch sagen wollen: "Komm, wir beide wissen es doch aus unserem Glauben heraus schon längst: Eine andere Welt ist möglich."

Aus: Die Furche, Katholische Wochenzeitung, Wien, 19. Dezember 2002

Die Autorin des Artikels hat im Sommer ein lesenswertes Buch über den Nahost-Konflikt veröffentlicht:
Dolores M. Bauer: Israel/Palästina. Wenn aus Opfern Täter werden. Berichte, Gespräche, Begegnungen. EDITION VA BENE, Wien-Klosterneuburg 2002


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