Brüssels Diktate
Weltsozialforum in Tunis. Kritik an diskriminierender EU-Politik
Von Wolfgang Pomrehn, Tunis *
In Tunesiens Hauptstadt Tunis geht am heutigen Samstag das diesjährige Weltsozialforum zu Ende. Rund 50000 Teilnehmer hatten sich bis Donnerstag nachmittag angemeldet. Zum Wochenende wurde ein weiterer Ansturm erwartet. Etwa 80 Prozent der Teilnehmer seien Einheimische, berichtet Mouhieddine Cherbib vom Organisationskomitee.
Mit umgerechnet 50 Cent für Studenten, Rentner und Arbeitslose und 2,50 Euro für andere ist der Eintritt für die meisten erschwinglich, wenn auch nicht gerade billig. Der monatliche Durchschnittslohn beträgt in Tunesien 300 bis 350 Dinar (etwa 150 bis 175 Euro), der Mindestlohn liegt bei 246 Dinar (zirka 125 Euro). Tunesien hat die sogenannten Strukturanpassungsprogramme, die die Bundesregierung derzeit mit Hilfe des Internationalen Währungsfonds Südeuropa aufzwingt, bereits hinter sich. Das Ergebnis ist eine hochgradig von Agrar- und Textilexporten in den Norden abhängige Wirtschaft, deren Handelsbilanzdefizit derzeit weiter wächst. Verhältnisse wie sie in vielfältiger Form auch auf dem Forum thematisiert wurden.
In einem gut besuchten, von ATTAC Deutschland organisierten Seminar diskutierten zum Beispiel Teilnehmer aus diversen nordafrikanischen und europäischen Ländern die Verhandlungen über ein neues Freihandelsabkommen, die die EU derzeit mit den sogenannten Aghir-Staaten Marokko, Jordanien, Tunesien und Ägypten führt. Die Kritik, so Said Salim von ATTAC, fängt damit an, daß die EU zwar ein einheitliches und sehr weitgehendes Abkommen mit diesen Ländern will, aber mit jedem einzeln verhandelt. Das schwächt natürlich die ohnehin prekäre Position dieser Länder gegenüber dem mächtigen Brüsseler Block zusätzlich.
Ziel der EU ist die Beseitigung aller Handelshindernisse wie Zölle oder störende örtliche technische Standards. Darüber hinaus wird auf umfassende Rechte für europäische Unternehmen gedrängt. Schon jetzt genießen diese, so Salim, durch bilaterale Abkommen Privilegien wie die zeitweise Befreiung von Steuern und Sozialabgaben oder besonders günstigen Zugang zu Land. Die örtlichen kleinen oder mittleren Unternehmer können hingegen von derlei nur träumen. Die Folgen dieser Politik scheint in Brüssel und Berlin niemand zu interessieren. ATTAC kritisiert an den Verhandlungen unter anderem auch, daß die EU nicht zunächst die sozialen und ökonomischen Auswirkungen der bereits bestehenden bilateralen Verträge untersucht. Immerhin, so Salim, wird es nach dem Seminar auf dem Forum nun eine internationale Gruppe aus Vertretern sozialer Bewegungen von beiderseits des Mittelmeeres geben, die die weiteren Verhandlungen gemeinsam beobachtet und analysiert. Einige Freihandelsabkommen, wie das für den amerikanischen Kontinent geplante FTAA, konnten in der Vergangenheit durch massiven öffentlichen Widerstand verhindert werden.
Eine weitere Kritik von ATTAC an dem geplanten neuen Vertrag, wird auf dem Weltsozialforum sicherlich von den allermeisten geteilt. Faktisch geht es der EU darum, die südlichen und östlichen Mittelmeeranrainer in einen einheitlichen Markt zu integrieren, ohne daß die Regierungen der Nicht-EU-Mitglieder dessen Regeln mitbestimmen und ohne daß sich die Bürger Nordafrikas und der Levante frei in ihm bewegen könnten. Freizügigkeit gibt es nur für europäisches Kapital und europäische Exportwaren. Die Behinderung der Migration und vor allem das aggressive und oft mörderische Grenzregime der EU an ihrer Südgrenze waren Gegenstand zahlreicher Debatten in Tunis. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierte dazu vor überfüllten Zuhörerreihen ein Seminar, an dem auch mehrere Parlamentarier und Fraktionsmitarbeiter der Bundestags-Linken teilnahmen.
Von einem ganz besonderen Schicksal berichteten sudanesische und somalische Flüchtlinge aus dem Lager in Schuscha an der Grenze zu Libyen, die das Nachbarland aufgrund des Bürgerkrieges und der nachfolgenden Pogrome gegen Schwarzafrikaner verlassen mußten. Nach dem etliche 100 durch ein vom UN-Flüchtlingskommissariat, dem UNHCR, organisiertes Umsiedlungsprogramm in verschiedene Länder weiterreisen konnten, sind dort rund 230 Menschen gestrandet, für die sich keiner mehr zuständig fühlt. Betroffene berichten, ihnen sei die Umsiedlung verweigert worden. Im Juli wolle der UNHCR das Lager schließen, aber die Menschen wollen weder in Tunesien bleiben, noch können sie wegen der dort herrschenden Kriege in ihre Heimat im sudanesischen Dafur oder in Somalia zurück. In Tunesien aber, so berichteten sie in Tunis der Presse, leiden sie unter extremem Rassismus. Polizisten würden sie als »dreckige Sklaven« beschimpfen. Gleich nach der Errichtung des Lagers hatte es einem Überfall aus der einheimischen Bevölkerung gegeben, bei dem mehrere Menschen getötet und Zelte verbrannt worden seien.
* Aus: junge Welt, Ostersamstag, 30. März 2013
Rückenwind für die Arabellion
Das Weltsozialforum kam in Tunesien gut an
Von Martin Ling, Tunis **
Mit der Abschlussdemonstration am Samstagnachmittag geht das Weltsozialforum (WSF) in Tunis zu Ende. Die Organisatoren sind mit den über 50 000 akkreditierten Teilnehmern ebenso zufrieden wie mit der Wirkung: Tunesiens Medien sind nach dem Auftaktmarsch intensiv in die Berichterstattung eingestiegen. In Tunis war das WSF Straßenthema.
Das Weltsozialforum zeigt Wirkung: »Überall auf den Straßen reden die Leute inzwischen darüber«, schildert Ahmed Abdel Gahmi gegenüber »nd« seine Eindrücke. Gahmi selbst ist Ägypter und nimmt am Forum in Tunis teil. »Für Tunesiens Demokratiebewegung bringt das WSF sicher einen Schub«, meint der Moderator vom alternativen Radio Tram in Alexandria. »Nicht nur die gebildeten Schichten reden über das Forum, nein, an jeder Straßenecke ist es Thema«, zeigt er sich sichtlich angetan. Die positive, weltoffene Ausstrahlung des WSF hält er allerdings für mehr oder weniger auf Tunesien begrenzt. »In Ägypten gibt es kaum Medienberichte über das Forum. Ich glaube nicht, dass es dort oder in anderen arabischen Staaten groß Wirkung entfaltet«, ist der Radioaktivist skeptisch. Er selbst nimmt indes positive Erfahrungen mit. »Es war spannend, von den Problemen von Radioaktivisten anderer Länder zu hören. Vieles ähnelt sich, zum Beispiel die Schwierigkeit, eine Frequenz zu kriegen, der Austausch über Strategien kann in der Zukunft auf alle Fälle hilfreich sein.« Gahmi stellte das Radio Tram beim Seminar »Alternative Media and Power of Revolution« (Alternative Medien und die Kraft der Revolution) vor, das von der Rosa-Luxemburg-Stiftung unter der Federführung der Medienaktivistin Andrea Plöger organisiert wurde. Freie Radios in Tunesien und Ägypten bildeten den Schwerpunkt, aber auch Radiomacher aus der Demokratischen Republik Kongo, Mali und Brasilien kamen zu Wort. Was sie alle vereint, ist die Ehrenamtlichkeit und die mehr oder weniger großen Scherereien mit den staatlichen Autoritäten. An Enthusiasmus fehlt es freilich trotzdem nicht: Die Chance, in einem freien Radio quasi eine Moderatorenausbildung zu erhalten, ist für viele junge Menschen in Tunesien oder Ägypten neben der politischen Motivation Anreiz genug, freie Zeit zu investieren, zumal Jobperspektiven ohnehin rar sind und die erlernten Fähigkeiten potenziell die Möglichkeit eröffnen, das Hobby einmal zum Beruf zu machen.
Das Seminar der alternativen Radiomacher stellte einen direkten Bezug zur Arabellion her, die 2011 in Tunesien mit dem Sturz von Ben Ali am 14. Januar ihren Ausgang nahm und sich über die gesamte arabische Region verbreitete. Dieser sogenannte arabische Frühling war ein Schwerpunkt der fast 1000 Veranstaltungen zu elf unterschiedlichen Themengebieten. Neben diesem regionalen Akzent und der versuchten Anknüpfung an neue Bewegungen im Norden wie die Empörten der M-15 in Spanien oder von Occupy Wall Street, waren auch die klassischen Themen des WSF breit vertreten: Von Klimawandel über Landraub und Rohstoffraubbau bis hin zu der Kritik an den globalen Institutionen wie Internationaler Währungsfonds, Weltbank und Welthandelsorganisation. Das WSF bietet weiterhin einen bunten Strauß an Themen, aus dem sich jeder Teilnehmer das heraussucht, was ihm gefällt. Es ist eine Art Volksuniversität, die hauptsächlich über Zusammenhänge aufklärt. Dennoch war in vielen Veranstaltungen das Bemühen erkennbar, auch zu konkreten Vorgehensweisen zu kommen, es gab häufig einen regen Adressenaustausch und das Vorhaben, künftig miteinander vernetzt zu bleiben.
Der Eindruck einer großen Bewegung, die ein konkretes gemeinsames Ziel über das seit 2001 währende Grundsatzmotto »Eine andere Welt ist möglich« verfolgt, entsteht weniger, eher von vielen Bewegungen, die mehr nebeneinander als miteinander agieren. Somit ist das WSF von einer Kampagnenfähigkeit nach wie vor weit entfernt. Sie wird auch nicht aktiv angestrebt, wiewohl nicht wenige die im Großen und Ganzen Wiederkehr des Immergleichen seit 2001 bemängeln und mehr realpolitische Durchschlagskraft wünschten, wie Peter Strotmann von Attac Deutschland. »Die sozialen Bewegungen vom Forum könnten nur gemeinsam mit den aufstrebenden Regierungen der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) einen qualitativen Wandel bewirken«, äußert er gegenüber »nd« seine Hoffnung für die Zukunft.
Besonders von Samir Amin, dem 81-jährigen ägyptischen Starökonom, zeigte sich Strotmann angetan: »Amin forderte einen Kommunismus des 21. Jahrhunderts, das Jahrhundert sei ja noch jung«, berichtet der Aktivist aus einer Veranstaltung zu den BRICS-Staaten; Strotmanns Attac-Kollege Hugo Braun, zudem Mitglied des International Council des WSF, sieht schon in Tunis Fortschritte: »Dieses globale Treffen in Tunis hat nicht nur die Überlebensfähigkeit der Sozialforumsidee bestätigt, sondern auch eine neue Dynamik des weltweiten Widerstands gegen die dramatische Armutspolitik der Herrschenden sichtbar gemacht.« Braun vertritt sogar die Meinung, dass »der aufrührerische Geist des arabischen Frühlings auch die sozialen Bewegungen im Rest der Welt erreicht hat«. Fraglos haben sich die Aktivisten der M-15 schon 2011 bei der Besetzung des Puerta del Sol in Madrid vereinzelt mit Plakaten auf die Aktivisten vom Tahrir-Platz in Kairo bezogen, doch wie weit die gegenseitige Befruchtung angesichts unterschiedlicher lokaler Problemlagen wirklich geht, lässt sich schwer einschätzen. M-15 und Occupy-Aktivisten aus mehreren Ländern waren zwar in Tunis präsent, als stilprägende Protagonisten fielen sie nicht auf. Beim WSF dominiert nach wie vor die klassische Podiumsdiskussion mit vielen Rednern und Zuhörern, die erst gegen Ende einbezogen werden und nicht die öffentliche Versammlung mit Diskussion, in der jeder Teilnehmer Beiträge zur Diskussion und Entscheidungsfindung leisten kann, wie sie bei M-15 und Occupy gepflegt wird.
Die laut Veranstalter bereits bis Donnerstagnachmittag akkreditierten 50 000 Teilnehmer verteilten sich auf dem weitläufigen Campus der El-Manar-Universität. Überall herrschte geschäftiges Treiben, erklang Musik von der libanesischen Sängerin Fairuz über Bob Marley bis hin zu Manu Chao. Tausende Menschen begaben sich auf die zeitfressende Suche nach den richtigen Räumen, verpassten dies und verpassten jenes. In den Räumen fehlte es hie und da an zugesagter Technik. Es war das übliche WSF-Chaos, das durch 600 freundliche und hilfsbereite Freiwillige gemildert wurde und das die lokalen Organisatoren von Tag zu Tag besser in den Griff bekamen.
Wie groß die Resonanz des WSF in Tunesien war, zeigen die Zahlen: 80 Prozent der Teilnehmer stammen aus Tunesien, teilte Mouhieddine Cherbib, Mitglied des Organisationskomitees, mit. Auch über die breite Berichterstattung nach der Auftaktdemonstration, die die einheimischen Medien offenbar beeindruckt hätte, zeigte sich der bekannte tunesische Menschenrechtler auf einer Pressekonferenz sichtlich erfreut. »Das wird der Demokratiebewegung sicher helfen!«
Diese Meinung wird vielfach geäußert. Elisabeth Braune, die ihren Job als Büroleiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung ohne Vorahnung just vor dem Arabischen Frühling in Tunesien angetreten hat, sieht schon in der Vorbereitung des WSF durch die tunesische Zivilgesellschaft einen großen Gewinn: »Die Strukturen wurden dadurch enorm professionalisiert. Das wird bei künftigen Herausforderungen sicher helfen.«
Eine dieser Herausforderungen ist sicher die islamistische Partei Ennahda, die in der Regierungstroika mit der säkularen sozialdemokratischen Ettakatol und dem säkularen Kongress für die Republik von Staatspräsident Moncef Marzouki eindeutig und unangefochten den Ton angibt. »Der Einfluss von Ennahda ist beunruhigend. Sie gebietet salafistischen Gruppen innerhalb und außerhalb der Partei keinen Einhalt und leistet somit der Islamisierung Vorschub«, sieht Braune Tunesiens Zukunft zwiegespalten entgegen.
Ennahda boykottierte das WSF durchaus nicht. Hochrangige Politiker waren laut Veranstaltern da, aber vor allem der Parteinachwuchs. Das WSF ist aus Prinzip offen, ausgeschlossen wurde niemand, der sich den Eintritt von einem Dinar (50 Eurocent) für Erwerbslose, Schüler und Rentner oder die fünf Dinar für Erwerbstätige leisten konnte.
Schon auf der Eröffnungsdemonstration hatten Islamisten mit der Losung »Arbeit, Freiheit, Scharia« für Irritation gesorgt, es blieb aber ebenso friedlich wie auf dem Forum selbst. Über vereinzelte lautstarke Auseinandersetzungen zwischen religiösen und säkularen Studenten hinaus passierte nichts. Für die Auseinandersetzung mit den Islamisten und der schleichenden Islamisierung Tunesiens war das WSF sicher hilfreich. »Das WSF ist in erster Linie ein soziales und kulturelles Ereignis, aber auch ein kleines Mittel gegen die islamistische Diktatur«, meint Amel gegenüber »nd«. Sie arbeitet nach dem Ende ihres Studiums als Tontechnikerin in einem Kino in Tunis und ist Mitglied des kommunistischen Jugendverbandes. Sie fügt hinzu: »Aber mit dem WSF ist der Kampf sicher noch nicht zu Ende.«
** Aus: neues deutschland, Samstag, 30. März 2013
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