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"Die neoliberale Politik im Kern kritisieren"

Gespräch mit Sabine Leidig über ATTAC, Globalisierung und Krieg

In der Wochenendbeilage der "jungen Welt" erschien vor Weihnachten ein Interview mit Sabine Leidig, Bundesgeschäftsführerin von Attac. Sabine Leidig war kurz zuvor Gastrednerin beim Friedenspolitischen Ratschlag, wo sie über das Europäische Sozialforum informierte. Wir dokumentieren im Folgenden das Gespräch, das Thomas Klein mit ihr führte.


Gespräch mit Sabine Leidig, Bundesgeschäftsführerin von Attac Deutschland
Interview: Thomas Klein

Frage: ATTAC Deutschland hat vor genau einem Jahr in Frankfurt am Main sein Bundesbüro eröffnet. Erklärtes Ziel war eine Professionalisierung der Arbeit. Wie fällt Ihre Bilanz nach einem Jahr aus?

Sabine Leidig: Also, ich denke, daß der Umzug eine längst notwendige und gute Entscheidung war: Der Standort Frankfurt am Main - Symbol für die "Macht des Geldes" - ist aus allen Richtungen gut zu erreichen, und das Büro wird von vielen besucht.
Wir sind kein "Politbüro" und keine Entscheidungszentrale, sondern ein wichtiger Knotenpunkt in unserem vielschichtigen Netz. Unsere Hauptaufgabe ist es, die Arbeit der ehrenamtlich aktiven ATTACis in den Gruppen und Gremien zu unterstützen und die verwaltungstechnische Infrastruktur sicherzustellen. Das kriegen wir gut hin.
Was das Bundesbüro leider eine Zeitlang - länger als uns lieb war - sehr intensiv beschäftigt hat, war die prekäre Finanzsituation von ATTAC. Da waren Maßnahmepläne zur Einnahmensteigerung und zum Sparen angesagt, und monatelang war offen, ob das Bundesbüro mit seinen sechseinhalb Stellen so bleibt. Erst vor kurzem hat der Ratschlag einen Sparhaushalt für 2004 beschlossen, mit dem die neu geschaffene Struktur und das Bundesbüro erhalten werden.

F: Was sagen Sie zu der Kritik, daß auf Grund der Netzwerkstruktur und der heterogenen Zusammensetzung in ATTAC sehr unterschiedliche Positionen vertreten werden und es an Verbindlichkeit mangelt?

Das ist für uns deshalb kein großes Problem, weil wir hier nur sehr eingeschränkt die politische Außenvertretung von ATTAC wahrnehmen. Es gibt gut formalisierte Verfahren, mit deren Hilfe das Bundesbüro mit unterschiedlichen Positionen umgehen kann. Für uns ist wichtig, daß es in den gewählten Gremien und den bundesweiten Arbeitsgruppen jeweils Verantwortliche gibt, mit denen z. B. Pressemitteilungen oder Flugblätter im Rahmen des ATTAC-Konsenses abgestimmt werden.

F: Das Thema Krieg und Frieden hat ATTAC zu Zeiten des Irak-Krieges sehr beschäftigt. Es ist oft die Rede davon gewesen, daß die Zusammenhänge zwischen der neoliberalen Globalisierung und dem militärischen Eingreifen herausgearbeitet werden müssen. Ist das gelungen? Und ein anderer Punkt: Es gab in diesem Zusammenhang gelegentlich den Vorwurf, daß ATTAC immer auf die gerade angesagten Themen springt. Ein berechtigter Vorwurf?

Nein. Denn der Vorwurf, daß ATTAC auf gerade aktuelle Themen draufspringt, geht am Kern vorbei. Die aktiven Leute in den ATTAC-Gruppen haben dieses Thema nicht deshalb aufgegriffen, weil es im Koordinierungskreis oder irgendeinem Gremium so beschlossen wurde, sondern weil es sich um politisch denkende Zeitgenossen handelt, für die es selbstverständlich ist, das Thema Globalisierung und Krieg zu bearbeiten und bei Friedensdemonstrationen dabeizusein.
Was den Punkt neoliberale Globalisierung und Kriegsgefahren angeht, haben wir es schon geschafft, Zusammenhänge zu erklären und in unzähligen Veranstaltungen darzustellen. Es gibt dazu auch einen guten ATTAC-Basistext.
Anderseits gibt es ja auch längst andere Gruppen, die zu diesen Themen arbeiten. Ich war Anfang Dezember auf dem Friedensratschlag in Kassel, und da ist doch sehr deutlich geworden, wie sich große Teile der Friedensbewegung mit diesen Zusammenhängen beschäftigen.

F: Meine Frage bezog sich weniger auf den Diskussionsprozeß, der bei denen zu beobachten ist, die sich in der Friedensbewegung engagieren, sondern darauf, genau über diese Kreise hinaus Zusammenhänge zu vermitteln.

Nun, gerade beim Irak-Krieg ist das gut gelungen. Die Meinung, daß es bei diesem Krieg vor allem um Öl und um Ressourcen ging, und darum, sich im globalen Wettkampf Vorteile zu sichern, ist kein Insiderdiskurs. Solche Erkenntnisse sind in der Gesellschaft sehr breit verankert.
Schwieriger ist es noch, die Rolle der EU in der globalen Auseinandersetzung, auch im Hinblick auf ihre militärische Positionierung, ins Blickfeld zu rücken. Aber genau das ist wichtig. Die Verpflichtung zur Aufrüstung und noch mehr weltweite Militäreinsätze, die jetzt auch in der EU-Verfassung festgeschrieben werden sollen, das ist etwas, was viel mehr öffentlich kritisiert werden muß. Dazu gibt es von ATTAC - sozusagen druckfrisch - ein Papier der EU-Arbeitsgemeinschaft, das Fakten und Argumente bietet, und hilft, Informationslücken zu füllen.

F: Vor der Großdemonstration gegen Sozialabbau am 1. November in Berlin haben die Grünen-Politikerinnen Angelika Beer und Katrin Göring-Eckardt ATTAC für "politikunfähig" erklärt, weil nicht zwischen den Plänen der Bundesregierung aus SPD und Bündnis90/Die Grünen auf der einen und den Vorschlägen der Union auf der anderen Seite differenziert werde.

Das Problem ist, daß eine Differenzierung zwischen den Plänen der Regierungskoalition und denen der CDU/CSU so schwer ist, weil sie im Grunde in die gleiche Richtung gehen. Das ist also keine Frage von "Politikunfähigkeit", jedenfalls nicht auf unserer Seite, sondern wenn überhaupt, dann auf Seiten derer, die keine wirklichen Alternativen anbieten.
Die neoliberalen Politikansätze, wie sie z.B. in der "Agenda 2010" deutlich werden, treten doch immer stärker zutage: Lohnsenkungen, Senken der Sozialquote, Vorantreiben von Privatisierungen, Spitzensteuersenkung - das ist ein ganzes Arsenal von Maßnahmen, das so von CDU/CSU und FDP in gleicher Weise gefordert wird. In der ein oder anderen Ausprägung vielleicht nicht so schlimm oder aber gar noch schlimmer - im Grundsatz, in der Zielrichtung - jedoch nicht unterscheidbar.
ATTAC hat es in den vergangen Jahren geschafft, die neoliberale Politik im Kern, an der Wurzel zu kritisieren. Und sich nicht auf einzelne Spezialistendebatten einzulassen. Wenn man den Kern der Auseinandersetzung nicht beschreibt, dann verliert man in realpolitischen Umsetzungsdebatten ganz schnell aus den Augen, daß es darum gehen muß. die Richtung zu ändern. Und nicht darum, ein bißchen mehr oder ein bißchen weniger von einer falschen Medizin zu verordnen. Genau das nehmen uns die Angelika Beers übel.

F: Gelegentlich ist die manchmal polemisch gemeinte Einschätzung zu hören, daß ATTAC so etwas wie die außerparlamentarische Sozialdemokratie sei. Wird das ernstgenommen, kann es auch in einem positiven Sinn zu verstehen sein: Greift ATTAC Themen auf, die von den Parteien links liegengelassen werden, und macht Defizite der Politik deutlich, die von sozialen Bewegungen aufgegriffen werden?

Ich schätze es durchaus so ein, daß ATTAC in der sozialen Frage in eine Auseinandersetzung eingestiegen ist, in der es Bedarf an neuen Antworten und an radikaler Kritik gibt.
Das liegt aber meines Erachtens nicht nur im Versagen der Parteien, sondern auch an der Zögerlichkeit der Gewerkschaften. Anders gesagt: an der nichtgelösten Bindung der Gewerkschaften zur SPD. Eine Lücke ist entstanden, in der sich im Grunde die Gewerkschaften längst als sozusagen außerparlamentarische Opposition hätten formieren müssen - gegen die Prozesse der sozialen Erosion, die ja schon eine ganze Weile in Gang sind, und gegen die Umverteilung von unten nach oben.
Ich denke, daß sich die Hoffnungen, in einem "Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit" in die Standortsicherung eingebunden zu werden und damit Stärke zu erhalten, einfach nicht erfüllt haben.

F: Ist das auch eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie? Sie waren DGB-Vorsitzende in Mittel-Baden ...

... ja auch. Die Gewerkschaften sind ja nicht einförmig, aber doch oft ein- oder festgefahren.
Ich beobachte, daß ATTAC hier auch so ein Art Katalysatorfunktion haben kann: Kräfte in den Gewerkschaften zu ermuntern, in bestimmter Weise aktiv zu werden. Das haben wir beispielsweise am 1. November erlebt. Die Masse der Demonstrierenden, die sich an diesem Tag an der Großdemonstration beteiligten, sind von Gewerkschaftern aktiviert worden. Sie hatten das vorher in ihren Gremien diskutiert und die Beteiligung durchgesetzt. ATTAC allein könnte eine solche Masse nicht auf die Beine bringen.
Einen solchen Prozeß anzuschieben, Mut und Hoffnung zu machen - das ist ein wichtiger Kick für weitere Mobilisierung.

F: Welche Erfahrungen haben Sie, seit Sie Geschäftsführerin im ATTAC-Bundesbüro sind, mit Gewerkschaftsvertretern gemacht?

Ich beobachte, daß viele gegenüber ATTAC offener geworden sind. Ich habe vor drei Jahren in Karlsruhe eine ATTAC-Gruppe mitgegründet. Und da gab es noch eine große Reserviertheit, durchaus auch borniert: Wir in den Gewerkschaften sind eine Riesenorganisation, und jetzt kommt da so etwas Kleines und will sich mit Globalisierung beschäftigen, das machen wir doch schon lange.
Diese Haltung gibt es so heute wohl nicht mehr. Die gemeinsame Kampagne gegen GATS hat gerade mit den Gewerkschaftern im öffentlichen Dienst die Zusammenarbeit gefördert. Und beim Kampf gegen sozialen Kahlschlag ist die Bündnisbereitschaft deutlich gewachsen.

F: Bezieht sich das nicht in erster Linie auf die gewerkschaftliche Basis?

Ja, aber auch an der Spitze ist etwas in Bewegung geraten. Es ist ein komplizierter und widersprüchlicher Prozeß im Gang, gut sichtbar bei der IG Metall.
Und bei ver.di sehen wir doch ebenfalls gerade an der Spitze eine große Offenheit gegenüber bewegungsorientierten Gruppen, also gegenüber außerparlamentarischem Druck. Es wäre zu einfach, mangelnde Konfliktbereitschaft auf ein Problem zwischen Führung und Basis zu reduzieren.

F: ATTAC und andere Organisationen ist es gelungen, das vom Frankfurter Magistrat geplante Cross-Border-Leasing-Geschäft, den Verkauf der städtischen U-Bahn an einen US-Investor, zu durchkreuzen. Zu den Gruppen, die das Bürgerbegehren unterstützten, gehörte auch eine kleine Ratsfraktion im Römer: das Bündnis für Frankfurt - Freie Wähler (BFF). Um die Mitarbeit des BFF ist zeitweise Streit entbrannt, und es gab die Vorwürfe, ATTAC grenze sich nicht entschieden genug gegen rechts ab. Waren hier Klärungsprozesse notwendig, und gab es sie inzwischen?

Die Auseinandersetzung in Frankfurt war nur ein Bestandteil eines Klärungsprozesses, der schon umfassender in ATTAC läuft. Es geht um die Frage: Wie wird eine Abgrenzung gegen rechtsextreme, nationalistische, sexistische und antisemitische Positionen umgesetzt?
An sich klar ist, daß eine solche Abgrenzung die politische Praxis bestimmen muß. Die andere Geschichte ist, wer das wie konkret in einzelnen Arbeitszusammenhängen tut. In der Frankfurter Gruppe gab es in der Tat einen Streit darüber, nicht ob, sondern wann man diese Abgrenzung vollzieht.
Die aber an sich viel diffizilere Auseinandersetzung betrifft die Frage der Anschlußfähigkeit von ATTAC-Positionen für Rechtsextreme und Antisemiten. Das ist die Diskussion, die viel schwieriger zu führen und zu Ergebnissen zu bringen ist. Schon deswegen, weil ein theoretisch möglicher Mißbrauch nicht dazu führen darf, daß wir richtige Positionen deshalb aufgeben.
Es geht also darum, die eigene Position möglichst differenziert zu vertreten, um unerwünschten Anschluß möglichst zu verhindern. Deutlich wird das bei Kritik an der israelischen Besatzungspolitik. Hier ist es gelungen, in einer sehr intensiven Auseinandersetzung, die noch nicht zu Ende ist, auf dem Ratschlag in Aachen ein gemeinsames Papier zu erarbeiten, das diesen Anspruch erfüllt.

F: Wie sieht das aus?

Klar ist, daß es nicht um "die Israelis" geht, sondern daß wir die menschenverachtende Besatzungspolitik der israelischen Regierung und die Maßnahmen des israelischen Militärs verurteilen. Auf der anderen Seite wird das Widerstandsrecht der Palästinenser anerkannt, aber die entsetzlichen Selbstmordattentate lehnen wir ab.
Es wir deutlich gemacht, daß unsere Solidarität den Friedenskräften auf beiden Seiten gilt. Natürlich geht diese Debatte weiter und im Januar wird ein Workshop stattfinden, auf dem es vertiefend um die Frage der Anschlußfähigkeit für Antisemitismus geht.

F: Ich will hier noch mal nachhaken. War die Zusammenarbeit in Frankfurt aus Ihrer Sicht ein Fehler?

Ja, aber einer, aus dem gelernt worden ist. Ich bin sicher, daß es in Frankfurt so etwas nicht mehr geben wird, weil alle, auch diejenigen, die während des laufenden Bürgerbeteiligungsverfahrens nicht die Arbeit im Bündnis beenden wollten, jede weitere Zusammenarbeit mit dem BBF klar abgelehnt haben. Und es war den Aktiven im Bündnis zunächst nicht klar, um was für einen Verein es sich beim BBF handelt. Durch Leute, die zum Thema Neue Rechte arbeiten, ist da erst die notwendige Aufklärung angestoßen worden.

F: Welche inhaltlichen Schwerpunkte wird es in nächster Zeit geben?

Bei dem Arbeitsschwerpunkt unter der Überschrift "Genug für alle" wollen wir die inhaltliche Arbeit in den ATTAC-Gruppen voranbringen und Aktionsfähigkeit entwickeln. Für ATTAC geht es darum, die Zusammenhänge zwischen einer neoliberalen Weltpolitik und dem, was hier als sozialer Kahlschlag ankommt, herzustellen. Es geht um Verteilungsfragen hier und weltweit. Wir wollen Perspektiven entwickeln für soziale und ökonomische Menschenrechte, die ohne die herrschende Verzichtsideologie auskommen.
Der zweite Schwerpunkt, die WTO, hat verschiedene Facetten. Das Hauptthema wird "Privatisierung lokal und global" sein - eine Weiterentwicklung der GATS-Kampagne. Die Diskussion um eine alternative Weltwirtschaftsordnung wird weitergeführt und dann natürlich die Kritik an der WTO. Aktuell geht es um Gen-Food-Entscheidungen. Das ist ein besonders anschauliches Beispiel, wie die WTO in unser alltägliches Leben eingreift. Es läuft derzeit ein Schiedsgerichtsverfahren, bei dem die USA dagegen klagen, daß Europa auf der Kennzeichnung für gentechnisch veränderte Lebensmittel besteht. Die USA betrachten das als ein Handelshemmnis und haben deshalb eine Klage eingereicht. Das ist genau das, wovor wir seit langem warnen: daß soziale oder Umweltstandards als Handelshemmnisse definiert werden. Genau das droht nun.

Aus: junge Welt, 20. Dezember 2003


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