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Alle Kriegsverbrecher vor Gericht!

US-Außenminister John F. Kerry beim Wort nehmen, heißt die NATO anklagen

Von Peter Strutynski *

Am 3. April 2013 erschien in der renommierten Huffington Post ein Namensartikel von US-Außenminister John F. Kerry zum Thema Kriegsverbrechen. Darin tritt er mit Verve dafür ein, Kriegsverbrecher überall in der Welt zu verfolgen und einer gerechten Strafe zuzuführen. Den Artikel haben wir hier in einer deutschen Übersetzung dokumentiert: "Lassen Sie uns unser Engagement erneuern, jeden Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen." Auf diesen Artikel bezieht sich der folgende Kommentar von Peter Strutynski.

"Straflosigkeit ist der Feind des Friedens", stellt US-Außenminister Kerry in seinem engagierten Artikel in der Huffington Post fest. Damit hat er natürlich Recht - wie mit so manch anderem, was in dem Beitrag angesprochen wird. Die Welt wäre in der Tat eine bessere, wenn Kriegsverbrechern das Handwerk gelegt werden könnte und wenn sie sich vor ordentlichen Gerichten verantworten müssten. Und wenn nationale Gerichte hierfür nicht zur Verfügung stehen oder Regierungen ihre schützende Hand über solche Verbrecher halten, dann mag sich die internationale Gerichtsbarkeit zuständig fühlen. Mit der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC), der 2002 in Den Haag seine Arbeit aufgenommen hat, verfügen wir über eine Institution, die in solchen Fällen tätig werden kann.

Zu dumm nur, dass die US-Regierungen von Clinton über George W. Bush bis zu Obama es bisher strikt abgelehnt haben, diesem Gericht beizutreten und seine Gründungsurkunde, das römische Statut, zu unterzeichnen und vom US-Kongress ratifizieren zu lassen. Die Botschaft, die von dieser Verweigerung ausgeht, lautet: God’s own Country lässt keine Gerichtsbarkeit über oder neben ihm gelten. Die USA sind nicht nur das freieste, sondern auch das gerechteste Land unter dem Himmel. So ist auch zu verstehen, dass die US-Administration mit vielen Ländern Vereinbarungen darüber abgeschlossen hat, dass US-Soldaten ausschließlich der US-Gerichtsbarkeit und eben nicht – wie sonst üblich - den Gerichten der jeweiligen Gastländer unterworfen sind. Wenn also ein GI in Japan, Afghanistan, Libyen, Jordanien oder in Mauretanien ein Verbrechen begeht, wird es für ihn nur dann etwas unangenehm, wenn ein US-Gericht sich der Sache annimmt. Bei Kriegsverbrechen, die sozusagen im Auftrag oder stellvertretend für die Regierung in Washington begangen werden, haben GIs demnach wenig zu befürchten.

Die USA begründeten ihre ablehnende Haltung zum ICC tatsächlich damit, dass ihre Soldaten, die in vielen Ländern der Erde ihren „Dienst“ verrichten, nicht von fremden Gerichten zur Rechenschaft gezogen werden dürften. Und es gab sogar Gedankenspiele, den Strafgerichtshof in Den Haag notfalls auch militärisch anzugreifen, um US-Bürger, die dort unter Anklage stehen, zu befreien. Dabei gehen solche Überlegungen am Statut des Gerichts haarscharf vorbei. Denn der ICC tritt erst dann auf den Plan, wenn die nationalen Behörden nicht fähig oder willens sind, gegen Kriegsverbrecher zu ermitteln und ihnen ggf. auch den Prozess zu machen.

Vor einem Militärgericht in den USA hat sich derzeit ein US-amerikanischer GI zu verantworten, der geheime und vertrauliche Dokumente und Kriegsprotokolle aus Afghanistan und Irak an die Internet-Plattform Wikileaks weiter gegeben hat. Sein Name ist Bradley Manning. Ihm droht wegen „Geheimnisverrats“ eine lebenslange Haftstrafe. Unter den Dokumenten befindet sich auch ein Video, worin zu sehen ist, wie aus einem US-Militärhelikopter irakische Zivilisten und Mitarbeiter der Agentur Reuters erschossen werden – begleitet von hämischen Kommentaren der Schützen. Auch Menschen, die den Verwundeten zu Hilfe kommen wollten, wurden angegriffen. Der „Whistleblower“ Bradley Manning sitzt seit fast drei Jahren in Untersuchungshaft und verbringt damit bereits mehr Zeit hinter Gittern als die aus dem Folterskandal von Abu Ghraib bekannt gewordene Soldatin Lynndie England, die, nachdem sich die Folterpraktiken nicht länger verheimlichen ließen, zu insgesamt drei Jahren Haft verurteilt worden war, wovon sie aber nur zwei Jahre verbüßen musste. Der Großteil der US-Foltersoldaten kam mit weit niedrigeren Strafen – bis hin zu Geldstrafen – davon. Die politisch Verantwortlichen hingegen sind niemals belangt worden.

Noch viel weniger haben die Kriegsherren aus Washington zu befürchten, wenn sie – allein oder mit ihren NATO-Verbündeten – im Zuge des „Kriegs gegen den Terror“ in fremde Länder einfallen oder „Verdächtige“ mit Kampfdrohnen hinrichten. Eine kriegerische Aggression ist zwar vom Völkerrecht genauso verboten wie die willkürliche gezielte Tötung von Menschen außerhalb von Kriegsereignissen, Ermittlungen durch staatliche Gerichte oder den Internationalen Strafgerichtshof sind bisher aber noch nie aufgenommen worden. (Die Strafverfolgung wegen Verbrechens eines „Angriffskrieges“ ist bislang vom ICC noch nicht endgültig geregelt worden.) Das Gericht in Den Haag hat statt dessen Ersatzkandidaten angeklagt: Neben dem in der Rede von Kerry erwähnten mutmaßlichen Kriegsverbrecher Joseph Kony (auf den die US-Regierung sogar ein Kopfgeld ausgesetzt hat) sind bislang ausschließlich Politiker und Rebellenführer aus Afrika angeklagt worden; u.a. traf es mit dem sudanischen Präsidenten Omar Hassan al-Baschir und dem vor kurzem gewählten keniatischen Präsidenten von Kenia, Uhuru Kenyatta, zwei amtierende Staatsführer. Ein dritter, gegen den inmitten des NATO-Kriegs gegen Libyen Anklage erhoben worden war, Muhammad Gaddafi, fiel der Lynchjustiz zum Opfer.

US-Außenminister Kerry nimmt in seinem bemerkenswerten Artikel den Mund sehr voll. Sollte wirklich die Straflosigkeit der Feind des Friedens sein, so wäre doch vor allem die Straflosigkeit derjenigen zu beenden, die für die meisten Kriege der neuen Zeit verantwortlich sind. Das sind in erster Linie die führenden Politiker der NATO-Staaten. Es müssten auch diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die in diesen Kriege schwere Kriegsverbrechen begehen: durch den Beschuss von Zivilpersonen (Beispiel: das vom deutschen Oberst Klein befohlene Kundus-Massaker), durch Folter oder durch den Einsatz unerlaubter Waffen und Munition. Schließlich wäre gegen die Begünstigten und/oder Drahtzieher der modernen Rohstoff- und Energiekriege zu ermitteln: internationale Kriegsgewinnler-Konzerne (z.B. Halliburton) oder private „Sicherheitsfirmen“ (z.B. das frühere „Blackwater“).

Um unliebsamen Interpretationen vorzubeugen, versicherte Kerry, dass es sich bei der Auslobung von fünf Millionen Dollar für die Ergreifung von Kony keineswegs um „ein Programm für Kopfgeldjäger handelt, bei dem die Gesuchten tot oder lebendig überbracht werden“. Mag ja sein, dass sich das US-Militär das Vergnügen vorbehält, den Gesuchten nach erfolgreichem Aufspüren selbst zur Strecke zu bringen. Es wäre nicht das erste Mal; und beim prominenten Vorgänger Osama bin Laden saß das ganze Sicherheitskabinett Obamas „in der ersten Reihe“ und sah zu, wie die Ergreifung und Hinrichtung des Staatsfeinds Nr. 1 der USA Hand in Hand ging.

Kerry beginnt seinen Artikel mit der Herz zerreißenden Schilderung von Kindern in Kriegsgebieten: „Stellen Sie sich einen Moment lang vor“, schreibt er, „Sie wären ein Kind in Zentralafrika. Sie schlafen nicht jeden Abend Zuhause bei ihrer Familie, sondern mit Dutzenden anderer Kinder in einer Notunterkunft. Sie hoffen, dass die große Anzahl von Kindern Ihnen Sicherheit bieten. … Dies ist ein wahrer Albtraum.“ Wie Recht er doch hat! Aber ersetzen wir Zentralafrika durch Afghanistan. Vor wenigen Tagen erst sind dort wieder zahlreiche Kinder bei Alliierten-Angriffen ums Leben gekommen. Die Täter heißen nicht Kony und es ist auch nicht die Lord’s Resistance Army, welche solche Taten verübt. Es ist die NATO und es sind deren Kampfpiloten, welche die tödliche Fracht abwerfen. Ihnen allen sei – wiederum in den Worten des US-Außenministers – gesagt: „Lassen Sie uns unser Engagement erneuern, jeden Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen.“

* Der Autor, Politikwissenschaftler, leitet die AG Friedensforschung in Kassel und ist Sprecher des "Bundesausschusses Friedensratschlag".

Eine gekürzte Version dieses Beitrags erschien unter dem Titel "John Kerrys Plädoyer gegen Straflosigkeit" im "neuen deutschland" vom 13. April 2013



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