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Die Türkei ist vielschichtig

Europäisches Sozialforum kommt nach Istanbul

Von Jan Keetman, Istanbul *

Tausende Vertreter der Zivilgesellschaft Europas werden bis zum Wochenende das Bild Istanbuls prägen.

Von heute bis Sonntag findet in Istanbul das sechste Europäische Sozialforum (ESF) statt. Gewerkschafter, linke Parteien, Umweltgruppen, Globalisierungsgegner und Feministinnen aus 36 Ländern werden in der türkischen Metropole erwartet. Hüseyin Yesil, Vertreter der Partei für Freiheit und Solidarität im Aktionskomitee, rechnet mit 2000 bis 2500 Delegationen, darunter Teilnehmer aus Irak.

In rund 200 Veranstaltungen wird über soziale Probleme diskutiert, die man in der Türkei zum Teil aber gar nicht kennt – zum Beispiel den »Kampf gegen Sparmaßnahmen«, den linke Gewerkschafter unter dem Motto »Wir zahlen nicht für Eure Krise!« thematisieren wollen. Die Türkei ist mit einer durch Privatisierungen gefüllten Staatskasse in die Krise gegangen, musste keine einzige Bank stützen und braucht jetzt auch kein spezielles Sparprogramm.

Am Arbeitsmarkt war die Krise allerdings stärker zu spüren als andernorts. Außerdem diente sie der Politik als Vorwand, eine dringend notwendige Reform der Gewerkschaftsrechte wieder abzusagen. Und nebenbei tat die Regierung einen Griff in die Arbeitslosenversicherung, von der wegen sehr enger Bestimmungen kaum ein Arbeitsloser profitiert.

Das Europäische Sozialforum könnte von spezifisch türkischen Problemen überschattet werden, etwa beim Thema Gaza und Solidarität mit den Palästinensern. Wie werden die Teilnehmer reagieren, wenn die Kritik an Israel mit antisemitischen Äußerungen verbunden wird? Für viele türkische Linke gibt es das Thema Antisemitismus überhaupt nicht.

Ein anderer heikler Punkt ist die kurdische Frage. Auf der Eröffnungsveranstaltung wird der ehemalige Führer der im Dezember verbotenen prokurdischen Partei für eine demokratische Gesellschaft (DTP), Ahmet Türk, sprechen. Trotz des sehr geringen Finanzrahmens – bisher musste kein ESF mit so wenig Geld auskommen – wird es auch Übersetzungen ins Kurdische geben. Das ist ungewohnt, sichert aber nebenbei, dass einige Ultranationalisten erst gar nicht teilnehmen werden. Zu Spannungen könnte es dagegen kommen, wenn Veranstaltungen oder Demonstrationen zu Solidaritätsbekundungen für die PKK oder deren inhaftierten Führer Abdullah Öcalan genutzt werden.

Dass das Europäische Sozialforum überhaupt in der Türkei stattfindet, zeigt indes, wie vielschichtig das Land ist. Dies lässt sich exemplarisch an der jüngeren Geschichte des Taksim-Platzes aufzeigen, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft die Veranstaltungen stattfinden werden. Wie die Tauben und die Blumenverkäuferinnen waren hier auch Polizeibeamte Dauergäste. Für Demonstrationen war der Platz jahrelang weitgehend tabu. Nach 33 Jahren wurde der Taksim 2010 überraschend für eine Kundgebung am 1. Mai freigegeben. Diese wurde riesengroß und verlief völlig friedlich. Einen Monat später stürmten tausende bärtige Männer und schwarzumwickelte Frauen zum Taksim, um neben dem Standbild Atatürks gegen Israel zu demonstrieren. An diesem Montag gab es hier eine kleine, aber sehr bunte Demonstration von Lesben, Schwulen und Transsexuellen. Am Mittwoch wurde im Vorfeld des Europäischen Sozialforums gegen die Unterdrückung von Frauen in der Türkei und benachbarten Ländern am Taksim demonstriert.

Lexikon

Das zuletzt alle zwei Jahre stattfindende Europäische Sozialforum (ESF) ist quasi die Regionalausgabe des Weltsozialforums. Ins Leben gerufen wurde die Großveranstaltung von Globalisierungskritikern, die für globale Gerechtigkeit, die Rechte der Lohnabhängigen und für nachhaltiges Wirtschaften eintreten. 2002 fand das erste ESF im italienischen Florenz statt. Es folgten Sozialforen in Paris, London, Athen und Malmö. Im Vergleich zu den Anfängen hat die Veranstaltung deutlich weniger Zulauf. ND



* Aus: Neues Deutschland, 1. Juli 2010


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