"Ein bis drei Jahre, wenn man es wirklich will"
Deutsche AKW können schnell abgeschaltet werden. Demos in Berlin, Hamburg, Köln und München. Gespräch mit Thorben Becker *
Thorben Becker ist Atomexperte beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), der am heutigen Samstag die in vier deutschen Städten stattfindenden Großdemonstrationen für einen sofortigen Atomausstieg mitkoordiniert.
Unter dem Motto »Fukushima mahnt: Alle AKW abschalten!« rufen für heute über 40 Organisationen zu vier Großdemos in Berlin, Hamburg, Köln und München auf. Mit welchen Zulauf rechnen Sie?
Derzeit besteht eine große Bereitschaft, gegen die Atomkraft auf die Straße zu gehen. Seit der Nuklearkatastrophe in Japan sind extrem viele Menschen in Bewegung gekommen. So hat es am vergangenen Montag in mehr als 700 Städten Mahnwachen mit über 140000 Teilnehmern gegeben. Anderseits war es ein gewagtes Unterfangen, in nur anderthalb Wochen vier Großdemos zu organisieren. In dieser Kürze läßt sich einfach kein Überblick über das mögliche Ausmaß der Beteiligung gewinnen. Wir gehen aber davon aus, daß in jeder der vier Städte mehrere zehntausend Menschen den Sofortausstieg aus der Atomenergie fordern werden.
Warum sind nicht auch Stuttgart und Mainz Schauplatz der Proteste? In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz wird schließlich am Sonntag gewählt.
Uns ging es zunächst einmal darum, ein deutliches Signal zu setzen in Richtung Bundesregierung, damit umgehend Konsequenzen aus den schrecklichen Ereignissen in Japan gezogen werden. Die Auswahl der vier Städte sollte es möglichst vielen Menschen aus allen Teilen Deutschlands ermöglichen, den Protest mitzutragen. In Baden-Württemberg gab es in den zurückliegenden zwei Wochen bereits eine riesige Menschenkette sowie eine gemischte Anti-Atom- und Anti-Stuttgart-21-Demo mit insgesamt weit über 100000 Teilnehmern. Deshalb fiel diesmal für Süddeutschland die Wahl auf München.
Sie wollen mit dem Protest aber doch auch Einfluß auf die Wahlen nehmen?
Das ist nicht unser wichtigstes Ziel. Wenn aber in Baden-Württemberg mit Regierungschef Stefan Mappus ein Propagandist der Atomkraft seinen Hut nehmen muß, kann das nicht verkehrt sein. Entscheidend ist aber, daß jetzt die nötigen Schlüsse aus dem Atomunglück gezogen und weltweit und in Deutschland so viele AKW wie möglich vom Netz genommen werden.
Immerhin wurden hierzulande schon sieben Anlagen – wenn auch nur vorübergehend – abgeschaltet. Trauen Sie der Bundesregierung mehr zu?
Diese Regierung will natürlich nicht aussteigen. Das Aussetzen der Laufzeitverlängerung für deutsche AKW über drei Monate soll vor allem Dampf aus dem Kessel nehmen. Das Bekenntnis von Wirtschaftsminister Rainer Brüderle, sich damit nur über die anstehenden Landtagswahlen hinwegretten zu wollen, bestätigt ja nur, was alle ohnehin befürchtet hatten: Die Stillegung der sieben AKW hat wenig bis gar nichts mit einer neuen Sicherheitsprüfung zu tun.
Großer Profiteur der aktuellen Stimmungslage sind die Grünen. Trauen Sie denen in Regierungsverantwortung den Sofortausstieg zu?
Das ist nie ein Selbstläufer. Allein wegen der Terrorgefahr hätte Rot-Grün schon vor Jahren nach Meinung der Gesellschaft für Reaktorsicherheit acht AKW vom Netz nehmen müssen. Nichts dergleichen geschah. Entscheidend ist, daß die Antiatombewegung den Druck auf die jetzige Regierung weiter erhöht, statt auf kommende andere Machtkonstellationen zu warten. Der Atomausstieg muß und kann erkämpft werden – gegen jede Regierung. Jetzt ist die Zeit dafür gekommen, die Fakten sprechen ebenso dafür wie die Stimmung.
Was heißt für Sie eigentlich Sofortausstieg?
Völlig klar ist, daß acht AKW heute bereits verzichtbar sind: Krümmel und Brunsbüttel stehen ohnehin seit Jahren still, sechs weitere laufen nur für den Stromexport. Alle anderen können auch sehr schnell abgeschaltet werden, sofern die nötigen Maßnahmen in Richtung Ausbau erneuerbarer Energien und mehr Energieeffizienz ergriffen werden. Entsprechende Konzepte liegen seit Jahren fertig auf dem Tisch und müssen nur endlich umgesetzt werden, hier besteht das größte Politikversagen.
Bis wann konkret könnten alle deutschen AKW abgeschaltet sein?
Innerhalb von ein bis drei Jahren, wenn man es wirklich will.
Interview: Ralf Wurzbacher
* Aus: junge Welt, 26. März 2011
Untragbares Risiko
Die Lügen der Atomwirtschaft
Von Wolfgang Pomrehn **
Die Lüge ist die häßliche Schwester der Macht und des Profits, doch um langfristig zu wirken, muß sie diskret eingesetzt werden. Nun gibt es eine Branche, die hat mit der Diskretion ihre besonderen Schwierigkeiten, da ihre Technik die Lüge zwingend verlangt: die Atomindustrie. Wer derart riskante Anlagen betreibt, kann gar nicht anders, als die Öffentlichkeit systematisch hinters Licht zu führen. Das kennen wir von den hiesigen Atomkraftwerksbetreibern oder auch aus Schweden, wo Vattenfall in seinem AKW Forsmark 2006 eine Beinahe-Kernschmelze vertuschte, und das erleben wir gerade aufs neue vom japanischen Atomkonzern Tepco, der die Öffentlichkeit auch zwei Wochen nach dem Beginn der Atomkatastrophe in Fukushima nur sehr zögerlich, bruchstückhaft und oft irreführend informiert.
Jahrzehntelang haben die Freunde der Atomkraft den Menschen weismachen wollen, ein schwerer Unfall in einem AKW sei statistisch gesehen nur alle 10000 oder gar nur alle 100000 Jahre möglich. Wenn er doch eintrete, sei der Reaktorsicherheitsbehälter, in dem sich der Kessel mit den Brennstäben befindet, so ausgelegt, daß er selbst bei dem größten anzunehmenden Unfall, dem GAU, noch standhalten würde.
Was letzteres angeht, so zeigt derzeit Fukushima einmal mehr: Die Sicherheitsbehälter sind nicht in der Lage, im Fall der Fälle das nukleare Inventar zurückzuhalten. Selbst die internationale Lobbyorganisation der Atomkraft, die Internationale Atomenergieorganisation IAEO in Wien, spricht seit Donnerstag davon, daß die von den drei Havariereaktoren freigesetzte Radioaktivtät inzwischen die Ausmaße von Tschernobyl erreicht hat.
Doch wie sieht es mit dem statistischen Risiko aus? Ist ein Reaktorunfall tatsächlich so unwahrscheinlich wie behauptet? Derzeit sind weltweit 447 Atomreaktoren in Betrieb, 125 weitere wurden bereits stillgelegt. Macht zusammen 572 Reaktoren, denen mit Harrisburg, Tschernobyl und den drei Reaktoren in Fukushima fünf schwerste Reaktorunfälle gegenüberstehen, bei denen es zur Kernschmelze kam.
Die Wahrscheinlichkeit eines Reaktorunfalls mit Kernschmelze ist also bisher fünf zu 572 oder knapp ein Prozent. Nun frage sich jeder, ob er sein Kind allein über die Straße laufen läßt, wenn es in einem von hundert Fällen überfahren werden könnte. Oder ob er ein Schiff mit löchrigen Rettungsbooten und vermoderten Schwimmwesten besteigt, von dem er weiß, daß es mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,87 Prozent sinken wird. Natürlich nicht.
Aber der Bundesverband der Deutschen Industrie, die Vorstände von RWE, E.on, EnBW und Vattenfall, die Unionsparteien und die Liberalen, sie alle meinen, wir sollen zum Wohle eines Konzerngewinns von weiteren 100 bis 200 Milliarden Euro ein 0,87prozentiges Risiko tragen, daß in der Nachbarschaft von Hamburg, Frankfurt/Main, München oder Stuttgart ein AKW hochgeht, wie derzeit in Fukushima. In den nächsten Monaten muß sich zeigen, ob die Gesellschaft das tatsächlich noch will.
** Aus: junge Welt, 26. März 2011
"Das Schlimmste kommt erst noch – mit oder ohne GAU"
Fukushima: Aktivistin zieht Vergleiche zu Leiden der Tschernobyl-Opfer
Von Robert Meyer ***
Es gibt Menschen, die schauen dieser Tage mit einem besonderen Blick in Richtung Japan. Eine von diesen Personen ist Heike Sabel. Sie engagiert sich seit vielen Jahren für die Strahlenopfer des Reaktorunglücks von Tschernobyl. Die Bilder aus Fukushima wecken in ihr Erinnerungen an das Leid der Menschen. Sabel weiß: Wie immer auch die Katastrophe ausgeht, für die Japaner wird die Aufarbeitung eine große Herausforderung sein.
Es muss wohl die bittere Ironie des Schicksals gewesen sein, welche Heike Sabel auf die japanische Katastrophe aufmerksam machte. Ausgerechnet auf der Plattform einer belarussischen Zeitung las sie das erste Mal vom Reaktorunglück und dem drohenden GAU im Atomkraftwerk Fukushima.
Am Anfang die Reise nach Belarus
Die schrecklichen Bilder aus Japan wecken bei ihr Erinnerungen. Heike Sabel weiß aufgrund ihres langjährigen Engagements für die Strahlenopfer in Belarus ziemlich genau, was die Menschen in Japan alles noch erwartet.
»Das Schlimmste kommt erst noch – mit oder ohne GAU, denn es sind die Menschen, denen irgendwann bewusst wird, was hier geschehen ist«, sagt die Aktivistin. In ihren Gedanken läuft immer wieder ein Film ab, der sich wie die düstere Wiederholung der Ereignisse von Tschernobyl im April 1986 anfühlt. »Ich denke an die Menschen unmittelbar am Reaktor und sehe die Liquidatoren, die ich in Weißrussland kenne und deren Schicksal«, erzählt die Frau aus dem sächsischen Pirna.
Seit 1995 hilft sie den Opfern dieser Katastrophe. Angefangen hatte alles mit einer Reise nach Belarus. Vor Ort hatte Heike Sabel einen Jungen kennengelernt, der an einer zelebralen Lähmung leidet. Zu den möglichen Ursache dieser Krankheit gehört eine Genmutation, die durch radioaktive Strahlung hervorgerufen werden kann.
»Ich habe, wohl von der Situation beeindruckt und die Erwartung der Mutter spürend, versprochen zu helfen«, erinnert sich Sabel. Zurück in Pirna, gründete sie damals eine private Initiative, die die Menschen in Belarus auf unterschiedliche Weisen zu unterstützen versucht. Im Jahr 2005 rief sie gemeinsam mit einigen Bekannten schließlich den Verein »Gemeinsam für die Zukunft« ins Leben. Bis heute ist Heike Sabel die Vorsitzende des Vereins, der bis heute eine enge Partnerschaft mit der im Südosten von Belarus liegenden Stadt Bragin pflegt. Mit dem Jungen, den sie damal traf, ist sie noch immer in von Kontakt.
Gerade diese Begegnung lässt Heike Sabel heute mit einem besonderen Blick nach Japan schauen. Über das Ausmaß des Reaktorunglücks auf die Umwelt können die japanischen Behörden zwar bisher nur wenige Angaben machen. Dennoch zeigen Messungen in einem Umkreis von 60 Kilometern rund um das verunglückte Atomkraftwerk Fukushima, dass eine radioaktive Verunreinigung des Bodens bereits stattgefunden hat.
»Es gilt für Kinder und alle Menschen: Raus aus der Strahlung. Sie brauchen saubere Luft und eine saubere Ernährung«, mahnt daher Heike Sabel. Sorgen bereiten ihr zudem die möglichen psychischen Folgen für die Kinder, wie sie sie bereits durch Tschernobyl zur Genüge kennt. »Die Abgeschlafftheit, die Anfälligkeit machen den Kindern zu schaffen, sie wollen mehr als sie können. Sie erleben zudem immer wieder Krankheit und Tod. Sie versuchen, es zu verstehen, aber es ist schwer, weil man radioaktive Strahlung nicht sieht.«
Für die Japaner kommt der Umstieg zu spät
Solche Belastungen können allerdings nicht nur den Jüngsten zu schaffen machen, meint Sabel. Sie erinnert sich an die Geschichte eines alten Mannes, der trotz besseren Wissens über die eindeutige Gefahr in sein in der Sperrzone um den havarierten Reaktor gelegenes Haus zurückkehrte.
Für eine mögliche Weiternutzung der Atomkraft zeigt Sabel in Anbetracht der katastrophalen Folgen kein Verständnis. »Es gibt genug Sonne, Wind und Wasser auf der Erde und die Technologien ihrer Nutzung sind so weit, dass wir das Atom nicht mehr brauchen.« Für viele Menschen in Japan kommt dieser Umstieg auf die Erneuerbaren Energien womöglich zu spät.
*** Aus: Neues Deutschland, 25. März 2011
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