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Krankes System

Aktion statt Attitüde: In Basel diskutierten 500 Aktivisten über lokalen Widerstand und Alternativen zum globalen Kapitalismus

Von Frank Brunner, Basel *

Für Franco Cavalli muß es eine ganz neue Erfahrung gewesen sein. Am späten Freitag abend räumte der bekennende Marxist ein, zumindest in einem Punkt die Meinung von Frankreichs konservativem Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy zu teilen. »Wenn Sarkozy sagt, das kapitalistische System sei entartet, dann hat er recht«, erklärte Cavalli in der vollbesetzten Aula der Baseler Universität. Dort hatten sich am Wochenende etwa 500 Globalisierungskritiker zum Kongreß »Das andere Davos« versammelt. Bereits zum zehnten Mal initiierten ATTAC sowie einige Gewerkschaften die Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsgipfel. Diesmal kein leichtes Unterfangen. Denn Globalisierungskritik ist derzeit en vogue.

»Wir müssen unsere Sicht der Welt korrigieren«, forderte beispielsweise Sarkozy bei der Eröffnung des Weltwirtschaftsforums in Davos. Der wirtschaftliche Absturz sei »eine Krise der Globalisierung«, man habe zuviel Vertrauen in die Kräfte des Marktes gesetzt, so der französische Staatschef in lupenreinem ATTAC-Stil. Für die Globalisierungskritiker ist das nur Attitüde. »Wenn ein System entartet sei, dann heißt das auch, daß es nicht überlebensfähig ist«, betonte Cavalli. Der 67jährige weiß, wovon er spricht. Cavalli gilt als einer der renommiertesten Krebsforscher; zudem vertrat er zwölf Jahre lang die Tessiner Sozialdemokratische Partei im Schweizer Nationalrat, bevor er sich 2007 aus der Politik zurückzog. Die Gesundheit der Bevölkerung sei der »Lackmustest für eine Gesellschaft«, und da habe der Kapitalismus versagt, distanzierte sich Cavalli dann doch deutlich von Sarkozy.

Frankreichs Präsident hofft, den Kapitalismus durch eine Erneuerung zu retten. Eine Möglichkeit, an die in Basel keiner mehr glaubte. »Widerstand zeichnet Konturen einer anderen Welt«, lautete dort das Motto. Tatsächlich waren die linken Aktivisten in der Baseler Uni am Wochenende Welten vom etwa 230 Kilometer südöstlich gelegenen Davos entfernt. Während in dem Schweizer Skiort 2500 Politiker, Wissenschaftler und Manager - bewacht von Tausenden Polizisten - debattierten, wie sich künftig Bürger mit Bankern versöhnen, Markt und Macht erhalten lassen, berichteten in der Chemie- und Pharmametropole Basel Mitglieder zahlreicher Initiativen von erfolgreichen Projekten, die bereits existieren.

Felipe Polania beispielsweise. Er gehört zum Verein »Bildung für alle«, der Deutschkurse organisiert. »Vor fünf Jahren, nach der Verschärfung der Flüchtlingsgesetze, haben wir die 'Autonome Schule Zürich' gegründet«, erzählt Polania. Es gebe vor allem aber Sprachunterricht für illegalisierte Migranten. Ein Engagement, das nicht alle begrüßen. Vor drei Wochen räumte die Polizei das Schulgebäude. Mittlerweile habe man aber neue Räume gefunden, so Polania.

Mit ähnlichen Problemen hat auch Claudia Nogueira zu kämpfen. Sie ist Professorin an der Universidade Federal de Santa Catarina in Brasilien und unterstützt Bildungseinrichtungen der Landlosenbewegung MST. Mit schätzungsweise 1,5 Millionen Anhängern gehört die MST zu den größten sozialen Organisationen in Lateinamerika. Eines ihrer Projekte sind die Wanderschulen. Mit diesen Einrichtungen soll Kindern auch in entlegenen Gebieten Lesen und Schreiben beigebracht werden.

Für Angelica Navarro, Botschafterin Boliviens bei den Vereinten Nationen, hat die Alphabetisierung ebenfalls Priorität. »Wir werden dabei sehr von Kuba unterstützt«, berichtete sie. Für Solidarität mit dem sozialistischen Karibikstaat warben mehrere Organisationen, die sich während des Kongresses an diversen Infoständen präsentierten. Scharfe Kritik wurde dagegen an den USA geübt. Mit deren politischer Rolle beschäftige sich der Politikanalytiker Noam Chomsky, der per Video zugeschaltet wurde. »Die Demokratie ist gut, solange die US-Interessen gewahrt werden«, lautete sein Fazit.

* Aus: junge Welt, 1. Februar 2010


"Aus Resignation ist teilweise Empörung geworden"

Trügerische Idylle: Selbst in einem der reichsten Länder geht ein tiefer Riß durch die Gesellschaft. Ein Gespräch mit Ueli Mäder **

Ueli Mäder ist Professor für Soziologie und Leiter des Zentrums für interdisziplinäre Konfliktforschung an der Universität Basel. Das Institut gehört zu den Organisatoren der globalisierungskritischen Konferenz »Das andere Davos«.

Die Arbeitslosigkeit in der Schweiz ist relativ niedrig, der Wohlstand größer als in anderen europäischen Staaten. Anscheinend profitiert Ihr Land von der Globalisierung. Was haben Sie dagegen, wenn sich Politiker und Konzernchefs in Davos zum Weltwirtschaftsforum versammeln?

Zunächst geht es ja nicht in erster Linie um die Schweiz, sondern um globale Probleme. Doch auch Ihre Sichtweise auf die Schweiz entspricht nicht ganz der Realität. Natürlich gibt es in der Schweiz ein vergleichsweise gut funktionierendes Sozialsystem. Aber bei uns verfügen mittlerweile weniger als drei Prozent der Bürger über dasselbe Nettovermögen wie die restlichen 97 Prozent der Steuerzahler.

Woraus resultiert diese soziale Spaltung?

Zunächst wächst auch bei uns seit den siebziger Jahren die Erwerbslosigkeit. Hinzu kommt: Die durchschnittlichen Löhne erhöhen sich zwar nominell, gleichzeitig sind die Lebenshaltungskosten für einen Teil der Bevölkerung stärker gestiegen. Tatsächlich sinken also die verfügbaren Einkommen. Außerdem beobachten wir eine extreme Konzentration von Kapital. Die Gewinne der Unternehmen wandern zunehmend in private Kassen. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich also auch in der Schweiz immer weiter.

Wie reagieren die Menschen auf diese Entwicklung?

Viele Bürger versuchen, sich den Bedingungen der Globalisierung anzupassen. Wir haben beispielsweise untersucht, was mit Menschen passiert, die genau das machen, was immer gefordert wird - also mobil und flexibel sein. Das Ergebnis war erstaunlich. Jene, die diesem Credo am meisten folgten, sind am häufigsten mit einem sozialen Abstieg konfrontiert. Das betrifft vor allem die sogenannte Mittelschicht. Vor zehn Jahren bedeutete berufliche Flexibilität noch ein höheres Einkommen. Das ist heute anders.

Und was ist mit jenen Menschen, die nicht zur Mittelschicht gehören, sondern am unteren Rand der Gesellschaft leben?

Auch da gibt es Veränderungen. Ich habe mehrere Armutsstudien durchgeführt. In den neunziger Jahren war mein Eindruck, daß die Bereitschaft der sozial Benachteiligten sehr groß ist, sich für die eigene Situation selbst verantwortlich zu machen. Sie sagten: »Wir sind schuld, daß wir sowenig verdienen, wir hätten in der Schule besser aufpassen müssen.« Heute ist aus der Resignation teilweise Empörung geworden. Die Menschen merken, daß ihre Kinder trotz guter Schulnoten kaum eine Lehrstelle finden. Das macht sie wütend.

Und wie zeigt sich diese Wut?

Einige setzen sich erfreulicherweise für ihre eigenen Interessen ein; manche gehen sogar zu den Gewerkschaften. Andere wiederum werden anfällig für rechtspopulistische Strömungen. Übrigens gibt es auch am oberen Rand der Gesellschaft recht unterschiedliche Ansichten. Für die einen ist Ungleichheit aus einem wirtschaftsliberalen Verständnis heraus etwas, was die Gesellschaft vorantreibt. Andere sorgen sich, weil sie fürchten, daß der soziale Frieden bedroht ist und die Gewaltkriminalität zunimmt

Besteht denn diese Gefahr?

Es liegen immer noch Welten zwischen Basel und Berlin. Wir haben hier auf 100000 Einwohner maximal 20 schwere Gewalttaten im Jahr. In Berlin sind es etwa 50, in Paris sogar 80. Aber wir bemerken schon einen Zusammenhang zwischen zunehmender sozialer Spaltung und dem Anstieg von Konflikten. Unsere Studien weisen darauf hin. So haben wir in Basel alle Jugendlichen interviewt, die wegen Delinquenz verurteilt worden sind. Drei Jahre lang wurden zudem Jugendliche aus dem rechtsextremen Spektrum befragt.

Werden solche Analysen überhaupt wahrgenommen? Oder ist nicht der Einfluß äußerst marginal, den kritische Wissenschaft auf Politik und Gesellschaft hat?

Ich kann mich über ein mangelndes Interesse der Medien an unseren Untersuchungen nicht beklagen. Und deshalb wird das in Politik und Wirtschaft durchaus registriert. So gab es Reaktionen aus Regierungskreisen, die befürchten, die Schweiz würde durch uns in ein schlechtes Licht gerückt. Andererseits erzählte mir der Manager eines großen Konzerns, daß sein Unternehmen die unteren Löhne nicht so schnell angehoben hätte, wenn es die Studien über erwerbstätige Arme nicht gegeben hätte.

Interview: Frank Brunner

** Aus: junge Welt, 1. Februar 2010

Protest gegen Globalisierung: von Basel über Istanbul nach Dakar

Etwa 300 Menschen haben am Samstag nachmittag mit einer Demonstration in Basel gegen das Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos protestiert. »Den Widerstand auf die Straße tragen - Kapitalismus zerschlagen«, hieß es unter anderem auf einem Transparent. »Hinter Krieg und Krise steht das Kapital - bekämpfen wir es hier und international«, skandierten die Demonstranten. Bei der Kundgebung, an der vermummte Autonome, aber auch Kurden und Gewerkschafter teilnahmen, wurden Scheiben am Hauptsitz der Schweizer Kantonalbank eingeschlagen. Zudem bewarfen Jugendliche die Fassade des Nobelhotels »Trois Rois« mit Eiern und beschädigten mehrere Fahrzeuge. Die Polizei hielt sich im Hintergrund, drei Teilnehmer wurden nach der Veranstaltung einer Personenkontrolle unterzogen. Rund 130 Personen haben ebenfalls am Samstag am WEF-Tagungsort in Davos gegen das Weltwirtschaftsforum demonstriert. Die von den Grünen organisierte Kundgebung verlief friedlich.

Derweil bereitet sich die globalisierungskritische Bewegung auf neue Proteste vor. So findet vom 1. bis zum 4. Juli zum sechsten Mal das Europäische Sozialforum (ESF) statt. Tagungsort ist in diesem Jahr Istanbul. Das nächste zentrale Weltsozialforum findet 2011 in der senegalesischen Hauptstadt Dakar statt. Das Weltsozialforum - das in diesem Jahr sein zehnjähriges Bestehen feierte (siehe Seite 7) - ist eine Gegenveranstaltung zu den Gipfeln der Welthandelsorganisation (WTO), dem Davoser Weltwirtschaftsforum und den jährlichen Weltwirtschaftsgipfeln der Regierungs­chefs der G-8-Staaten. Die erste Veranstaltung des Weltsozialforums fand 2001 in Porto Alegre, Brasilien, statt und wurde zu einem Symbol für die Bewegung der Kritiker der Globalisierung. Die Bewegung geht aber bereits zurück auf die Erhebung der Zapatistas im mexikanischen Chiapas. (fb)

*** Aus: junge Welt, 1. Februar 2010




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