160 000 fordern: Abschalten!
Anti-AKW-Bewegung wertet neue Protestaktionen als Erfolg – FDP und Kraft auf Atomkurs
Von Reimar Paul *
Mit Demonstrationen in mehr als 20 Städten hat die Anti-Atom-Bewegung im Poker um AKW-Laufzeiten am Sonnabend erneut Flagge gezeigt und ihre Forderung nach sofortiger Abschaltung aller Reaktoren bekräftigt. Gleichzeitig blieb die von der Bundesregierung eingesetzte Ethikkommission bei ihrer letzten Sitzung bei der Empfehlung, dass die letzten Meiler erst 2021 vom Netz sollen. Vor diesem Hintergrund berieten Spitzenpolitiker der Koalition Sonntagabend über die Weichenstellungen der Energiepolitik.
160 000 Menschen waren am Sonnabend (28. Mai) nach Angaben der Organisation »Ausgestrahlt« bundesweit auf den Straßen, um für die schnelle Abschaltung der Atomkraftwerke zu demonstrieren. Die größten Aktionen mit jeweils rund 25 000 Demonstranten gab es in Berlin, Hamburg und München. »Abschalten, abschalten, abschalten!« Mit Transparenten und Sprechchören forderte die Menge vor der CDU-Zentrale in Berlin die Bundesregierung auf, alle AKW für immer vom Netz zu nehmen und den Atomausstieg ohne Verzögerung durchzusetzen.
In Göttingen kritisierte Ulrike Paschek vom Netzwerk Attac bei der Kundgebung die Rolle von Banken im Atomgeschäft. Die Deutsche Bank sei »das radioaktivste Finanzinstitut Deutschlands«. Sie habe in den vergangenen Jahren Finanzdienstleistungen in Höhe von rund acht Milliarden Euro für die Atomindustrie erbracht. »Die Brücke der Atomkraft ist nach Fukushima zusammengebrochen und darf nicht wieder aufgebaut werden«, erklärte der DGB-Vorsitzende in Hessen und Thüringen, Stefan Körzell, bei der Kundgebung in Frankfurt am Main vor rund 8000 Demonstranten.
Abgesehen von Berlin und mit Abstrichen Dresden (3200), stießen die Aufrufe zum Anti-Atom-Protest in Ostdeutschland auf vergleichsweise wenig Resonanz.
Die Veranstalter zeigten sich mit der Mobilisierung vom Wochenende zufrieden. Immerhin habe es sich um die »zweitgrößten Massenproteste in der Geschichte der Anti-AKW-Bewegung« gehandelt, sagte »Ausgestrahlt«-Sprecher Jochen Stay.
Unterdessen brachten sich auch die Protagonisten des abendlichen Koalitionsgipfels in Stellung. CSU-Chef Horst Seehofer kündigte vor dem Treffen an, er wolle den endgültigen Atomausstieg binnen zehn Jahren durchsetzen. »Ich werde das Ergebnis der Ethikkommission zur Grundlage der Beratungen im Koalitionsausschuss machen«. Die FDP dagegen will sich nicht auf ein Ausstiegsdatum festlegen. Der neue Fraktionschef Rainer Brüderle erklärte via »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« sogar, es sei noch nicht entschieden, ob die während des Moratoriums abgeschalteten AKW vom Netz blieben.
Unerwartete Schützenhilfe erhielten die Atomfreunde von Nordrhein-Westfalens SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. »Entscheidend ist doch nicht, ob wir den Atomausstieg ein oder zwei Jahre früher oder später hinbekommen. Entscheidend ist, dass wir dabei die Versorgungssicherheit und die Preise berücksichtigen«, sagte sie dem »Spiegel«.
* Aus: Neues Deutschland, 30. Mai 2011
"Abschalten, abschalten!"
Guter Stich im Laufzeiten-Poker: 160000 Demonstranten fordern bundesweit sofortigen Atomausstieg
Von Max Eckart **
Vor der für Sonntag abend (29, Mai) angesetzten und wohl vorentscheidenden Koalitionsrunde zur Energiepolitik haben am Samstag (28. Mai) rund 160000 Menschen in ganz Deutschland die sofortige Abschaltung der Atomkraftwerke gefordert. Zu den Demonstrationen in über 20 Städten hatte ein Bündnis aus Antiatombürgerinitiativen, Umwelt- und Friedensgruppen aufgerufen. Unterstützung kam von Gewerkschaften, Parteien und der Bürgerrechtsbewegung.
Die größten Aktionen mit jeweils rund 25000 Teilnehmern gab es in Berlin, Hamburg und München. »Abschalten, abschalten, abschalten!« Mit Transparenten und Sprechchören forderte die Menge vor der CDU-Zentrale in Berlin die Bundesregierung auf, alle AKW für immer vom Netz zu nehmen und den Atomausstieg ohne Verzögerung durchzusetzen.
In Hamburg zogen die Demonstranten vom Jungfernstieg über die Reeperbahn bis zur Abschlußkundgebung am Fischmarkt. 15 bunt beflaggte Boote – Paddler, Motorboote und Segelschiffe – schipperten auf der Elbe die letzten Meter neben dem Protestzug. Auf einem Schild an der Brüstung der Binnenalster stand: »Brunsbüttel: 80 Kilometer links. Tschernobyl: 1800 Kilometer rechts«.
Die Ereignisse in Fukushima hätten erneut gezeigt, daß die Atomenergie eine unbeherrschbare Technologie sei und die Lebensgrundlagen der Menschen vernichte, sagte der IG-Metall-Bezirksleiter für Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, Hartmut Meine, vor 12000 Demonstranten in Hannover. Zudem sei es unverantwortlich, Atomkraftwerke zu betreiben, obwohl völlig ungeklärt sei, wie der strahlende Atommüll gelagert werden könne.
In Göttingen führten 30 geschmückte Traktoren den Protestzug durch die Innenstadt an. Ulrike Paschek vom Netzwerk ATTAC kritisierte bei der Kundgebung die Rolle von Banken im Atomgeschäft. Die Deutsche Bank sei »das radioaktivste Finanzinstitut Deutschlands«. Sie habe in den vergangenen Jahren Finanzdienstleistungen in Höhe von rund acht Milliarden Euro für die Atomindustrie erbracht, sagte Paschek. Auch die Commerzbank und die HypoVereinsbank versorgten Atomkraftwerksbetreiber mit Krediten und Anleihen und finanzierten Uranabbau und Urananreicherung.
Abgesehen von Berlin und mit Abstrichen Dresden, wo 3200 Menschen demonstrierten, war die Resonanz auf die Protestaufrufe in Ostdeutschland vergleichsweise niedrig. In Erfurt versammelten sich etwa 1000, in Magdeburg und Güstrow jeweils rund 700 Atomkraftgegner. Die Veranstalter, die insgeheim wohl mit einer größeren Beteiligung gerechnet hatten, zeigten sich mit der Mobilisierung vom Wochenende zufrieden. Immerhin habe es sich um die »zweitgrößten Massenproteste in der Geschichte der Anti-AKW-Bewegung« gehandelt, sagte »Ausgestrahlt«-Sprecher Jochen Stay. Es seien mehr Menschen auf den Straßen gewesen als bei den letzten Großdemonstrationen am Ostermontag an zwölf AKW-Standorten.
»Hinter den Kulissen wird um die Zahl der AKW gefeilscht, die dauerhaft abgeschaltet bleiben, aber die Frage der weiteren Nutzung der Atomkraft gehört nicht auf den Basar«, erklärte Wolfgang Ehmke von der Bürgerinitiative (BI) Umweltschutz Lüchow-Dannenberg. »Sieben auf einen Streich – das war nur im Märchen eine Großtat, auf dem Feld der Energiepolitik kommt es einem Einknicken vor den Konzerninteressen gleich.«
Die Atomkraftgegner in Gorleben kündigten weitere Proteste an. »Alle starren auf den Atomausstieg, wir gehen auch gegen Atommülltransporte und den Weiterbau in Gorleben an«, sagte Ehmke. Parallel zu den ab Pfingsten geplanten Blockadeaktionen am AKW Brokdorf werde im Wendland für einen Neustart der Endlagersuche demonstriert: »Wir können nach all den Atommüllskandalen nicht länger akzeptieren, daß in Gorleben auf Weisung der Bundesumweltministers Norbert Röttgen im Dreischichtbetrieb rund um die Uhr weitergebaut wird.«
** Aus: junge Welt, 30. Mai 2011
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