Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Unwürdig", "unangemessen", "kein Friedensprojekt"

Menschenrechts- und Friedensorganisationen kritisieren Vergabe des Nobelpreises an Europäische Union


Im Folgenden dokumenieren wir eine Reihe vonm Stellungnahmen zur Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union am vergangenen Montag. Lesen Sie im Folgenden:

EU MUSS SICH KONSEQUENTER FÜR MENSCHENRECHTE EINSETZEN

NOBELPREIS: AMNESTY KRITISIERT FLÜCHTLINGSPOLITIK UND DISKRIMINIERUNG VON ROMA - Pressemitteilung von amnesty international

07. Dezember 2012 - Amnesty International zieht eine gemischte Bilanz der Menschenrechtspolitik der EU und ihrer Mitgliedsstaaten. "Die EU trägt zum Teil selbst zu Menschenrechtsverletzungen bei, etwa durch die EU-Flüchtlingspolitik", sagt Wolfgang Grenz, Generalsekretär vom Amnesty in Deutschland. "Außerdem bekämpft die EU Menschenrechtsverletzungen oft nicht entschieden genug, etwa die Diskriminierung von Roma in EU-Staaten."

Am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, erhält die EU den Friedensnobelpreis, unter anderem für ihren "erfolgreichen Kampf für Menschenrechte". "Die EU muss den Friedensnobelpreis als Verpflichtung für die Zukunft verstehen. Denn bisher wird sie auf dem Gebiet der Menschenrechte ihren eigenen Ansprüchen oft nicht gerecht", so Grenz. "Insbesondere ihre Asyl- und Flüchtlingspolitik ist eines Nobelpreisträgers nicht würdig."

Die EU habe sich wichtige menschenrechtliche Ziele gesteckt, die sie aber zu leicht aus den Augen verliere. "Die Antirassismus-Richtlinie der EU ist eine gute Grundlage für den Kampf um Gleichberechtigung von Minderheiten. Trotzdem wird die Diskriminierung der Roma in vielen Mitgliedsstaaten nicht entschlossen genug bekämpft", stellt Grenz fest. "Roma werden zum Beispiel in Tschechien, Ungarn und Rumänien, aber auch in Italien und Frankreich beim Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnraum und zum Arbeitsmarkt diskriminiert."

Auch in der Außenpolitik wirft Amnesty der EU mangelnde Konsequenz vor. "Für die Außenpolitik hat die EU eine beeindruckende Menschenrechtsstrategie beschlossen. Die muss sie jetzt konsequent umsetzen", so Grenz. "Bisher geben die EU-Staaten ihre menschenrechtlichen Ziele allzu schnell auf, wenn Wirtschafts- oder Sicherheitsinteressen im Spiel sind."

Positiv hebt Amnesty die Unterstützung der EU für ein internationales Abkommen zur Waffenkontrolle hervor. Ein solches Abkommen soll verhindern, dass Waffen an Staaten geliefert werden, die damit Menschenrechtsverletzungen begehen. "Leider haben auch EU-Staaten in der Vergangenheit Waffen geliefert, obwohl sie davon ausgehen mussten, dass diese etwa für das Niederschlagen von Protesten eingesetzt werden", so Grenz.

Quelle: Website der deutschen Sektion von amnesty international; http://www.amnesty.de/presse


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Kein Friedensprojekt

Von Peter Strutynski

Am 10. Dezember, dem Todestag Alfred Nobels, wird in Oslo der Friedensnobelpreis verliehen. Preisträger in diesem Jahr ist die Europäische Union, und das Nobelpreis-Komitee muss sich ein weiteres Mal fragen lassen, was es sich dabei gedacht hat. Legt man als Messlatte für den Preis das Testament seines Stifters an, muss an der Rechtmäßigkeit der diesjährigen Preisverleihung gezweifelt werden. Nach Alfred Nobels letztem Willen sollten den Preis Menschen oder Organisationen erhalten, die »am meisten oder am besten auf die Verbrüderung der Völker und die Abschaffung oder Verminderung stehender Heere sowie das Abhalten oder die Förderung von Friedenskongressen hingewirkt« haben. Drei frühere Nobelpreisträger, unter ihnen Erzbischof Desmond Tutu, haben beim Nobelpreis-Komitee gegen die Verleihung Protest eingelegt, indem sie darauf hinwiesen, dass die EU »eindeutig kein Vorkämpfer für den Frieden« sei.

Dieses Verdikt lässt sich mit zahlreichen Belegen begründen. Schon die Gründung der EU-Vorläuferorganisation, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, war kein Friedensprojekt, sondern dem Wunsch Frankreichs geschuldet, bei Wiederaufnahme der westdeutschen Schwerindustrie ein Wörtchen mitreden zu wollen. Immerhin: Mit der Konzentration der daraus entstehenden EWG (später EG) auf wirtschaftliche Maßnahmen konnte ein überwiegend ziviles Projekt gedeihen, das im Binnenverhältnis friedlich geblieben war. Dies änderte sich mit dem Maastrichter Vertrag 1992 und der »gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik« (GASP) grundlegend. Die EG/EU übernahm die von der Westeuropäischen Union (WEU) 1992 beschlossenen »Petersberg-Aufgaben«, das sind »humanitäre Aktionen« oder Rettungseinsätze, Aufgaben der »Konfliktverhütung«, Kampfeinsätze im Rahmen der »Krisenbewältigung« einschließlich »Frieden schaffender Maßnahmen«, gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen (die sich wohlgemerkt an Dritte richten) sowie »Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten«. Später kamen noch Antiterror-Maßnahmen dazu.

Mit dem Lissabon-Vertrag 2009 verpasste sich die EU ein ansehnliches Instrumentarium militärischer Rüstungs- und Interventionsfähigkeit. Zu nennen sind etwa:
  • eine Aufrüstungsverpflichtung (»Verbesserung der militärischen Fähigkeiten«);
  • die Aufstellung von Krisenreaktionskräften (Battlegroups)
  • die Schaffung der »Europäischen Verteidigungsagentur« und
  • eine allgemeine Beistandsverpflichtung, die der EU endgültig den Charakter eines Militärpakts verleiht.
Über all dies schweigt sich das Nobelpreis-Komitee aus. Unerwähnt bleibt auch die wenig friedfertige Sanktionspolitik der EU gegenüber Iran und Syrien. Ausgeblendet wird schließlich auch das Verhältnis der Europäischen Union zur Dritten Welt. Das Diktat einer neoliberalen Freihandelspolitik führt zu noch mehr Massenarmut, Hunger und Elend in der armen Welt. Und um sich der Elendsflüchtlinge zu erwehren, werden die EU-Außengrenzen mit einem mörderischen Abwehrsystem namens FRONTEX gesichert.

Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU ist ein Tiefpunkt in der über 100-jährigen Geschichte dieser weltweit bedeutendsten Auszeichnung. Ist im nächsten Jahr schon die NATO dran?

* Peter Strutynski. Der Kasseler Politikwissenschaftler arbeitet in der AG Friedensforschung und ist Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag (www.ag-friedensforschung.de).

Aus: neues deutschland, Samstag, 08. Dezember 2012 (Gastkolumne)


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„Unwürdig und unangemessen"

Ökumenische Aktion Ohne Rüstung Leben kritisiert Friedensnobelpreisverleihung an EU am Tag der Menschenrechte in Oslo

Presseerklärung vom 7.12.2012

Als unwürdig und unangemessen“ bezeichnet der Sprecher der bundesweiten ökumenischen Aktion Ohne Rüstung Leben, Paul Russmann, die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union (EU) am kommenden Montag in Oslo. „Auch wenn die EU historisch dazu beigetragen hat, dass es innerhalb der EU keine kriegerischen Auseinandersetzungen mehr gibt, ist es völlig unangemessen von einem Kontinent des Friedens zu sprechen – angesichts der Beteiligung von EU-Staaten an Kriegseinsätzen in Afghanistan, Libyen und dem Irak. Auch heizen die EU-Staaten an führender Stelle mit ihren Rüstungsexporten das weltweite Wettrüsten an und verschließen ihre Außengrenzen gegenüber Kriegs- und Armutsflüchtlingen und tragen damit aktiv zu Menschenrechtsverletzungen bei.“

Russmann: „Mit dem Friedenspreis sollen ja eigentlich – so die Intention des Preisstifters – Persönlichkeiten oder Organisationen ausgezeichnet werden, die am meisten auf die Verbrüderung der Völker hingewirkt haben. Durch die Preisverleihungen an Personen und Institutionen wie Präsident Obama und die EU wird der Preis immer mehr zur Farce. Dagegen wird der ‚Alternative Friedensnobelpreis; immer mehr zum echten Friedensnobelpreis: Das zeigt sich in diesem Jahr unter anderem an der heutigen Verleihung der Auszeichnung an die britische Kampagne gegen Rüstungsexport und an den Theoretiker der Gewaltfreien Aktion Gene Sharp .“

Die Ökumenische Aktion Ohne Rüstung Leben in Stuttgart wurde 1978 gegründet. Impuls für die Gründung war ein Appell der Weltkirchenkonferenz 1975 in Nairobi: „Die Kirche sollte ihre Bereitschaft betonen, ohne den Schutz von Waffen zu leben und bedeutsame Initiativen ergreifen, um auf eine wirksame Abrüstung zu drängen.“ Mit Dialog und Protest, Aktion und Lobbyarbeit engagiert sich Ohne Rüstung Leben gegen Rüstungsexporte und Kleinwaffen, für eine atomwaffenfreie Welt und für den Ausbau des Zivilen Friedensdienstes. 2011 erhielt Ohne Rüstung Leben gemeinsam mit der GKKE-Fachgruppe Rüstungsexporte den Göttinger Friedenspreis 2011.

Kontakt: Paul Russmann, Ökumenische Aktion Ohne Rüstung Leben

Quelle: http://www.aufschrei-waffenhandel.de


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