"Zivilisatorischer Großversuch" der Globalisierungskritiker
Cándido Grzybowski: Wir wollen eine Revolution der Mentalitäten
Von Gerhard Dilger, Belém *
Das Weltsozialforum in Belém (Brasilien) ist mit Beschlüssen zu einer »Agenda sozialer Kämpfe« zu Ende gegangen. Zum Abschluss kündigten Vertreter sozialer Bewegungen am Sonntag (Ortszeit) eine »Aktionswoche gegen Kapitalismus und Krieg« vom 28. März bis 4. April an. An dem Treffen nahmen etwa 130 000 Globalisierungskritikern aus rund 140 Ländern teil.
Im »Zelt der indigenen Völker« in der Amazonien-Universität von Belém sitzen drei indische Teilnehmer des Weltsozialforums. »Es ist beindruckend, wie hier die Kämpfe zusammengeführt werden«, sagt Miramala Mathew aus dem südindischen Bundesstaat Anhdra Pradesh. Unten überreicht der peruanische Hochland-Indígena Miguel Palacín dem Brasilianer Gemundo Xavante aus Amazonien eine bunte Whipala-Fahne der Anden-Indígenas. Soeben hat die Versammlung der Ureinwohner einen gemeinsamen Aktionstag zum Schutz von »Mutter Erde« beschlossen. Am 12. Oktober, dem Jahrestag von Kolumbus' Landung in Amerika, wollen nicht nur die Ureinwohner Amerikas auf die Straße gehen und für ein neues Zivilisationsmodell demonstrieren, sondern auch Aktivisten in Afrika, Asien und Europa.
Doch ganz zufrieden mit dem Verlauf des diesjährigen Weltsozialforums sind die Inder nicht. »In den Gremien stellen immer noch die Vertreter der Nichtregierungsorganisationen die Weichen«, klagt der Priester Amar Rao. »Wann dürfen die Armen selbst bestimmen? In Indien sind nur die obersten zehn Prozent von der Finanzkrise betroffen. Die übrige Bevölkerung muss wie eh und je arbeiten, um zu leben. Die Kleinbauern haben andere Sorgen.« Auch der Südafrikaner Mzonke Poni sieht die Basis ins zweite Glied zurückgedrängt. »Ich bin nicht sicher, ob das Forum in dieser Form unseren Kämpfen im Alltag noch Auftrieb gibt«, meint der 30-jährige Stadtteilaktivist.
Am Donnerstag traten südamerikanische Präsidenten auf zwei Großveranstaltungen auf. Doch viele sind hinterher unzufrieden. »Das war doch kein Dialog«, schimpft die ecuadorianische Indianerin Janeth Cuji über das Treffen der sozialen Bewegungen mit Hugo Chávez (Venezuela), Evo Morales (Bolivien), Rafael Correa (Ecuador) und Fernando Lugo (Paraguay). »Gerade drei handverlesene Vertreter durften kurze Statements abgeben, uns hat man kaltgestellt.«
In diesem Jahr unternahmen die Organisatoren aber auch einen neuen Anlauf, die Vielfalt des Forums mit dem Bedürfnis nach Botschaft und Handlungsorientierung zu verbinden: Am Sonntagnachmittag fand auf dem aufgeweichten Campus-Fußballplatz die »Versammlung der Versammlungen« statt. Dort trugen die Sprecher von 22 thematischen Aktionsbündnissen ihre Forderungen vor, darunter Feministinnen, Umweltschützer, Kleinbauern, Afrobrasilianer, Migrations-, Finanz-, Wasser- Gesundheits- und Bildungsaktivisten. Tausende hörten sich die teils recht langatmigen Erklärungen geduldig an. Da befanden sich die allermeisten der offiziell 133 000 Forumsteilnehmer aus insgesamt 142 Ländern allerdings schon längst auf dem Heimweg. Beschlossen wurde eine »Woche gegen Kapitalismus und Krieg« zwischen dem 28. März und dem 4. April, am Am 30. März findet ein »Solidaritätstag mit Palästina« statt.
Prominente Sprecher des Organisationskomitees versuchten, die Botschaft aus Belém pressewirksam zu bündeln. »Die Zeit von Davos ist abgelaufen. Wir sind die Zukunft«, sagte der brasilianische Soziologe Cándido Grzybowski beschwörend, »wir wollen eine neue politische Kultur, eine Revolution der Mentalitäten«.
Der zivilisatorische Großversuch Weltsozialforum geht weiter. Methodische und organisatorische Schwierigkeiten oder auch Machtspielchen hinter den Kulissen sind das eine. Unter dem Strich jedoch überwiegt der Motivationsschub, den die allermeisten Teilnehmer aus Belém mitnehmen. Die Offenbacher Metallgewerkschafterin Bettina Ellermann bringt dieses Gefühl auf den Punkt: »Es war fantastisch, so viele Gleichgesinnte zu erleben. Das gibt mir neuen Auftrieb für die Arbeit zu Hause.«
* Aus: Neues Deutschland, 3. Februar 2009
Der Raum des Forums ist da, um geöffnet zu werden
WSF-Mitgründer »Chico« Whitaker sieht weiter große Perspektiven **
Francisco »Chico« Whitaker Ferreira (77) gehört zu den Gründern des Weltsozialforums (WSF) und ist Mitglied in dessen brasilianischem Organisationskomitee sowie im Internationalen Rat des Weltsozialforums. Whitaker begann sein soziales Engagement in den 50er Jahren als Architekturstudent und Mitglied der katholischen Studentenbewegung. Während der Zeit der Militärdiktatur in Brasilien in den späten 60er Jahren ging er ins Exil nach Frankreich. In Belém sprach Gerhard Dilger mit ihm.
Neues Deutschland: Herr Whitaker, in den großen Medien des Nordens spielt das Weltsozialforum in diesem Jahr kaum noch eine Rolle. Woran liegt's?
Francisco »Chico« Whitaker Ferreira: Der Kampf um Sichtbarkeit ist schwierig. Wir organisieren das Forum ja zeitgleich zu Davos, um leichter eine mediale Schneise schlagen zu können. Doch die Vorstellung, der Markt ist keine Lösung, ist extrem subversiv. Dem System, das die großen Medien im Grunde kontrolliert, liegt nichts daran, das zu verbreiten.
Dennoch war das weltweite Medieninteresse von 2002 bis 2004 enorm ...
Damals trat die Zivilgesellschaft als mächtiger politischer Akteur in Erscheinung, das war das Neue. Doch der Forumsprozess als solcher ist unsichtbar, das macht es uns schwer. Der Wandel erscheint nicht als etwas Spektakuläres, er vollzieht sich durch langsames Eindringen. Doch die Tatsache, dass in Lateinamerika viele Präsidenten gewählt wurden, die mehr mit den Anliegen der Völker verbunden sind, ist ein Zeichen für diese Stärke der Zivilgesellschaft, die sich auch über Parteien hinwegsetzt. Die Staatschefs, die hier waren, haben bekräftigt, dass sie wegen der sozialen Bewegungen an die Macht gekommen sind.
Wäre es nicht hilfreich, ganz offiziell drei, vier griffige und konsensfähige Forderungen herauszugreifen?
Nein, das wäre das Ende des Forums. 2003 wollten das viele mit den Protesten gegen den Irak-Krieg machen, aber diese Frage hat die Brasilianer weniger bewegt als die Europäer. Beim Antikapitalismus ist es umgekehrt. Deswegen sagen wir, wir sind gegen den Neoliberalismus, aber das Gegenmodell gibt es nicht! Und schon gar nicht könnte es dekretiert werden, es muss von unten nach oben wachsen, sonst hat es tönerne Füße. Jedes Modell, das von oben aufgedrückt wird, zerspringt, sobald seine Propheten verschwinden.
Jeder Paradigmenwechsel geht mit einem großen kulturellen Wandel einher. Hinzu kommt der Aspekt der persönlichen, inneren Transformation, sowohl bei den Wortführern als auch bei den Bürgern. Es geht um Änderungen im Verhalten. Es bringt überhaupt nichts, hier mit einer großen schönen Idee herauszukommen. Wir machen das lieber mit vielen kleineren Dingen, die zusammengenommen den Wandel ausmachen.
Trotzdem flackert die alte Debatte zwischen »Horizontalisten« wie Ihnen und den »Vertikalisten« immer wieder auf ...
Die ist überwunden. Niemand will aus dem Forum eine Bewegung machen.
Ganz stimmt das ja nicht, die brasilianischen Gewerkschafter oder der Soziologe Emir Sader zum Beispiel sehen das anders.
Wenn es nach denen ginge, würde Hugo Chávez das Forum eröffnen nach dem Motto: Die Regierung wird's schon richten. Wir dagegen finden, dass es eine Lösung nur mit der gesamten Gesellschaft gibt. Sie muss neue Werte und Verhaltensweisen annehmen.
Was war neu in diesem Jahr?
Zum ersten Mal sind hier die Indígenas so massiv aufgetreten, ähnlich wie 2004 in Mumbai (Bombay) die Dalits, und sie haben gesagt, wir existieren, hört auf unsere Anliegen! Hier hat sich eine Gruppe getroffen, die sich überlegt, wie man erfolgreiche, aber weitgehend unsichtbare Initiativen bekannt machen könnte, es gibt Tausende davon. Eine Untersuchung in den USA hat gezeigt, dass dort bereits 50 Millionen Menschen jenseits der Konsumlogik leben. Das muss bekannt gemacht werden! Oder das Forum über Wissenschaft und Demokratie, das sich jetzt gebildet und ein Manifest über Gemeingüter erarbeitet hat.
Und formal?
Bisher haben die sozialen Bewegungen immer ganz am Schluss ihre Erklärung verabschiedet. Sie haben damit viel Verwirrung gestiftet, bei vielen entstand der Eindruck, das sei die offizielle Forumsposition. Diesmal haben sie ihre Erklärung schon zwei Tage vorher publik gemacht, und am Sonntag haben sie ihre Forderungen als eine von vielen Gruppen vorgestellt. Das ist ein enormer qualitativer Sprung. Natürlich wird auch jetzt im Internationalen Rat wieder der Ruf nach einem politischen Programm laut werden. Dann sagen wir: Macht es doch, aber hier wird niemand ausgeschlossen. Der Raum ist da, um geöffnet, erweitert zu werden.
Dennoch, das war hier das brasilianischste aller Foren.
Nun, in Mumbai 2004 war es das indischste, in Nairobi 2007 das afrikanischste, das ist normal. Hier ging es ja vor allem um Amazonien, nicht um Brasilien.
Wie geht es weiter?
Höchstwahrscheinlich wird es alle zwei Jahre eine zentrale Veranstaltung geben und dazwischen regionale und thematische Foren. So ist ein Forum über Migration in Mexiko im Gespräch, und 2010 wird es wahrscheinlich wieder einen globalen Aktionstag geben, doch viel größer und besser als letztes Jahr. Jetzt ist der Vorschlag aufgetaucht, das Forum 2011 in den USA auszurichten. Brasiliens Präsident Luiz Inacio »Lula« da Silva hat zugesichert, sich in diesem Fall bei seinem US-Kollegen Barack Obama dafür einzusetzen, dass die Visumsfrage kein Problem wird.
Wie lautet Ihr Fazit?
Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sondern dringend nötig, denn die ganze Welt durchlebt eine Phase enormer Perplexität, und die Lösungen des Forums werden mehr gehört werden denn je. Das Forum hat eine Gruppe vergessener Völker in den Fokus gerückt, die Indígenas, die Flussbewohner, die afrobrasilianischen Gemeinschaften. Die Vorschläge, die hier erarbeitet wurden, sind ausgereifter denn je.
* Aus: Neues Deutschland, 3. Februar 2009
WSF-Forderungen
Maßnahmen zur »Umverteilung des globalen Reichtums«
Zum Abschluss des Weltsozialforums wurden dringende Maßnahmen gegen die Folgen der Finanzkrise gefordert. »Das Finanzsystem muss auf völlig neue Füße gestellt und der globale Reichtum umverteilt werden«, sagte Alexis Passadakis von Attac Deutschland. Unter UNO-Regie müssten die Gründung einer internationalen Steuerbehörde, die Stabilisierung von Wechselkursen und ein Mechanismus zur Schuldenstreichung für Länder des Südens organisiert werden, hieß es. Zu dem Paket gehören zudem die Kontrolle der Finanzmärkte, die Gründung eines neuen Währungssystems ohne den Dollar als Leitwährung und die Schließung von Steueroasen. Um die Spekulation auszuschließen, sollten Lebensmittel und Rohstoffe nicht mehr an Börsen gehandelt, Weltbank und Internationaler Währungsfonds abgeschafft werden.
Es sei inakzeptabel, dass Entwicklungsländern durch Steuer- und Kapitalflucht großer Firmen jährlich 900 Milliarden Dollar entgingen und sie im Gegenzug nur 100 Milliarden Dollar Entwicklungshilfe erhielten, sagte Wilfried Steen vom Evangelischen Entwicklungsdienst. Außerdem würden Billionen zur Stabilisierung des internationalen Finanzsystems eingesetzt. »Mit diesem Geld wäre es möglich, allen Menschen Zugang zu sauberem Wasser und Grundnahrungsmitteln zu verschaffen, alle Aidskranken angemessen zu versorgen, Grundbildung für alle Menschen zu ermöglichen und eine einschneidende Klimaerwärmung zu verhindern, die in Kürze Ernten in Afrika halbieren wird«, so Steen.
Das für das Weltklima wichtige Amazonasgebiet solle durch internationale Steuern geschützt werden. Den Emissionshandel, mit dem sich Unternehmen von der Verminderung ihres CO2-Ausstoßes freikaufen können, lehnten sie ab.
* Aus: Neues Deutschland, 3. Februar 2009
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