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"Wir streben in Belém nach der kritischen Masse"

Konzentration auf Aktionen zur Veränderung des täglichen Lebens

Antonio Martins ist Mitbegründer des globalisierungskritischen Netzwerks Attac in Brasilien und einer der Initiatoren des ersten Weltsozialforums (WSF), das 2001 im brasilianischen Porto Alegre stattfand. Der Journalist ist Herausgeber der brasilianischen Ausgabe von »Le Monde Diplomatique«. Das neunte WSF findet vom 27. Januar bis zum 1. Februar in Belém im Amazonagebiet statt. Über die Forumsbewegung in Zeiten der Krise des Kapitalismus sprach mit ihm für das "Neue Deutschland" Sergio Ferrari.



ND: Das Weltsozialforum findet erstmals faktisch in der »Provinz« Brasiliens statt. Ändert das die Perspektive für das Forum?

Antonio Martins: Zum Teil. Das Forum 2009 soll von Neuem die gleiche Anziehungskraft ausstrahlen, wie es die ersten Foren taten. Wir wollen erreichen, dass von ihm Mobilisierungsanstöße ausgehen. Ideen wie Horizontalität, Vielfalt und Verschmelzung ungezählter Initiativen werden erneut gefestigt.

Gleichzeitig ist das Amazonasgebiet in vieler Hinsicht ein Raum, der sich unter dem beständigen Druck des Raubtierkapitalismus befindet. Belém kann die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf dieses Problem lenken.

Worin sehen Sie den Beitrag, den Belém zur weltweiten Debatte leisten kann?

In Belém gilt es, auf die aktuellen sozialen und politischen Fragen, die sich aus der gegenwärtigen umfassenden Krise ergeben, Antworten zu finden. Zum einen sind die Gefahren und Konsequenzen zu sehen, die sich aus dieser Krise ergeben: massenhafte Arbeitslosigkeit, Zerschlagung der produktiven Basis, dramatischer Abbau sozialer Rechte und Produktionsverlagerungen in Länder mit niedrigstem Lohnniveau. Hierin liegt die Gefahr faschistischer und chauvinistischer-rassistischer Entwicklungen. Zum anderen kann sich ein Fenster von Möglichkeiten öffnen, um den Zusammenbruch kapitalistischer Werte und kapitalistischer Logik zu zeigen und Alternativen zu erarbeiten, die den Weg zu einer anderen Form der Gesellschaft weisen. Die Krise deckt schlaglichtartig alle für das System typischen Widersprüche auf, darunter die der großen sozialen Probleme und Ungleichheiten. Gegenwärtig ist es möglich, eine Theorie der Emanzipation und des Postkapitalismus zu begründen, deren Keime sich bereits unter den Bedingungen des Kapitalismus entwickelt haben.

Zum Beispiel?

Damit meine ich die alternativen Aktivitäten, die vielfältigen Formen alternativer Bewegungen, oftmals lokal begrenzt, die von vielen sozialen Akteuren getragen und realisiert werden. Dafür sprechen die Erfahrungen und Ergebnisse vergangener Weltsozialforen. Haben wir schon eine solche kritische Masse erreicht, die in der Lage ist, unsere Antworten auf die Krise transformatorisch umzusetzen?

Ist nicht eine gewisse Erschöpfung der Forumbewegung, siehe das europäische, zu beobachten?

Ich erkenne keine Erschöpfung der Foren oder der Bewegung des Altermundialismus (Bewegung für eine andere Welt). Es gibt Bestrebungen (zum Beispiel eine Gruppe von Intellektuellen in einem Manifest 2005 in Porto Alegre), die darauf hinauslaufen, die Diversität einzuschränken und sich auf solche Bewegungen zu konzentrieren, die in der Lage sind, reelle antisystemische Veränderungen zu erkämpfen. Da das von der Mehrzahl der teilnehmenden Bewegungen nicht akzeptiert wurde, wurde das Argument der Erschöpfung der Forumsbewegung in Umlauf gesetzt. Für mich geht es aber um das Neue, was das Forum erbracht hat: Die neue politische Kultur drückt sich in der Ablehnung der institutionellen Machteroberung durch eine Partei via Wahlen oder Aufstand aus. Viele Teilnehmer des Forums kämpfen 365 Tage des Jahres mit ihren Aktionen für solche Werte wie Gleichheit in großer Diversität, das heißt sie ordnen sich keinen hierarchischen Strukturen unter, sondern konzentrieren sich auf Aktionen zur Veränderung des täglichen Lebens.

Sehen Sie trotz Ihres Optimismus Schwächen und Unzulänglichkeiten in diesem Prozess?

Klar, um diesen neuen Weg zu gehen, brauchen wir die Kraft, um diese Veränderungen herbeizu- führen, das heißt es müssen bedeutende Kampagnen und Aktionen eingeleitet werden. Wenn wir sagen, dass lokale Aktionen wertvoll sind, in denen es zum Beispiel um eine qualitative Produktion von Lebensmitteln geht, so müssen parallel dazu Aktionen durchgeführt werden, die sich für neue Regeln eines gerechten internationalen Handels stark machen. Das erfordert globale Abstimmungen und klare Zielstellungen. Zum Beispiel muss gefordert werden, dass, wenn Billiarden für die Rettung von Banken und des Finanzsystems eingesetzt werden, jedem Bewohner unseres Planeten 770 Dollar, das sind 2,1 Dollar täglich, in die Hand gegeben werden.

* Aus: Neues Deutschland, 28. Januar 2009


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