Gemischte Bilanz
Das Europäische Sozialforum in Istanbul ist vorüber, und die Teilnehmer kehren mit zwiespältigen Gefühlen heim
Von Wolfgang Pomrehn *
Mancher Teilnehmer wird enttäuscht nach Hause gefahren sein. In Istanbul
ging am gestrigen Sonntag das sechste Europäische Sozialforum zu Ende.
Mit wenigen tausend - die Hälfte davon aus dem Ausland - war die
Besucherzahl eher bescheiden ausgefallen. Die von den türkischen
Veranstaltern erhofften 10000 wurden bei weitem verfehlt. Auch die
Demonstration zum Abschluß des Forums war mit vielleicht 7000
Teilnehmern mager besucht. Fahnen und Transparente diverser linker meist
türkischer und kurdischer Parteien dominierten das Bild. Hier und da
verteilten sich kleine Gruppen schwedischer, belgischer, französischer,
deutscher und italienischer Gewerkschafter. Der türkische linke
Gewerkschaftsdachverband DISK hatte ebenfalls aufgerufen und gehörte
auch zu den Veranstaltern des Forums, aber seine Mitgliedschaft war
größtenteils zu Hause geblieben.
Vier Tage lang wurde in Istanbuls Technischer Universität über
Gewerkschaftsrechte und die Lage im türkischen Teil Kurdistans
diskutiert, über die Kriege in Afghanistan, im Irak und in
Tschetschenien, über europäische Tarifpolitik, linke Medien,
Bildungspolitik, Wasserprivatisierung, die Verteidigung der öffentlichen
Dienstleistungen und nicht zuletzt über die Lage in Palästina. Gleich
auf sechs Veranstaltungen verurteilten Vertreter der Kommunistischen
Partei des Libanons, der Volksfront zur Befreiung Palästinas sowie
anderer linken Organisationen zusammen mit türkischen
Solidaritätsgruppen die Politik Israels und der USA. Auf der
Demonstration zum Abschluß des Forums wehten viele palästinensischen
Fahnen neben den roten diverser kommunistischer Organisationen und den
schwarz-türkisen Bannern eines ansehnlichen Blocks türkischer Anarchisten.
Auch die gegenwärtige Wirtschaftskrise, die Europa besonders beutelt,
kam in vielen Seminaren zur Sprache. Das französisch-belgische Komitee
für die Streichung der Schulden der Dritten Welt organisierte zum
Beispiel eine Diskussionsrunde über die Frage der öffentlichen Schulden
in Europa (siehe Interview). Teilnehmer aus Griechenland berichteten in
diesem Zusammenhang von der zunehmenden Präkarisierung und zugleich
Radikalisierung in ihrem Land. Ein französischer Teilnehmer wies darauf
hin, daß in der Vergangenheit in Zeiten größerer Krisen der Krieg für
die herrschenden Eliten stets ein Ausweg gewesen ist, um den Unmut der
Bevölkerung auf einen eingebildeten äußeren Feind abzulenken.
Eingeengtes Spektrum
Umweltgruppen, Frauenorganisationen, Studentenvereine, die in Istanbul
nicht unwichtigen Initiativen gegen Stadterneuerung, die sich gegen die
Vertreibung aus ihren Vierteln wehren, sowie andere soziale Bewegungen
waren auf dem Forum kaum vertreten. Auch auf der Demonstration spielten
sie keine Rolle. Hat sich die Sozialforumsbewegung vielleicht überlebt,
wie einige ausländische Teilnehmer meinten? Vermutlich eher nicht. Im
Oktober vergangenen Jahres hatte im Osten der Türkei, im kurdischen
Diyarbakir das erste Mesopotamische Sozialforum stattgefunden, das von
den Veranstaltern wie Beobachtern mit seinen rund 10000 Teilnehmern als
sehr erfolgreich eingeschätzt wurde. Noch in diesem Jahr soll eine
Wiederholung stattfinden. Auch das zweite Sozialforum der USA, das sich
Ende Juni in Detroit traf, war mit etwa 15000 Besuchern nicht gerade
schlecht besucht. Dorthin hatte es vor allem viele junge Umweltschützer
gezogen.
Das Europäische Sozialforum fällt also eher aus der Reihe. Sein
enttäuschender Verlauf hat mehrere Gründe. Zum einen mag die Geografie,
die Randlage Istanbuls, eine Rolle gespielt haben. Schon das
Vorgängerforum im südschwedischen Malmö, für die meisten Europäer
ebenfalls am Rande des Kontinents gelegen, war deutlich schlechter
besucht gewesen. Die vorhergehenden Veranstaltungen in Florenz, Paris
und London hatten jeweils viele Zehntausende Interessierte angezogen.
Wichtiger war aber wahrscheinlich, daß erstens die hiesigen Veranstalter
erstmals in der Geschichte des ESF ohne Unterstützung der lokalen
Behörden auskommen mußten. Vor allem war aber der Veranstalterkreis
politisch zu stark eingeschränkt. Viele linke Strömungen waren offenbar
nicht vertreten, noch mehr mangelte es im Organisatorenkreis an sozialen
Bewegungen.
Und wie geht es weiter? In zwei Jahren wird es das nächste Europäische
Sozialforum geben, so viel steht bereits fest. Wo es sein wird, ist noch
offen, aber einige Insider sprechen bereits von Wien. Das hatte sich
schon 2008 angeboten.
* Aus: junge Welt, 5. Juli 2010
Erklärung: Gemeinsam gegen die Krise handeln
Wie immer wurde das Europäische Sozialforum (ESF) mit einer offenen
Versammlung abgeschlossen, die zwar nicht den Anspruch hat, für das
Forum zu sprechen, aber dennoch versucht, Akzente für gemeinsame
internationale Aktionen zu setzen. Dabei wurde es am Sonntag noch einmal
richtig kämpferisch. In einem dicht besetzten Hörsaal waren sich einige
hundert Aktivisten aus ganz Europa einig, daß gemeinsame Aktionen gegen
die Krise notwendig sind und die vom Europäischen Gewerkschaftsbund für
den 29. September in Brüssel angekündigte zentrale Demonstration dafür
ein Anfang sein könnte. Im folgenden veröffentlicht jW die Erklärung
dieser »Versammlung der sozialen Bewegungen«.
(...) Angesichts der globalen Krise und der konzertierten Angriffe der EU,
der Regierungen und des IWF (Internationalen Währungsfonds), mit denen
sie Austeritätsmaßnahmen und sozialen Rückschritt durchsetzen, rufen die
sozialen Bewegungen, die sich in Istanbul versammelt haben, zu
gemeinsamen Handeln in Europa auf.
Überall in Europa entwickelt sich Widerstand gegen diese Politik.
Langfristig ist es wichtig, einen gemeinsamen Kampf aufzubauen, der
soziale Bewegungen, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen und andere
Organisationen zusammenbringt. Deshalb rufen wir dazu auf, den 29.
September sowie die Tage davor und danach als einen ersten Schritt zu
nutzen, eine europaweite Mobilisierung zu schaffen. Wir müssen
alternative politische Konzepte entwickeln, die den sozialen
Bedürfnissen und den ökologischen Notwendigkeiten entsprechen.
Alle soziale Bewegungen rufen zu einer europäischen Versammlung am 23.
und 24. Oktober (oder am 13. und 14. November) in Paris, um unsere
Mobilisierungen und unsere Koordination voranzubringen, das Istanbuler
Forum auszuwerten und über die Zukunft des Europäischen Sozialforums zu
beraten.
Übersetzung: Wolfgang Pomrehn
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