Von Kosovo nach Kabul
Menschenrechtspolitik durch Militärinterventionen? Ein Buch von David Chandler
David Chandler: From Kosovo to Kabul. Human Rights and International Intervention.
Pluto Press, London/Sterling (Virginia) 2002, 268 Seiten, 14,99 Pfund
Die US-amerikanische Regierung nannte ihre Antwort auf die Washingtoner und New Yorker Kerosin-Bomben zunächst Operation "Unendliche Gerechtigkeit". Erst als ihr dies den Vorwurf der Gotteslästerung einbrachte, besann sie sich auf ein anderes Wortbild für die Bombardierung und Verminung Afghanistans.
Dabei wäre der Einpflanzung einer endlichen Gerechtigkeit in eine ungerechte Gesellschaft womöglich etwas abzugewinnen - aber auch das bestreitet der englische Politikwissenschaftler David Chandler in seiner Studie über die jüngsten Kriege mit dem Untertitel "Menschenrechte und internationales Eingreifen". Nicht-Regierungsorganisationen fordern, so Chandler, Menschenrechte für die arme Welt ein und teilen ihre Sicht auf die Elenden mit derjenigen US-amerikanischer und europäischer Militärs. Für beide seien Menschen Opfer, denen es auf die Sprünge zu helfen gelte mit Nahrungsmitteln oder Minen, oder, wie in Afghanistan geschehen, mit beidem zugleich. Euro-amerikanisch zentriert, bereite die elitäre Sichtweise der modernen Nicht-Regierungsorganisationen wie Oxfam, UNICEF und vor allem Médecins sans Frontičres einer auch militärischen Rückeroberung der armen Weltgegenden geradezu den Weg.
Chandler entfaltet seine These in Etappen, und er belegt sie gründlich. Zunächst stellt er dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz – gemäß Genfer Konvention seit 1864 neutraler, nichtpolitischer Helfer derer, die in Not sind – die modernen Nicht-Regierungsorganisationen gegenüber, die meinen, für Menschenrechte Partei ergreifen zu müssen: Nur an den Wurzeln sei den Übeln beizukommen. Die britische Oxfam und andere Nicht-Regierungsorganisationen hätten sich erstmals 1968 dem Neutralitätsprinzip des Genfer Roten Kreuzes entgegengestellt. Die südostnigerianischen Sezessionisten in Biafra, hieß es, müßten gegen die britisch gestützte Zentralregierung durch einseitiges, auch militärisches Einschreiten vor dem sicheren Hungertod bewahrt werden. Seitdem haben Advokaten für Nachhaltigkeit und Parteinahme für die Rechte der »Opfer« die Oberhand über die Nothelfer gewonnen und erhalten nicht nur Applaus von den euro-amerikanischen Mächten, sondern immer wieder deren militärischen Flankenschutz.
So geraten, meint Chandler, die Handelnden, die von anderen Handelnden geschädigt wurden, den Nicht-Regierungsorganisationen zu Opfern. Deren Menschenrechte zu verwirklichen machen sich die Stellvertreter zur Aufgabe. Die vormaligen Subjekte werden Objekte auswärtiger Eingriffe. Im Kampf gegen die Milosevic-Regierung Jugoslawiens verschmolzen gar bewaffneter und helfender Eingriff: Zur Zusammenarbeit bereite serbische Gemeinden erhielten Energie und Lebensmittel von der EU, widerständige nicht. Auch das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen unterbrach, trotz vorhersehbarer Flüchtlingswellen, gleich nach dem 11. September die Lieferungen nach Afghanistan mit der Begründung, sie könnten in die falschen Hände, nämlich die der Taliban, fallen.
Chandler stellt des weiteren das Menschenrecht mit dem passiven Geschädigten dem Zivil-, Straf- und Völkerrecht gegenüber, die allesamt auf dem Vertragsgedanken gründen und gerade nicht auf Gerechtigkeit oder Moral abstellen. Ihnen geht es um Be- und Zurechenbarkeit bei Selbsttätigkeit der Beteiligten.
Es fällt Chandler nicht schwer, die elitären Züge der Menschenrechtsargumentation herauszuarbeiten. Ein Bernard Kouchner, langjähriger Leiter von Médecins sans Frontičres, kann danach reibungslos für "vorsorgliche" oder "eindämmende" militärische Eingriffe plädieren und sie schließlich, wie im Kosovo geschehen, selbst leiten. Auch für die UNO, jedenfalls ihrem 2001 verfaßten Brahimi-Report zufolge, gerät Krieg zum kleineren Übel. Menschenrechtler haben Chandler zufolge überdies ein pessimistisches Menschenbild. Der Mensch, so kann Chandler Kouchner zitieren, sei selbst der schlimmste Feind der Menschlichkeit.
Chandler schließt mit Verweisen auf den kümmerlichen Erfolg etwa der Menschenrechtsintervention in Bosnien: hohle Regierungsstrukturen, die zu ethnischer und familiärer Verkapselung zwingen. Die Gesellschaft drohe in kleinste Teile zu zerfallen. Vergleichbares kündige sich für die Protektorate Kosovo und Osttimor und das zerfetzte Afghanistan an.
Andere haben die Doppelzüngigkeit militärischer Interventen aufgezeigt, ihr Moralisieren vorher und ihre realpolitische Ausflucht nachher; oder sie haben die Ökonomie hinter dem Idealismus hervorgeholt. Chandler dagegen nimmt die Menschrechtler beim Wort, analysiert es und begleitet interpretierend die Taten. Kaum empirisch tritt er den Menschenrechtlern entgegen, und schon gar nicht fordernd, sondern aus anderer Sicht, also paradigmatisch. Er bricht dabei eine Lanze für das tradierte Völkerrecht und eine zweite für eine Sicht auf die Menschen, wie sie in Deutschland zuletzt überzeugend Osterkamp und Holzkamp in ihrer Kritischen Psychologie vertreten haben. Deren Freunde wie kritische Gegner werden aus der Chandlerschen Studie Gewinn ziehen.
Chandler schreibt gut lesbar. Umso mehr wäre eine kundige Übersetzung zu wünschen.
Thomas Immanuel Steinberg
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