Angriff auf die Verfassung
Deutscher Kriegseinsatz: Der rechtlich ungebundene Maßnahmestaat nimmt Gestalt an
Von Thomas Groß*
Die innen- und außenpolitische Entwicklung seit dem 11. September gibt
immer mehr Anlass zur Befürchtung, dass grundlegende
Verfassungsprinzipien bleibende Schäden erfahren könnten. Auch wer
nicht des Alarmismus verdächtig ist, muss sich inzwischen fragen, ob
nicht die aktuellen Pläne der Bundesregierung die Begrenzungsfunktion der
Verfassung gegenüber dem Einsatz der Bundeswehr und auch die
Schutzfunktion der Grundrechte gegenüber den Sicherheitsbehörden
gefährden; ob sie damit nicht Grundlagen des demokratischen
Rechtsstaates berühren. Zudem wird auch die Geschäftsgrundlage der
Parteiendemokratie in Frage gestellt, ein bisher zu wenig beachteter
Gesichtspunkt.
Ausgangspunkt aller Pläne über den Einsatz der Bundeswehr muss nach
wie vor Artikel 87 des Grundgesetzes sein, wonach die Streitkräfte der
Verteidigung dienen. Dabei ist ursprünglich zweifellos an einen Angriff mit
Waffengewalt auf das Bundesgebiet gedacht worden. Erst nach der
Änderung der weltpolitischen Lage in den neunziger Jahren wurde auch der
Einsatz im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit unter einen
erweiterten Verteidigungsbegriff gefasst. Im aktuellen Fall ist jedoch kein
Einsatz unter Leitung der UNO oder der NATO geplant, sondern eine
bilaterale Unterstützung der USA. Mit dem ursprünglichen Konzept der
kollektiven Sicherheit hat dies nichts zu tun.
Zudem ist das Vorgehen gegen Afghanistan von einem modernen
menschenrechtlichen Verständnis des Völkerrechts in keiner Weise
gedeckt, woran auch die breite Unterstützung durch die "Koalition gegen
den Terrorismus" nichts ändert. Wer sich nicht von den kollektivistischen
Mythen der Kriegsrhethorik blenden lässt, sondern auch die Menschen im
bisherigen Herrschaftsbereich der Taleban als Rechtssubjekte anerkennt,
muss konstatieren, dass sich die amerikanische Regierung zum Ankläger,
Richter und Henker eines fiktiven Weltstrafgerichts erklärt hat, das auf dem
Kodex der Blutrache beruht. Diese wird lexikalisch definiert als Form der
Selbstjustiz, durch die eine Verletzung der Sippenehre, vor allem die
Tötung eines Angehörigen, geahndet werden soll, indem gegen die Sippe,
der der Täter angehört, vorgegangen wird.
Der von der Bundesregierung erwirkte Ermächtigungsbeschluss zeigt auch
die Grenzen der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur
parlamentarischen Kontrolle von Bundeswehreinsätzen auf. Das Karlsruher
Urteil von 1994 war ohnehin ein politischer Kompromiss, der mit den
üblichen Methoden der Verfassungsauslegung kaum begründet werden
konnte. Schon im Fall Mazedonien wurde deutlich, dass es unsinnig ist,
den schwerfälligen Bundestag zu einer Art Oberbefehlshaber für konkrete
Einsätze zu machen.
Der einzig praktikable Weg, wenn man denn Auslandseinsätze durchführen
will, wäre der Erlass eines entsprechenden Gesetzes. In diesem müssten
dann allerdings Voraussetzungen genannt werden, die erfüllt sein müssen,
bevor ein Einsatz von der Regierung angeordnet werden darf. Die
Formulierung solcher Kriterien fürchten die Politiker jedoch ganz
offensichtlich, denn dann würde deutlich, dass eine konsistente
Außenpolitik nicht stattfindet. Es müsste nämlich definiert werden, welche
Rolle der UN-Sicherheitsrat und die NATO dabei spielen sollen. Wenn etwa
schwere Menschenrechtsverletzungen, die als Rechtfertigung für den Krieg
gegen Jugoslawien dienten, als Anlass aufgenommen würden. Sofort käme
die Frage auf, wieso nicht in vergleichbaren Fällen wie Tschetschenien
oder jetzt wohl auch Nigeria, wo es in den vergangenen Monaten Tausende
von Toten gab, militärisch interveniert wird. In Wirklichkeit bewegen wir uns
in der Verteidigungspolitik Schritt für Schritt auf den rechtlich
ungebundenen Maßnahmestaat zu, in dem ausschließlich nach
tagespolitischer Opportunität entschieden wird.
Ähnliches gilt für die Terrorismusbekämpfung im Innern. Zwar besteht
selbstverständlich das Recht der Politik, eine Sicherheitslage neu
einzuschätzen. Wenn dies jedoch zu weitreichenden Eingriffen in die
grundrechtlich geschützte Privatsphäre führen soll, so muss die Frage
nach den tatsächlichen Grundlagen der Bewertung und nach der
Verhältnismäßigkeit der Mittel gestellt werden. Der Öffentlichkeit sind
jedoch bisher keine konkreten Belege vorgelegt worden, dass auch in
Deutschland Anschläge islamistischer Gruppen drohen. Allenfalls könnte
man den zynischen Schluss ziehen, die Vorgeschichte der Anschläge in
den USA beweise ja, dass die Geheimdienste sowieso unfähig sind,
Bedrohungen zu erkennen, so dass auf tatsächliche Anhaltspunkte eben
verzichtet werden muss. Näherliegend ist die Frage, ob es wirklich klug ist,
sich so sehr mit den USA zu identifizieren.
Notwendig ist es auch, auf einen verfassungsrechtlich relevanten
"Kollateralschaden" für die Glaubwürdigkeit der Parteiendemokratie
hinzuweisen. Im Programm von Bündnis 90/Die Grünen für die
Bundestagswahl 1998 finden sich folgende Sätze: "Eine Politik mit der
Angst lehnen wir ab. Wir sind gegen weitere Strafrechtsverschärfungen."
"Die Geheimdienste sind schrittweise aufzulösen." "Militärische
Friedenserzwingung und Kampfeinsätze lehnen wir ab." "Bündnis 90/Die
Grünen lehnen die Umstrukturierung der Bundeswehr zu einer
internationalen Interventionsarmee durch den Aufbau von
Krisenreaktionskräften ab." Es hat damals wohl niemand daran gezweifelt,
dass die pazifistische und die bürgerrechtliche Tradition für das Parteiprofil
von wesentlicher Bedeutung sind. Auch die SPD hat für vergleichbare
Grundsätze geworben.
Wenn nun diese Ziele von den Regierungsparteien nicht nur aufgegeben
werden, sondern sogar das genaue Gegenteil passiert, stellt sich die Frage
nach dem Wert der Wahlentscheidung für eine bestimmte Partei. Haben
diejenigen, die 1998 rot oder grün gewählt haben, wirklich zwei Kriege
billigen wollen? Die Antwort des klassischen englischen Parlamentarismus
wäre, ein neues Mandat des Volkes einzuholen.
Die inhaltlichen Hürden der Verfassung liegen noch höher. Für die Frage
der Auslandseinsätze der Bundeswehr wäre eine Verfassungsänderung die
einzig korrekte Form, die Abkehr von der deutschen Politik der
Selbstbeschränkung zu vollziehen. Vorher wäre jedoch die Frage zu
beantworten, ob die oft beschworenen Werte der westlichen Zivilisation
nicht auch eine Zivilisierung der internationalen Beziehungen verlangen,
wenn sie ihre Grundlagen auf Dauer erhalten will. Zu ihnen zählt der
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der als Kernelement des
Rechtsstaates auch durch eine Verfassungsänderung nicht außer Kraft
gesetzt werden kann.
* Thomas Groß ist Professor für Öffentliches Recht an der Universität Gießen.
Aus: Freitag, Nr. 47, 16. November 2001
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