Europäisches Sozialforum: Viel geredet, nichts bewegt?
Manche Aktivisten äußerten Kritik an der Unverbindlichkeit des Treffens
Von Jan Keetmann, Istanbul *
Nach vier Tagen intensiver Treffen ist das Europäische Sozialforum nun
vorbei. Doch was hat es gebracht?
Zum ersten Mal hat das Europäische Sozialforum (ESF) in einem Land
stattgefunden, das kein EU-Mitglied ist. Ein Land überdies mit eigenen
Problemen, wie der auf dem Forum sehr präsenten Kurdenfrage. Ein Land,
das vielfach gespalten ist, in der Kurdenfrage wie zwischen islamisch
orientierten und laizistischen Gruppen, mit Ultras auf beiden Flügeln.
Wären etwa Vertreter von Dogu Perinceks Arbeiterpartei (IP) oder
islamistische Israelkritiker auf dem Forum aufgetreten, wären daher
vermutlich rasch die Fetzen geflogen. Nicht zu sehen waren dort auch das
streng kemalistische Spektrum der türkischen Linken. Die Atmosphäre des
ESF scheint eben nicht jeden in gleicher Weise anzuziehen, selbst wenn
er sein Thema dort unterbringen könnte.
Wunsch nach einem Gegenforum zu Davos
Fragen wie die, ob die Türkei zu Europa gehört, spielten auf dem Forum
jedoch keine Rolle. Man wollte ohnehin ein anderes Europa und auch mit
der Kapitalismuskritik war man sich rasch einig. Eine Minderheit äußerte
indessen auch Kritik am Forum.
Darunter war auch der Vorsitzende der Konföderation der Gewerkschaften
der Arbeiter des öffentlichen Sektors (KESK), Sami Evren. Evren
kritisierte, dass auf den Sozialforen nur endlos diskutiert werde,
anstatt etwas zu tun: »Die Unterdrückten, die Armen, die
Marginalisierten, die für nichts Geachteten können ihre Existenz nur
durch Kampf beweisen«, gab Evren zu bedenken. Die Sozialforen seien kein
Gegengewicht zu Gipfeln wie Davos oder den G20.
Der Wunsch nach einem Gegenforum zum Weltwirtschaftsforum von Davos, wo
man anscheinend die Lenkungszentrale des Kapitalismus vermutet, war auch
von anderen türkischen Gewerkschaftern zu hören, etwa von Mahmut Arslan,
stellvertretender Vorsitzender des Gewerkschaftsverbandes HAK-IS.
Dass das Europäische Sozialforum nie so etwas wie ein gutorganisierter
Parteikongress sein kann und sein soll, ist in der Türkei offenbar noch
nicht bei allen angekommen, wenngleich die Einforderung von mehr
Verbindlichkeit auch nicht an sich falsch ist. Unterm Strich kann man
leider nicht sagen, dass das ESF die Türkei mehr als nur gestreift habe.
Aber vielleicht liegt der Zweck solcher Foren ohnehin eher auf der
langfristigen Ebene. Die ausgetauschten Ideen und geknüpften Kontakte
können lange nachwirken.
Gewissermaßen Abschied genommen vom sechsten ESF hatten die Teilnehmer
bereits am Samstagabend (3. Juli) . Mit einer Demonstration zogen sie zu Istanbuls zentralem Taksim-Platz. Weit vorn dabei eine griechische Frauengruppe
mit einem besonders schönen Transparent, das Frauen zeigte, die Hand in
Hand über den Globus tanzen. Etwas dahinter ein Block von Arbeitern mit
einheitlichen Schildkappen und Fahnen der Transportgewerkschaft TüMTIS.
Ignoranz bei den türkischen Medien
Die TüMTIS-Arbeiter demonstrierten gegen die Kündigung von 120
Gewerkschaftsmitgliedern durch die Firma United Parcel Service (UPS).
Die IG Metall Jugend hatte Vertreter geschickt, die auf der
Demonstration in Sprechchören die internationale Solidarität hochleben
ließen, was so viel Anklang fand, dass einige türkische Gewerkschafter
die Parole in Deutsch wiederholten. Eine Gruppe Italiener sang das
»Bella Ciao«-Lied, kurdische Mütter in traditioneller Tracht liefen fast
am Ende des Zugs, in den Händen die Bilder von Angehörigen, die nach
ihrer Festnahme meist vor Jahren spurlos verschwunden sind.
Die Passanten am Wege schauten nicht unfreundlich, aber doch verwundert
auf den Zug, denn die türkischen Medien, darunter auch einige linke
Medien, hatten das Europäische Sozialforum völlig ignoriert. Auch ist
man Demonstrationen auf dieser Route einfach nicht gewöhnt: Ein
dreiunddreißigjähriges inoffizielles Demonstrationsverbot für den Taksim
wurde erst vor zwei Monaten aufgehoben.
Ganz auf den Taksim kam auch das Sozialforum nicht, man bog am Rande in
einen Park ab.
* Aus: Neues Deutschland, 5. Juli 2010
"Wir wollen ein Europa der Arbeit"
Interview mit Süleyman Celebi **
Süleyman Celebi ist Vorsitzender der Konföderation der Revolutionären
Arbeitergewerkschaften (DISK). Die DISK ist einer der drei großen
Dachverbände der türkischen Gewerkschaftsbewegung. Mit Celebi sprach für
das Neue Deutschland (ND) Jan Keetmann.
ND: Welche Themen beim ESF waren Ihnen besonders wichtig?
Mich persönlich hat am meisten interessiert, etwas über die Auswirkungen
der Krise zu erfahren, über die gestiegene Arbeitslosigkeit und wie das
gelöst werden kann. Außerdem hatte ich Interesse an Begegnungen mit
anderen Gewerkschaften und an Umweltthemen.
Möchten Sie die Verbindungen mit Gewerkschaften in anderen europäischen
Ländern ausbauen?
Wir hatten schon früher sehr gute Beziehungen und haben die Solidarität
nach dem Militärputsch 1980 nicht vergessen. Es gibt zwei Europas - das
der Arbeit und das des Kapitals. Wir wollen unsere Arbeitskraft
zusammenschließen, um das Europa der Arbeit auszubauen.
War die Krise in der Türkei anders als im übrigen Europa? Es gibt doch
sicher einen Unterschied zu Griechenland?
Das, was Griechenland jetzt erlebt, hatten wir im Jahr 2001 mit der
türkischen Bankenkrise. Seit der Gründung des IWF hatte die Türkei fast
ständig mit ihm zu tun. Von der letzten Krise sagte unser
Ministerpräsident, sie habe die Türkei nur wie eine Tangente gestreift.
Er hat recht - aber nur, was ihn und seine Leute angeht.
Es gibt ein paar günstige Wirtschaftsdaten, aber die sind künstlich. Dem
Land geht es erst gut, wenn Arbeitslosigkeit und Armut abnehmen. Das ist
nicht der Fall.
Ein Beispiel möchte ich nennen: Vor zwei Jahren haben die 500 größten
Firmen der Türkei ihre Gewinne um 162 Prozent gesteigert, zugleich
entließen sie 43 000 Arbeiter. Bei uns sind offiziell 2,5 Millionen
Menschen arbeitslos, mit Familien sind rund 10 Millionen betroffen. Das
ist die Einwohnerzahl Griechenlands.
Die Türkei gehört zu den Ländern, die von der Krise am schwersten
betroffen sind. In Deutschland ist die Arbeitslosigkeit aufgrund
politischer Maßnahmen nicht so sehr gestiegen wie bei uns.
Die Krise hatte noch eine andere Wirkung: Die türkische Regierung hat
deswegen eine Reform des Gewerkschaftsrechtes verschoben ...
Seit 27 Jahren sagt jede Regierung jedes Jahr, wenn wir kommen, dass sie
im nächsten Jahr die Gesetze ändern werde. Nichts ist geschehen. Aber
Erdogans AK-Partei muss man einen wirklichen Erfolg zubilligen. Sie hat
es geschafft, alle in Europa davon zu überzeugen, dass sie die einzige
Partei in der Türkei ist, die für Demokratie kämpft. In Wirklichkeit tut
sie das gar nicht - nicht, was die kurdische Frage betrifft und nicht
bei den Gewerkschaftsrechten.
Die Gewerkschaften haben nicht einmal auf dem Papier Rechte. Wir wären
schon froh, wenn wir nur die Rechte aus der Zeit vor dem Militärputsch
von 1980 wieder hätten. 1980 hatte die Türkei 42 Millionen Einwohner und
2,5 Millionen aktive Gewerkschafter. Heute hat sie 72 Millionen
Einwohner aber nur 700 000 organisierte Gewerkschafter.
** Aus: Neues Deutschland, 5. Juli 2010
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