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Das Ende kritischer Wissenschaft

Geheimdienst finanziert Extremismustheorien

Von Jan Korte *

Herbert Marcuse stellte sich 1943 dem US-Geheimdienst zur Verfügung, um zum Niederringen des NS-Faschismus beizutragen. »Das kritische Wissenschaftsverständnis (...) blieb davon erkennbar unberührt.« Mit dieser Erkenntnis beginnt der kritische Rückblick auf die Geschichte des Verfassungsschutzes (VS) in der Studie von Markus Mohr und Hartmut Rübner.

Der Titel »Gegnerbestimmung. Sozialwissenschaft im Dienst der 'inneren Sicherheit'« macht das Anliegen der Autoren deutlich: Wie kann es sein, dass eine eigentlich kritische Wissenschaft zusammen mit dem Verfassungsschutz an der Verbreitung des »Extremismusansatzes«, der aktuellen Form der Totalitarismustheorie, beteiligt ist?

Um die Frage zu beantworten, geben Mohr und Rübner im ersten Teil dieses geheimdienstkritischen Bandes einen guten Überblick über die Geschichte des Verfassungsschutzes. Nach der Aufnahme vieler ehemaliger NS-Täter widmete sich der Dienst der Bekämpfung der »kommunistischen Gefahr«. Hierfür gab es reichlich Spezialisten, die 1945 gezwungenermaßen ihre Arbeit unterbrechen mussten. Zu Recht fragen die Autoren nach der Rolle, die der Dienst bei der Verhinderung der Ergreifung von NS-Tätern gespielt hat. Dieser historische Rückblick erklärt, warum der VS sich mit solchem Engagement der Totalitarismustheorie verschrieben hatte. Ende der Sechziger erreichte die Arbeit des VS einen Höhepunkt: Von 1970 bis 1987 wurden ca. 3,5 Millionen Menschen überprüft, »Negativakten« führten zu Tausenden von Berufsverboten.

Auf neuen Abwegen

Heute hat sich die Arbeit des VS geändert: Nach wie vor nimmt er direkten Einfluss auf politische und verwaltungstechnische Vorgänge, legt aber einen großen Schwerpunkt auf die Öffentlichkeitsarbeit. »Als Nachrichtendienst hat sich der VS dank einer eigens zugeschnittenen Öffentlichkeitsstrategie zu einem der meinungsbildenden Faktoren bei der Konsensproduktion gemausert.« Und hierbei ist die Zusammenarbeit von VS und Wissenschaft zentral: Nämlich bei der Verbreitung des Extremismusansatzes, der kein Problem in der selbst bestimmten »Mitte« sieht, sondern lediglich abnormes Verhalten an den Rändern der Gesellschaft. Die Gleichsetzung von Rot und Braun wird gleich mitgeliefert. Ganz vorne dabei: Die Professoren Jesse und Backes. Und natürlich kommt ein anderer Grund für die Anfälligkeit von Sozialwissenschaftlern hinzu: Die katastrophale Lage auf dem Arbeitsmarkt lässt viele Wissenschaftler offen werden für Verträge mit den VS-Behörden.

Der Band gibt einen guten Überblick wie VS, Wissenschaft und Politik ein Ziel verfolgen: Die Aufrüstung der inneren Sicherheit. Im letzten Teil geht es um Beispiele, ob und wie linke Wissenschaft mit dem VS reden bzw. zusammenarbeiten darf. Dieses wichtige Kapitel gerät allerdings in Teilen zur innerlinken Insiderabrechnung mit Roland Roth und anderen. Auch die mehrfache verbale Gleichsetzung von Stasi und VS wirkt nicht souverän.

Trotzdem: Markus Mohr und Hartmut Rübner haben mit »Gegnerbestimmung« ein äußerst brauchbares Handbuch geschrieben, was nochmals detailliert belegt, dass Geheimdienste nicht kontrollierbar sind. Und traurige Erkenntnis: Teile einer einst kritischen Wissenschaftstradition lassen sich bereitwillig in den Dienst der inneren Sicherheit nehmen.

Markus Mohr/Hartmut Rübner: Gegnerbestimmung. Sozialwissenschaft im Dienst der »inneren Sicherheit«. Unrast, 288 S., 16,80 €.

* Aus: Neues Deutschland, 30. Juni 2010


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