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"Es ist zehn vor zwölf. Ein Krieg steht unmittelbar bevor"

Gewerkschaftsproteste gegen den Krieg - Eine beeindruckende Bilanz der Aktionen

Im Folgenden dokumentieren wir eine Bilanz der gewerkschaftlichen Proste gegen den drohenden Irakkrieg. Sie war in der DGB-Zeischrift "einblick" abgedruckt.


Bereits vor dem Ausbruch des Krieges haben die Gewerkschaften ihren Widerstand gegen den Kriege demonstriert und den Protest in den Betrieben, Verwaltungen und auf der Straße organisiert. Am 14. März kam es erstmalig in ganz Europa zu gleichzeitigen Arbeitsniederlegungen, und am Tag X, dem Tag des Kriegsbeginn, und den Tagen danach gingen von allen Gewerkschaftsebenen vielfältige Proteste aus. Die Proteste halten an, für den 19. April rufen Gewerkschaften zur Teilnahme an den Ostermärschen auf.

In Deutschland haben sich am 14. März Hunderttausende Beschäftigte an der Gewerkschaftsaktion "Zehn Mahnminuten gegen einen drohenden Irak-Krieg" beteiligt.

Zu der bundesweiten Aktion von 11.50 bis 12.00 Uhr hatte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) aufgerufen. "Es ist zehn vor zwölf. Ein Krieg steht unmittelbar bevor", heißt es in dem Aufruf. Am Tag der Debatte im UN-Sicherheitsrat sind in Nordrhein-Westfalen mehr als 100 000 Beschäftigte diesem Aufruf gefolgt. Wolfgang Nettelstroth vom IG Metall-Bezirk NRW berichtet, dass für 10 "Mahnminuten für den Frieden" in vielen Unternehmen die Arbeit ruhte. In Bochum beteiligten sich 22 000, in Köln 15 000 und in Düsseldorf 10 000 Menschen.
Auch in Sachsen Anhalt nahmen Tausende ArbeiterInnen und Angestellte an den Mahnminuten teil. Insbesondere beteiligten sich zahlreiche Angestellte in den kommunalen Verwaltungen und Beschäftigte der Post an den Aktionen, so der DGB-Landesvorsitzende Jürgen Weißbach. In Halle standen für fünf Minuten alle Straßenbahnen still.

In Baden-Württemberg versammelten sich die Beschäftigten von ZF Bietigheim im Hof der Firma. Dort hielt der DGB-Landesvorsitzende Rainer Bliesener eine Rede. Angesichts der Hunderttausenden beteiligten Beschäftigten wertete Bliesener die Mahnminuten insgesamt als Erfolg. Bei Daimler Chrysler und Audi standen vorübergehend die Bänder still. In vielen anderen Betrieben wurde mit innerbetrieblichen Aktionen zum Frieden gemahnt – mit Verteilaktionen von Infos/Flugblätter am Betriebstor, Abteilungsversammlungen, Infoveranstaltungen, Mahnminuten am Arbeitsplatz und vielem mehr. In einem Betrieb wurden Kerzen angezündet, in einem anderen ließ man Luftballons mit Anti-Kriegs-Botschaften steigen, und in einer Firma wurde eine Tafel aufgestellt, auf der die Beschäftigten mit ihrer Unterschrift gegen den Krieg protestierten. ver.di-Mitglieder der Niederlassung Brief Kommunikation Heilbronn der Deutschen Post führten ihre Demonstration zu Beginn ihrer Schicht durch. Im Opel-Werk in Kaiserslautern folgten nach Angaben des Betriebsrates bis zu 95 Prozent der Frühschicht dem Aufruf. Dies seien knapp 2000 Beschäftigte gewesen.

In Berlin versammelte sich auch die Belegschaft des DGB-Bundesvorstandes vor der DGB-Zentrale am Henriette-Herz-Platz zu einer kleinen Kundgebung.

Schon früh am Morgen des 14.März begannen in Bayern die Aktionen gegen den Irakkrieg: Rund 80 MitarbeiterInnen legten im Briefzentrum der Deutschen Post am Münchner Flughafen kurzzeitig die Arbeit nieder. Die Freisinger Postler warteten nicht bis Mittag, um gegen den Irakkrieg zu demonstrieren. Bereits um sechs Uhr sprachen der Vorsitzende der ver.di Betriebsgruppe Freising Andreas Faltermaier und der Vorsitzende von ver.di München Heiner Birner vor rund 80 TeilnehmerInnen. Beide warnten vor den Auswirkungen des Krieges insbesondere für die Zivilbevölkerung.

Dem Aufruf der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) folgten wie im gesamten Bundesgebiet auch Schulen im Südwesten. "Wir wollen damit auch die an den Schulen spürbare Sorge und Unsicherheit bei Schülerinnen und Schülern aufgreifen und zum Thema machen", sagte der baden-württembergische GEW-Landesvorsitzende Rainer Dahlem.

In Kassel standen 200 Beschäftigte von Daimler Chrysler mit Transparenten und vor den Toren des Achsenwerkes. "Wir haben als deutsch-amerikanischer Konzern die Verpflichtung, uns zu Wort zu melden und nicht zu schweigen", sagte das Betriebsratsmitglied Dieter Seidel. "Die Mehrheit der Bevölkerung in den europäischen Ländern spricht sich gegen einen Krieg aus."

Bundesweit stieß der Protest vielfach auf Widerstand bei den Arbeitgebern. So soll der Arbeitgeberverband Südwestmetall mit einem Schreiben an seine Mitglieder versucht haben, die Aktion zu unterbinden. Auch in Thüringen lag nach Gewerkschaftsangaben ein Schreiben des Arbeitgeberverbandes vor, wonach Arbeitgeber politische Demonstrationen im Betrieb nicht dulden würden. In Bremen verbanden viele Arbeitnehmer die Mahnminuten mit ihrer regulären Mittagspause. Auch dort war die Haltung der Arbeitgeber ablehnend.

Europäischer Aktionstag

Europaweit folgten insgesamt mehr als 70 Gewerkschaftsorganisationen in 38 Ländern dem Aufruf des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) am 14. März ein "Zeichen für den Frieden" zu setzen.

Die 70 Gewerkschaftsorganisationen repräsentieren über 64 Millionen europäische ArbeitnehmerInnen. In Spanien machten nach Angaben der beiden Gewerkschaftsbünde CCOO und UGT mehr als 80 Prozent der Beschäftigten in den großen spanischen Unternehmen mit. "Dies ist ein historischer Augenblick. Eine solche Arbeitsniederlegung in ganz Europa hat es noch nie gegeben", sagte Cándido Méndez, Chef des Gewerkschaftsverbandes UGT. Die 5 Millionen Beschäftigten, die an den Mahnminuten beteiligt waren, mussten eine Reihe von Widerständen bei dieser "symbolischen" Arbeitsniederlegung überwinden. Die spanischen Arbeitgeberverbände hatten die Aktion als schwere Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Aktivität verurteilt.
Auch im Nachbarland Portugal wurde der Widerstand gegen den Krieg mit 15-minütigen Arbeitsunterbrechungen demonstriert. Zwischen 11.50 und 12.00 Uhr begleiteten in Italien und Österreich läutende Kirchenglocken die Mahnung gegen den Krieg. Breite Beteiligung fand die europäische Gemeinschaftsaktion auch in Frankreich, Belgien, der Schweiz und Griechenland, wo es 5- bis 15 -minütige Mahnaktionen gab. In Dänemark riefen die Gewerkschaften zu zwei Schweigeminuten auf, in Luxemburg, der Tschechischen Republik und in Bulgarien fanden Demonstrationen mit großer Beteiligung statt.

Der Tag X in Europa: Paz, Pace, No war, Kein Krieg!

Für den Tag X, dem Tag des Kriegsbeginns, hatte die Friedensbewegung weltweit bereits im Vorfeld zu Demonstrationen aufgerufen. Geplant waren Demonstrationen und Aktionen auf vereinbarten Platzen um 17 oder 18 Uhr. Doch noch ehe die ersten Bomben auf Bagdad fielen, kurz nach Mitternacht am 20. März, sammelten sich in Rom ein paar Hundert Demonstranten vor der US-Botschaft.

Am Mittag legten in Italien Hunderttausende ArbeiterInnen und Angestellte spontan für zwei Stunden die Arbeit nieder und verließen die Betriebe. Die großen Gewerkschaften riefen gemeinsam zu einem zweistündigen Generalstreik am Nachmittag des 20. März auf. An Schaufensterscheiben, Schultüren und in Büro- und Krankenhausfluren hingen Aufrufe zu Sit-ins und Protestmärschen. Am frühen Vormittag blockierten StudentInnen den Barberini-Platz, unweit der US-Botschaft. Tausende SchülerInnen zogen rund ums Parlament, legten den Innenstadtverkehr lahm.

In Mailand gingen 50 000 Menschen auf die Straße, in Genua waren es 40 000, in Turin 20 000. In Florenz, Venedig, Bologna – überall in Italien protestierten Menschen gegen den Krieg. Bei der größten Demonstration am frühen Abend in Rom marschierten katholische Würdenträger und kommunistische GewerkschafterInnen Seite an Seite in einem Fackelzug "gegen Krieg und Terrorismus" vom römischen Rathaus zum Kolosseum.

In keinem europäischen Land wurde der Widerstand gegen den Krieg so deutlich wie in Spanien. Mehrere Millionen hatten schon am 15. Februar in den Städten Spaniens demonstriert. Die beiden großen spanischen Gewerkschaftsbünde Comisiones Orbreras ( CCOO) und Union General de Trabajadores (UGT) beteiligen sich auch an der Kampagne "Millionen Stimmen gegen den Krieg", einer Unterschriftensammlung, bei der mehr "Stimmen" gegen die Unterstützung des Krieges der spanischen Regierung zusammen kommen sollen, als Regierungschef Aznar bei seiner Wahl erhielt. Am Mittag des 20. März wurden dem Parlament bereits Listen mit mehr als zwei Millionen Stimmen übergeben. Am Abend fand in Madrid eine Massendemonstration mit großer Beteiligung der Gewerkschaften statt.

In Griechenland protestierten rund 150 000 Menschen gegen den Krieg. In Paris versammelten sich rund 20 000 DemonstrantInnen auf der Place de la Concorde vor der hermetisch abgeriegelten US-Botschaft und skandierten Parolen wie "Nieder mit dem Krieg". Zu der Kundgebung hatten mehrere Dutzend Verbände, Gewerkschaften und Linksparteien aufgerufen. Auch in anderen französischen Städten wie Rennes, Toulouse, Lille, Marseille, Straßburg und Lyon demonstrierten Tausende KriegsgegnerInnen.

Deutschland am Tag X: Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen

Im Einzugsbereich der IG Metall-Verwaltungsstelle Fürth legten die Beschäftigten in 85 Betrieben, darunter der Bosch AG, für 15 Minuten die Arbeit nieder. Insgesamt demonstrierten am Donnerstag in Deutschland mehr als 200 000 Menschen gegen den Krieg im Irak. In weit über 150 Städten und Gemeinden hatten Friedensinitiativen für den Tag X Aktionen geplant. Zu den Demonstrationen, Mahnwachen, Kundgebungen, Friedensgebeten oder Menschenketten riefen auch viele Landesbezirke des DGB sowie die Gewerkschaften ver.di, IG Metall und GEW auf. In Berlin kamen fast 50 000 Demonstranten am Alexanderplatz zusammen. Zu der Kundgebung auf dem Alexanderplatz hatte die "Achse des Friedens" aufgerufen, zu der unter anderem Gewerkschaften und die Grünen zählen. Im Anschluss fanden sich im Berliner Dom rund 200 Menschen, darunter Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, zu einem ökumenischen Bittgottesdienst für den Frieden ein. Bereits am Mittag waren rund 50 000 Schülerinnen und Schüler auf die Straße gegangen. Auch in Hamburg, München und Hannover protestierten Tausende gegen den Krieg. In Frankfurt/Oder bildeten Deutsche und Polen eine Menschenkette über die Grenze. Die Gewerkschaft TRANSNET forderte die Bahn auf, Gewissensentscheidungen von Beschäftigten bei Militärtransporten zu berücksichtigen. In einer gemeinsamen Erklärung mit der türkischen Eisenbahner-Gewerkschaft DEMIRYOL-IS verurteilte sie den Irak-Krieg.
Die Delegierten der IG Metall-Frauenkonferenz, die am 20. März begann, verabschiedeten nicht nur eine Resolution gegen den Krieg, sondern unterbrachen am 21. März auch ihre Konferenz, um in der Innenstadt von Sprockhövel zu demonstrieren.

21. März 2003: Europäischer Aktionstag für Arbeit und Frieden

Den schon lange geplanten "europäischen Aktionstag für ein Europa der Vollbeschäftigung, der demokratischen und sozialen Rechte" am 21. März, dem Tag des EU-Gipfels in Brüssel, wandelte der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) als Reaktion auf den Kriegsausbruch zu einem "Aktionstag für mehr Beschäftigung und Frieden" um. In Brüssel beteiligten sich mehr als 20 000 GewerkschafterInnen an einer Demonstration, die von den drei belgischen Gewerkschaftsbünden (FGTB, CSC, CGSLB) organisiert wurde. Aus Nordfrankreich nahmen 2000 Beschäftige an der Demonstration teil, auch in Frankreich selbst fanden in Paris, Lyon, Strassburg, Rennes, Toulouse und Bordeaux Demonstrationen statt.

Am Samstag, den 22. März, zogen in London wie in den anderen europäischen Hauptstädten Hunderttausende durch die City, darunter auch viele Gewerkschaftsmitglieder. Der britische Gewerkschaftsbund TUC hatte allerdings nicht mit zur Demonstration aufgerufen. Auf seinen Internetseiten findet sich nur die Wiederholung einer Erklärung gegen den Krieg vom 26. Februar und die folgende Stellungnahme: "Wir erkennen an, dass viele Gewerkschafter aus Gewissensgründen gerne weiter ihre Opposition zu den militärischen Aktionen ohne ausdrückliches UN-Mandat zeigen würden... . Es ist jedoch klar, dass, nun, da das Parlament sich auf einen Kurs festgelegt hat, die britischen Soldaten und ihre Familien sowie die anderen Beschäftigten, die in die Militäraktion eingebunden sind, die Unterstützung der britischen Bevölkerung erwarten und erhalten müssen."

Seit dem Beginn des Krieges vergeht kein Tag ohne Proteste. Auch am 29. März finden wieder überall in Europa Demonstrationen statt.

Tagtäglich gibt es in Tausenden von Städten Mahnwachen, Kundgebungen und Demonstrationen. In Spanien legten am 26.März erneut fast 5 Millionen Beschäftigten aus Protest gegen den Irakkrieg ihre Arbeit nieder. Die italienischen Gewerkschaften rufen für den 29. März zu Demonstrationen auf allen Plätzen Italiens auf. In Deutschland findet am 29. März ein Sternmarsch zur Siegessäule statt. Auf der Kundgebung unter dem Motto "Stoppt den Krieg sofort!" spricht der DGB-Vorsitzende Michael Sommer.

Am 6. April werden die spanischen Gewerkschaften in einer Großdemonstration gegen die spanische Kriegsbeteiligung protestieren. In Deutschland soll am selben Tag eine Menschenkette zwischen Münster und Osnabrück gebildet werden.
Die Gewerkschaften rufen außerdem zu den landesweiten Ostermärschen am 19.04. auf.

Quelle: einblick 06/03, 31.03.2003


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