Die grüne Agenda der Weltbürgerbewegung
Das Weltsozialforum in Brasilien endete am Wochenende
Von Gerhard Dilger, Porto Alegre *
Mit der Forderung nach einem neuen Wirtschaftssystem ist in Porto Alegre das Weltsozialforum zu Ende gegangen. An den Veranstaltungen des Regionalforums in Südbrasilien nahmen binnen fünf Tagen 35 000 Menschen aus 39 Ländern teil, wie die Veranstalter am Wochenende mitteilten. Parallel dazu wurde im brasilianischen Salvador da Bahia ein weiteres Regionalforum eröffnet. Weltweit sollen 2010 mehr als 30 weitere solcher Treffen stattfinden.
Das Weltsozialforum ergrünt. Wohl kein Konzept wurde auf dem 10. Geburtstag des Forums in Porto Alegre öfter beschworen als jenes vom »Guten Leben«, das seine Wurzeln im Denken der Andenindianer hat und bereits in den neuen Verfassungen Ecuadors und Boliviens verankert ist. Brasiliens grüne Präsidentschaftskandidatin Marina Silva bezog sich in einer umjubelten Rede ebenso darauf wie Daniel Pascual vom »Komitee für die Einheit der Kleinbauern« aus Guatemala, der ähnlich wie seine Kollegen aus Kolumbien oder Peru die Offensive von Bergbau- und Agrarmultis in seinem Land kritisch schilderte.
Das Konzept vom »Guten Leben«
Der portugiesische Soziologe Boaventura de Sousa Santos wünscht sich, dass das »Gute Leben« einmal den westlich geprägten Entwicklungsbegriff ablösen möge. Doch Pascual bedauerte auch: »Leider ist die Zeit hier viel zu kurz, um das systematischer auszuarbeiten.« So zeigten die auf einen kruden Antikapitalismus fixierten Gruppen aus Brasilien, die per Akklamation eine umfangreiche »Erklärung der sozialen Bewegungen« verabschiedeten, nur wenig Interesse für den indigen geprägten Diskurs ihrer Gäste. Auch die alternative Klimakonferenz, zu der der bolivianische Präsident Evo Morales im April nach Cochabamba lädt, spielt in ihren Planungen noch keine Rolle.
Allerdings war das Forum, das am Freitag (29. Jan.) nach fünf Tagen zu Ende ging, auch keines jener wuselnden Großereignisse, für die Porto Alegre seit 2001 bekannt geworden ist. Schon wegen des enormen Aufwands finden die zentralisierten Megaevents seit 2005 nur noch alle zwei Jahre statt, im Januar 2011 das nächste in der senegalesischen Hauptstadt Dakar. In diesem Jahr hingegen sind noch gut 30 regionale und thematische Foren in aller Welt geplant, darunter Anfang Juli das Europäische Sozialforum in Istanbul.
Die 35 000 Teilnehmer des südbrasilianischen Regionalforums verteilten sich auf mehrere Großstädte im Ballungsgebiet Porto Alegre. Die internationale Debatte blieb auf das Strategieseminar beschränkt, auf dem »Elemente für eine neue Agenda« diskutiert wurden. Frauen stellten 60 Prozent des Publikums, doch auf den Podien dominierten wieder einmal ältere Männer.
Eigentlich hatten die Organisatoren geplant, die wichtigsten Aspekte der zwölf Podiumsdiskussionen am Freitag mit Blick auf die künftigen Foren zu bündeln - doch dem widersetzte sich Boaventura de Sousa Santos, einer der einflussreichsten Ideologen des Forums, vehement. So blieb die Botschaft für die Öffentlichkeit wieder einmal ziemlich diffus.
Dabei wird seit dem Weltsozialforum 2009 in Belém mit dem »Guten Leben« und dem Komplex »Gemeingüter« in Umrissen eine mögliche Plattform sichtbar, auf der sich die unterschiedlichsten Diskurse zusammenführen ließen: »Gutes Leben heißt nicht Streben nach mehr Konsum, sondern nach Autonomie, Selbstbestimmung, vor allem Selbstentfaltung«, sagt Silke Helfrich aus Jena, die über Gemeingüter referierte. »Bei den Kämpfen um Wasser und Land, um Wissen oder Software geht es um Zugangsrechte und um gesellschaftliche Kontrolle, auch um die Frage, wie wir produzieren.«
Die Wachstumslogik radikal überwinden
Die Brücke zwischen der antikapitalistischen Linken und den Gemeingütern schlug Edgardo Lander: »Als globales System steht der Kapitalismus dem Erhalt des Lebens entgegen«, sagte der venezolanische Soziologe, »wir müssen die Wachstumslogik radikal überwinden und zu einer Umverteilung des Zugangs zu Gemeingütern kommen.« Ohne eine kritische Bilanz des Realsozialismus mit seiner »ebenso zerstörerischen Entwicklungslogik« sei es sinnlos, von einem Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu reden, betonte Lander in Anspielung auf sein Heimatland. Die südamerikanischen Linksregierungen hielten nicht nur am herkömmlichen Fortschrittsdenken fest, sondern hätte es sogar vertieft: »Lula hat die Gentechnik in der Landwirtschaft zugelassen, und unter Hugo Chávez ist die Wirtschaft Venezuelas abhängiger vom Erdöl als vor zehn Jahren.«
Den zahlreichen Stimmen, die die Niederlage des Neoliberalismus auf der diskursiven Ebene feierten, hielt Lander entgegen: »Die kapitalistische Gesellschaft hat eine unglaubliche Globalisierung der Subjektivität erreicht. Die Vorstellung, das Leben sei gleichbedeutend mit Konsum, ist tief verwurzelt.« Die Lage sei alles andere als rosig, schloss er düster: »Die individualistischen Muster des Konsums und auch der Wissensproduktion stehen vor dem endgültigen Sieg.«
Sein brasilianischer Kollege Emir Sader pflichtete ihm bei: »Der Niedergang des Kapitalismus ist langsam und relativ, ohne dass sich am Horizont eine Alternative abzeichnen würde.« Die Welt sei unübersichtlicher als vor zehn Jahren, sagte Bernard Cassen von Attac und »Le Monde Diplomatique«: »Damals war es ziemlich einfach, die USA, die NATO als Weltpolizei, die Welthandelsorganisation, der IWF, alle hatten eine klare, leicht erkennbare Rolle.« Heute seien die USA militärisch geschwächt und wirtschaftlich angeschlagen, so Cassen, »die G20 haben die G8 ersetzt. Aber sind die Feinde unserer Feinde deswegen gleich unsere Freunde? Wir müssen aufhören, den Süden als eine Einheit zu betrachten«, plädierte er im Hinblick auf China.
Ein weiterer Schwerpunkt der Debatten war die Rolle, die die Weltbürgerbewegung auf dem Weg zum nächsten Weltklimagipfel spielen sollte, der im Dezember in Mexiko stattfindet. Der bolivianische UN-Botschafter Pablo Solón warb für den »Weltgipfel der sozialen Bewegungen zum Klimawandel«, der vom 19. bis 22. April in Cochabamba stattfindet. »Wir dürfen nicht zulassen, dass der Kapitalismus die Erde vollends zerstört«, sagte Solón. »Die Rechte der Menschheit können nur garantiert werden, wenn wir die Rechte der Mutter Erde respektieren.« In Cochabamba solle eine »Allgemeine Erklärung der Naturrechte« ausgearbeitet werden, denn »wir dürfen die Natur nicht länger wie einen Sklaven behandeln«.
Auch Solón bekannte sich zum »Guten Leben«, das er als »Teilen statt Wettbewerb« umschrieb. »Für den Klimawandel werden 10 Milliarden Dollar bereitgestellt, für den Krieg 1,3 Billionen«, hob er hervor und stellte das Projekt von Evo Morales vor, der sich für ein weltweites Referendum über solche Prioritäten einsetzt.
Dass der Weg über Cochabamba nach Mexiko selbst für die vielfach zersplitterte Umweltszene nicht leicht sein wird, weiß auch Fátima Mello vom brasilianischen Netzwerk für die Integration der Völker. »Es reicht nicht mehr, antineoliberal oder antiimperialistisch zu sein«, sagte die Aktivistin aus Rio de Janeiro. »Mit dem Kampf um die Gemeingüter hat letztes Jahr in Belém ein neuer Zyklus für die Weltbürgerbewegung begonnen, der sich auch auf den Straßen Kopenhagens gezeigt hat.«
Cochabamba als nächstes Ziel
Nun gelte es, die Vielfalt der Bewegung zu nutzen, um auf die Politik Einfluss zu nehmen, meint Mello. Angesichts der Wachstumsfixierung auch der linken Regierungen, die in Brasilien, Ecuador oder Venezuela zu zahlreichen Konflikten mit indigenen Gemeinschaften und Organisationen führt, ist das keine leichte Aufgabe. Pablo Solón lässt denn auch an der Stoßrichtung des Treffens in Cochabamba keine Zweifel aufkommen: »Wir müssen uns weltweit gegen die Auswirkungen des kapitalistischen Systems auf das Klima organisieren.« In Bolivien hingegen bleibe die Industrialisierung des Landes das oberste Ziel, »damit wir wirtschaftlich souverän werden und den Reichtum umverteilen können«.
In Porto Alegre sei die Bewegung wieder einen Schritt vorangekommen, zog Chico Whitaker, einer der Gründer des Weltsozialforums, ein optimistisches Fazit. Mehr sei kaum zu erwarten gewesen, findet auch Silke Helfrich: »Soziale Prozesse sind immer langsam, da muss man viel Geduld haben.«
* Aus: Neues Deutschland, 1. Februar 2010
Neue Agenda
Beim Weltsozialforum in Brasilien diskutierten Zehntausende über Wirtschaftsentwicklung, Umweltschutz und die Rechte der indigenen Völker
Von Mario Schenk, Porto Alegre **
In Porto Alegre herrschten 35 Grad im Schatten. Aus Anlaß des zehnten Jahrestages der Weltsozialforen kamen hier in der vergangenen Woche mehr als 27000 Menschen zu einem Treffen zusammen, das sich nur wegen des Jubiläums als Weltsozialforum bezeichnete. Tatsächlich war es eher eine regionale Veranstaltung Brasiliens, obwohl Menschen aus 39 Ländern angereist waren. Weit entfernt, in Davos, wo zur gleichen Zeit das Weltwirtschaftsforum stattfand, herrschten zweistellige Minusgrade. Aber Davos spielte in Porto Alegre keine Rolle mehr. »Schon vor Jahren war die Finanzkrise voraussehbar. Hier hatten wir darüber debattiert, wie wir andere Wirtschaftsmechanismen durchsetzen können«, stellte der Organisator des Treffens, Cándido Gryzbowski fest. »Heute haben wir eine ganz andere Agenda als damals«, so Gryzbowski weiter. »Wir stehen heute in Lateinamerika plötzlich linken Regierungen gegenüber, zu denen wir beigetragen haben, deren expansives Entwicklungsmodell jedoch ebenfalls enorme Umweltzerstörungen verursacht.«
Auch Roberto Espinoza von der Andinen Koordination Indigener Organisationen wies auf die schwierige Lage der linken Regierungen in der Region hin: »Verteidige ich die bolivianische Verfassung, die Rechte der indigen Völker und rette ein Stück Amazonas-Regenwald, oder gebe ich den Arbeitern, vor allem den Bergarbeitern, recht und rette viele Einkommen sowie das Überleben des Staates?« Eine Antwort sah er in einem alternativen, indigenen Entwicklungsmodell, das nicht auf Wachstum beruhen solle. Auch Podiumsgast Boaventura Santos aus Portugal erinnerte daran, daß das Wort »Entwicklung« eine bestimmte Geschichte habe und deshalb negativ besetzt sei. »Denken wir besser in dem Konzept des
'guten Lebens'.« Dieses stamme aus der indigenen Vorstellung eines
solidarischen und vor allem umsichtigen Wirtschaftens und sei neuerdings auch in den Verfassungen von Bolivien und Ecuador festgeschrieben. Marina da Silva, die 2008 als Umweltministerin Brasiliens zurückgetreten war und bei der nächsten Präsidentschaftswahl für die Grünen kandidiert, unterstrich in diesem Zusammenhang, daß die Wirtschaft ihres Landes zu 50 Prozent von seiner Biodiversität abhänge.
Für ein umsichtiges, alternatives Modell in Form einer »Relokalisierung« der Wirtschaft sprach sich Raffaela Bolini aus Italien aus. »Ich schlage eine Ökonomie der kurzen Wege vor.« Daraus würden sich kleinere, lokale bis regionale Wirtschaftskreisläufe und eine Verringerung des Konsums sowie ein Mehr an kommunalen Gütern entwickeln, hoffte Bolini. Dazu, daß die traditionelle Abschlußdemonstration am Freitag abgesagt wurde, äußerte sie: »Wir sind hier, um uns zu verständigen. Kämpfen müssen wir sonst immer.« Das nächste zentrale Weltsozialforum soll im kommenden Jahr im senegalesischen Dakar stattfinden.
** Aus: junge Welt, 1. Februar 2010
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