Kriegsgewinnler, Eintagsfliege oder Dauerbrenner?
Zur politischen Soziologie der Friedensbewegung
Von Peter Strutynski*
Die Friedensbewegung leidet immer wieder darunter, dass sie je nach friedens- bzw. kriegspolitischer "Konjunktur" entweder unterbewertet oder maßlos überschätzt wird. Wendet sie sich - mit zunehmender Resonanz in der Bevölkerung - zum Beispiel gegen einen drohenden oder ausgebrochenen Krieg, so wird ihr häufig der Vorwurf gemacht, sie weide sich an Katastrophen, sei im eigentlichen Sinn eine Bewegung, die vom Krieg lebt: Kriegsgewinnler eben. Damit verbunden ist die Vorstellung, nur solange zur Partei der Kriegsgewinnler zu gehören, als der Krieg oder die Kriegsdrohung dauern. Ist das eine oder das andere vorbei, bricht der Protest schnell in sich zusammen. Die Friedensbewegung erscheint also als "Eintagsfliege". Deren in der Natur in rund 2.000 Arten vorkommende biologische Schwester, die "Eintags"- oder "Maifliege" (Ephemera) zeichnet sich übrigens nicht nur durch ihre kurze Lebensdauer aus, sondern - auch hierin der Friedensbewegung vergleichbar - dadurch, dass sie laut Brockhaus zu "Massenschwärmen" neigt. Da die Friedensbewegung aus begreiflichen Gründen ihre Bestimmung weder in der Kategorie von Kriegsgewinnlern noch in der kurzlebigen Existenzform von Eintagsfliegen sieht, träumt sie selbst wohl am liebsten davon, ein gesellschaftspolitischer "Dauerbrenner" zu werden, d.h. unabhängig von konkreten Anlässen ein gewichtiger politischer Machtfaktor zu sein.
Im folgenden Beitrag geht es einmal darum, die realen Entwicklungslinien der deutschen Friedensbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen nachzuzeichnen. Zum anderen soll nach den Bewegungsgründen und den Ursachen des zyklischen Bewegungsverlaufs gefragt werden. Schließlich wird versucht, das politische Wirken und den politischen-moralischen Einfluss der Friedensbewegung als ein Ergebnis von erlebter Geschichte der Akteure, politischen Rahmenbedingungen und spezifischen organisatorischen Voraussetzungen darzustellen.
Die hohen Wellen der Konjunktur
Nähert man sich dem Phänomen Friedensbewegung auf empirische Weise (obwohl hier gleich eingestanden werden muss, dass empirische Befunde nicht gerade üppig vorhanden sind), so lässt sich zunächst die mehr oder weniger starke Wellenbewegung ihrer gesellschaftspolitischen Präsenz ausmachen. Es gibt Zeiten, in denen die Friedensbewegung als politischer Faktor in der Öffentlichkeit und erst recht in der veröffentlichten Meinung so gut wie unsichtbar bleibt. In der deutschen Nachkriegsgeschichte waren das z.B. die 70er Jahre, obwohl in diesem Jahrzehnt die Rüstungs- und Militärausgaben so stark anstiegen wie in keinem anderen Jahrzehnt. Auch die 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts - sieht man einmal von dem kurzen Aufflammen massenhaften Protestes gegen den Golfkrieg Anfang 1991 ab, dem ein jähes Ende folgte - waren eher eine Zeit, in der von der Friedensbewegung, wenn überhaupt, allenfalls in der Vergangenheitsform die Rede war. Die gelegentliche rhetorische Frage gut wie übel meinender Journalisten, wo denn angesichts nach Europa zurück gekehrter Kriege (Jugoslawien!) die Friedensbewegung bleibe, war häufig das einzige, was von der Friedensbewegung Niederschlag in den überregionalen Medien fand.
Auf der anderen Seite erlebte die deutsche Bundesrepublik Phasen, in denen die Aktivitäten der Friedensbewegung stark anschwollen und - was nicht immer zusammenfallen muss - von der Öffentlichkeit und den sie maßgeblich bestimmenden Massenmedien auch als solche wahrgenommen wurden. Zu erinnern ist etwa an die "Ohne-mich"-Bewegung Anfang der 50er Jahre, die breite Bewegung gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr Ende der 50er Jahre, die vielleicht weniger breite, dafür aber umso spektakuläre Anti-Vietnamkriegs-Bewegung Ende der 60er Jahre und schließlich die lange Zeit für unüberbietbar gehaltene Friedensbewegung gegen den sog. NATO-Doppelbeschluss Anfang der 80er Jahre. Fast all diesen Bewegungen war gemeinsam, dass sie sich gegen eine für bedrohlich gehaltene Entwicklung wandten, also den Status quo eines entmilitarisierten Staates verteidigten, der Bundeswehr den Zugriff auf Atomwaffen verweigerten oder die Aufstellung neuartiger Atomraketen, die das strategische Gleichgewicht im Kalten Krieg empfindlich hätten stören können, zu verhindern suchten. Die Vietnamkriegs-Bewegung macht insofern eine Ausnahme, als hier ein als ungerecht und unmenschlich empfundener neokolonialistischer Krieg gestoppt werden sollte, wobei zwei höchst unterschiedliche politische Pro-Haltungen im Spiel waren: eine sich globalisierende schwärmerisch pazifistische und jugendliche Bewegung der Blumenkinder-Generation, die dem Krieg mit Liebe und Gewaltlosigkeit entgegentrat, und eine romantisch revolutionäre Strömung, die der Militärmaschinerie der USA den letztlich weltweiten antiimperialistischen bewaffneten Kampf entgegensetzen wollte. (Ein beliebter Slogan bei studentischen Vietnam-Demonstrationen lautete damals z.B. "Vietcong nach Bonn!")
Themen und Akteure in den letzten 50 Jahren
Das Gesicht der Friedensbewegung in diesem halben Nachkriegs-Jahrhundert hat sich vor allem in sozialer Hinsicht stark verändert.
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Am Anfang war sie noch stark verbunden mit linken politischen Bewegungen, insbesondere den traditionellen Parteien der Arbeiterbewegung (Kommunisten, Gewerkschafter, linke Sozialdemokraten), und christlichen Kreisen (um Martin Niemöller herum), deren wichtigste Lehre aus dem Schrecken des Zweiten Weltkriegs und den Verbrechen des Faschismus in einem konsequenten "Nie Wieder!" bestand. Die auf große Resonanz der vom Krieg gezeichneten Nachkriegsgesellschaft stoßende "Ohne-Mich"- bzw. "Ohne-Uns"-Bewegung gegen die Wiederbewaffnung konzentrierte sich denn auch sehr stark auf betriebliche Aufklärung und Aktionen (vgl. Krause 1971, Knorr 1983, S. 35 ff).
- In der Anti-Atom-Bewegung Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre engagierten sich neben der traditionellen Linken auch zahlreiche bürgerliche Kräfte (z.B. prominente Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler). Es war der besonderen politischen Situation zu verdanken, dass auch Großorganisationen wie Gewerkschaften und SPD an dieser Bewegung teilnahm - zunächst um der Opposition gegen den damaligen Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß (CSU) Nachdruck zu verleihen, dann aber auch, um den breiten und in Teilen radikalen Protest zu kanalisieren (vgl. Benz/Engelmann/Hensche 1982, Strutynski 1999). Zur Erinnerung an diese Periode blieben uns die "Ostermärsche" erhalten (Wienecke/Krause 1982), die meines Wissens außer in Großbritannien (wo er erstmals stattfand) und in (West-)Deutschland in keinem anderen Land Fuß fassen konnten - auch in den seit 1990 der alten Bundesrepublik angegliederten östlichen Bundesländern tut sich diese Protestform noch etwas schwer (Ausnahmen wie die Ostermärsche in der Freien Heide und der Offenen Heide oder in Leipzig bestätigen nur die friedenskulturelle Kluft zwischen West- und Ostdeutschland).
- Die "Vietnam-Generation" wurde indessen maßgeblich von studentischen Gruppierungen, teilweise auch von einer damals entstehenden linken Lehrlingsbewegung getragen (vgl. Otto 1980). Der jugendliche Charakter dieser Bewegung wurde durch spezifische Demonstrationsformen unterstrichen (z.B. Demonstration im Laufschritt mit eingängigen Skandierungen wie "Ho-Ho-Ho-Chi-Minh"), welche die ältere Generation manchmal buchstäblich "alt" aussehen ließen. Auffallend war zudem eine starke Ideologisierung der sich als strikt antiinstitutionell und staats- oder systemkritisch definierenden Bewegung (APO-"Außerparlamentarische Opposition").
- In der Anti-Raketen-Bewegung der 80er Jahre dominierten Intellektuelle, Beamte und Angestellte des Öffentlichen Dienstes, Lehrer, Sozialarbeiter, Ärzte, kirchliche Mitarbeiter sowie Angehörige der technischen Intelligenz sowohl den öffentlichen Diskurs als auch die Friedensgruppen und Basisinitiativen. Erst als sich die Bewegung ihrem Höhepunkt näherte (1982/83), entstanden auf Initiative linker Gewerkschafter im ganzen Land zahlreiche betriebliche Friedensgruppen. Sie halfen mit, die Gewerkschaften bis in die Spitze hinein und die 1981 in die Opposition verbannte SPD auf Anti-Raketen-Kurs zu bringen. Prominente Sozialdemokraten wie Willy Brandt oder Erhard Eppler wurden zu - allerdings nicht unumstrittenen - Rednern bei den damals häufigen Großkundgebungen der Friedensbewegung. Hunderte von Kommunen erklärten sich damals auf Initiative von sozialdemokratischen und grünen Gemeindeparlamentariern zu "atomwaffenfreien Zonen".
- Einen überraschenden und in der Größe nie vorhergesehenen Aufschwung nahm die Friedensbewegung im Januar 1991. Träger des spontanen dezentralen Protestes, der kurz vor Beginn bis zu den ersten Tagen des zweiten Golfkriegs Hunderttausende Menschen auf die Straße trieb, waren alle Schichten der Bevölkerung, unter denen sich aber in ganz besonderer Weise die Schüler, noch vor den Studierenden, hervortaten. Offenbar hatte die damals naheliegende Parole "Kein Blut für Öl" in Verbindung mit weit verbreiteten Ängsten, der Krieg könne zu einer humanitären und ökologischen Katastrophe ungeahnten Ausmaßes mit weit reichenden Rückwirkungen bis nach Europa führen (z.B. brennende Ölfelder, Einsatz von Massenvernichtungswaffen), besonders Jugendliche angesprochen. Hinzu kam eine tiefe Enttäuschung über den endgültig geplatzten Traum von der "Friedensdividende". Die Vorstellung, dass hier zum ersten Mal nach dem Ende der Blockkonfrontation ein Krieg neuen Typs der "Ersten" gegen die "Dritte Welt" stattfände, löste einen regelrechten Globalisierungsschock aus. So rasch sich die Protestbewegung ausbreitete - und noch einmal rund 100.000 Menschen zu einer zentralen Friedensdemonstration nach Bonn führte -, so schnell verebbte sie wieder. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Wichtig scheinen mir folgende drei Überlegungen zu sein. Erstens: Eine allgemeine Erfahrung sagt uns, dass Bewegungen, die ihr unmittelbares Ziel definitiv nicht erreichen, also ihren "Protestgegenstand" verloren haben, regelmäßig in eine Sinnkrise stürzen. Zweitens: Betroffenheit und Angst allein sind keine hinreichende und vor allem stabile Basis für einen dauerhaften Protest. Das Ausbleiben der "großen Katastrophen" und die relativ schnelle Beendigung des Krieges haben dem Protest das Wasser abgegraben. Drittens: Nachdem Israel ins Visier von vereinzelten irakischen Scud-Raketen geraten war, bekam die öffentliche Debatte einen anderen Tenor. Nicht mehr die Illegitimität des Kriegs gegen Irak stand im Mittelpunkt, sondern die Frage nach der Legitimität militärischen Schutzes Israels. Einer solchen Diskussion waren vor allem die jugendlichen Protestierer in ihrer anerzogenen pro-israelischen Haltung kaum gewachsen.
Allgemein lässt sich sagen: Erschien die Friedensbewegung zu Beginn dieses Zeitraums stark dominiert von politischen Organisationen (linken Parteien, Gewerkschaften), was im Grunde eine Fortsetzung des Zustands von vor 1933 war, so emanzipierte sich die Bewegung zunehmend von ihren traditionellen politischen und sozialen Wurzeln und wandelte sich in eine von Intellektuellen und anderen Mittelschichten dominierte Bewegung (Krysmanski 1993, S. 187). So erklärt sich auch die starke Präsenz der damals aufstrebenden und ebenfalls mittelschicht-orientierten grün-alternativen Bewegung in der Friedensbewegung der 80er Jahre.
Exkurs: Die Friedensbewegung 2003 unter soziologischer Beobachtung
Die Protestbewegung gegen den Irakkrieg 2003 hat alles übertroffen, was bisher in der deutschen, wahrscheinlich aber auch in der Geschichte anderer Länder und weltweit registriert worden war (vgl. zum Folgenden Strutynski 2004). Massendemonstrationen am 15. Februar 2003 gegen den angekündigten angloamerikanischen Krieg fanden in rund 60 Ländern der Erde statt, die Teilnehmerzahlen werden auf bis zu 16 Millionen geschätzt. Mit der Großdemonstration in Berlin ist die deutsche Friedensbewegung endgültig aus dem Schatten der 80er Jahre herausgetreten und hat sich als runderneuerte außerparlamentarische Kraft im politischen Kräftespiel der Bundesrepublik gehörigen Respekt verschafft. Öffentlichkeit, Medien und Politik waren gleichermaßen beeindruckt von dieser großartigen Manifestation des Mehrheitswillens der Bevölkerung gegen den drohenden Krieg und für den Frieden.
Es mag als Glücksfall erscheinen, dass die Demonstrationen vom 15. Februar in sieben europäischen Ländern und drei US-amerikanischen Städten wissenschaftlich unter die Lupe genommen wurden. Der "Bewegungsforscher" Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin wurde in den Tagen danach in fast allen - deutschen - Zeitungen mit zwei "überraschenden" Erkenntnissen seiner Feldforschung zitiert:
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Die Demonstration spiegele einen Querschnitt der Bevölkerung wider.
- Viele Demonstrantinnen und Demonstranten seien zum ersten Mal in politischer Absicht auf die Straße gegangen. (vgl. z.B. Frankfurter Rundschau, 18.02.2003)
Diese Erkenntnisse schienen trivial zu sein, weil eine Massendemonstration dieser Größenordnung (mehr als 500.000), die in ihrer politischen Stoßrichtung die Überzeugung von rund 80 Prozent der Gesamtbevölkerung ausdrückt, durchaus auch stellvertretend für diese Bevölkerung stehen kann. Im statistischen Sinn "repräsentativ" muss ihre Zusammensetzung deswegen noch lange nicht gewesen sein. Z.B. wird es bei Demonstrationen selten möglich sein, einen repräsentativen Altersquerschnitt auf die Straße zu bringen. Wenn zur Zeit rund 17 Prozent der Bevölkerung 65 Jahre und älter sind, heißt das noch lange nicht, dass dieser Anteil auch bei einer Demonstration erreicht wird - noch dazu bei einer Demonstration und Kundgebung, die insgesamt über vier Stunden bei eisigen Temperaturen dauern. Trivial mutet auch die zweite Feststellung an, dass viele Teilnehmer/innen "zum ersten Mal in ihrem Leben" bei einer politischen Demonstration mitgemacht haben. Eigentlich sagt schon der gesunde Menschenverstand, dass je größer eine Demonstration, desto eher sind Menschen dabei, die noch nie zuvor demonstriert haben. Noch dazu, wenn viele junge Menschen beteiligt sind.
Bewegungsforscher Rucht hatte kein Hehl aus seiner Sympathie für die Berliner Großdemonstration gemacht, weil sie so schön seinem Wunsch nach einer großen Gemeinschaft der breiten Mehrheit, sprich der breiten Mitte entsprach. Umso ernüchterter war er, als sich bei genauerer Auswertung der ermittelten Daten herausstellte (Rucht 2003, Rucht 2004), dass die Demonstration keineswegs den "Querschnitt der Bevölkerung" darstellte, ja, dass sie "linkslastiger als vermutet" war. (Anmerkung am Rande: Es entspricht dem herrschenden politischen Verständnis, dass bei der Charakterisierung politischer Spektren "links" offenbar immer mit einer "Last" in Verbindung gebracht wird, die Vokabel "mittelastig" gibt es dagegen nicht, denn die Mitte wird doch nie und nimmer als Last empfunden!)
"Frappierend" war für Rucht der "weit über dem Durchschnitt liegende Bildungsstand der Demonstranten". 51 Prozent der Demonstranten hätten einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss, acht Prozent darüber hinaus sogar eine Promotion. Hinzu kommen gut sechs Prozent Menschen mit Fachhochschulreife und 17 Prozent mit Abitur. Alles in allem: 82 Prozent der befragten Demonstranten haben mindestens Abitur oder Fachhochschulreife.
Doch völlig überrascht war Rucht von der allgemeinen politischen Positionierung der Demonstranten. Die beliebte Sonntagsfrage unter den Demonstranten erbrachte "das Bild einer enorm starken Linkslastigkeit": 93,5 Prozent wollten Rot-Grün bzw. PDS wählen! Allerdings: Die Grünen erhielten fast 53 Prozent, die SPD knapp 21 und die PDS knapp 20 Prozent - da reicht das Spektrum also doch wieder bis weit in die Mitte. Dass die CDU/CSU mit 1,7 Prozent und die FDP mit 1,2 Prozent vorliebnehmen musste, überrascht mich indessen weniger. Immerhin handelte es sich um eine Antikriegsdemonstration, und die CDU hatte sich derart eindeutig für den Krieg ausgesprochen und sich hinter Bush gestellt, dass sich eine CDU-Wahloption in der Situation geradezu verbot.
Die Linksorientierung der Demonstration wird des Weiteren damit belegt, dass sich die meisten Demonstranten auf einer vorgegebenen "Links/Rechts-Skala" (von 0=ganz links bis 10=ganz rechts) 18,8 Prozent als "sehr links" und 64,1 Prozent als "links" einstufen (Werte von 0-3) und nur 1,1 Prozent als "rechts" bis "sehr rechts" (Werte von 7 bis 10). Rucht fehlt vor allem die "Mitte" (Werte von 4 bis 6): Zu ihr bekennen sich "nur" 16 Prozent. Im Kontext anderer Fragen erweist sich die Masse der Demonstranten als ausgesprochen kritisch und skeptisch gegenüber den politischen Institutionen, insbesondere den Parteien, und beurteilt den drohenden Irakkrieg überwiegend als Krieg um Öl.
Das wirklich Frappierende an solchen Ergebnissen ist, dass sie sich im Großen und Ganzen deckten mit zahlreichen Repräsentativerhebungen vor, während und nach dem Irakkrieg. Noch ein halbes Jahr nach dem offiziellen Ende des Krieges hat sich dies nicht geändert. Im Oktober 2003 führte Gallup Europe im Auftrag der Europäischen Kommission eine Umfrage durch, deren Ergebnisse eine anhaltende Kriegsgegnerschaft und USA-Skepsis in der europäischen Bevölkerung dokumentieren (EOS Gallup 2003). Beispielsweise wollten die Interviewer wissen, ob die Befragten den Irakkrieg auch ein halbes Jahr nach dessen Beginn für gerechtfertigt halten. 68 Prozent aller Befragten verneinten diese Frage, worunter noch einmal 41 Prozent sagten, sie hielten die Militärintervention unter gar keinen Umständen für gerechtfertigt. Demgegenüber glaubt nur eine Minderheit von 29 Prozent, dass der Krieg gerechtfertigt gewesen sei (darunter befanden sich 7 %, die diese Meinung unter allen Umständen aufrechterhalten würden). Differenziert man nach Ländern, so ergeben sich doch bemerkenswerte Unterschiede: Am größten ist die Ablehnung des Krieges in Griechenland, wo 96 Prozent der Befragten den Krieg für ungerechtfertigt halten. Österreich mit 86 Prozent und Frankreich mit 81 Prozent folgen auf den Plätzen zwei und drei, dahinter Spanien (79 %), Luxemburg, Belgien (jeweils 75 %) und Deutschland (72 %).
Auch andere Umfragen belegen, dass eine große und stabile Bevölkerungsmehrheit über Monate den Irakkrieg abgelehnt hat und auch heute noch ablehnt. Dies setzt sich indessen nicht unmittelbar in politische Bewegung um. Am 15. Februar 2003 kam eine Reihe begünstigender situativer Faktoren zusammen, die den Protest gegen den drohenden Krieg zu einer gewaltigen Massenbewegung anschwellen ließen. Dennoch waren die Demonstranten im statistischen Sinn nicht repräsentativ für die Bevölkerung - auch nicht für die rund 80 Prozent der Menschen, die den Krieg ablehnten. Dies liegt schlicht daran, dass "die Straße" für die breite Bevölkerung nicht die bevorzugte Arena zur politischen Meinungsäußerung ist. Friedensdemonstranten sind immer ein hoch motivierter, überdurchschnittlich informierter, besonders entschiedener und in politischen Zusammenhängen (Parteien, Gewerkschaften, "neuen sozialen Bewegungen") agierender Teil der Gesellschaft. Solche Zuweisungen korrespondieren mit den von Rucht festgestellten Attributen der Demonstranten, was deren höhere Bildungsabschlüsse oder linke Parteipräferenzen betrifft - insofern sind seine Befunde wenig spektakulär.
Die Akkumulation friedensorientierter Einstellungen
Nur diejenigen, die in der späten 80er oder spätestens in den 90er Jahren der Friedensbewegung den Totenschein ausgestellt hatten, haben die anschwellende Protestbewegung gegen den Irakkrieg als wunderliche "Auferstehung" oder "Wiedergeburt" bestaunt. Anderen, vor allem den Akteuren selbst war das Bild von den "Konjunkturschwankungen des Protests" geläufig (Rucht, S. 59). Dass indessen die Welle des Protests gegen den Irakkrieg eine derartige Höhe erreichen würde, traf auch den "harten Kern" der Friedensbewegung unerwartet. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass sich der neuerliche Aufschwung der Friedensbewegung in den aufklärerischen Kampagnen der Vorjahre kontinuierlich aufgebaut hatte und dass die Friedensbewegung darüber hinaus die Früchte einer von ihr selbst mitverursachten und über die Jahrzehnte "akkumulierten" Kriegsunwilligkeit und Friedensbereitschaft in der Bevölkerung erntete.
Meine These ist, dass sich die Einstellung der Bevölkerung der Bundesrepublik zu Fragen von Krieg und Frieden heute grundlegend unterscheidet von den Einstellungen früherer Generationen, insbesondere "der Deutschen" vor 1945. Das Bild der deutschen Gesellschaft im Kaiserreich, in der Zwischenkriegsperiode der Weimarer Republik und im Faschismus war stark beeinflusst gewesen von der historischen Erblast einer gescheiterten bürgerlich-demokratischen Revolution 1848, der deutschen Reichsgründung von oben und mittels eines Krieges, der Dominanz obrigkeitsstaatlichen, antidemokratischen Denkens, und der Militarisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens. In diesem Milieu der spezifisch preußischen Pickelhauben-"Demokratie" konnten all jene "Sekundärtugenden" wie Tapferkeit, unbedingter Gehorsam u.ä. gedeihen, die zur Führung industrieller Massenkriege (1. und 2. Weltkrieg) gebraucht wurden.
Dieses (Selbst-)Bild der Deutschen als einem zu Krieg und Eroberung prädestinierten Herrenvolk wurde spätestens mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zerstört. Bewirkt wurde diese Einstellungsänderung vor allem durch drei Momente:
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Nach dem Zweiten Weltkrieg, dem verheerendsten Krieg in der Geschichte der Menschheit, hat sich ins kollektive Gedächtnis der Deutschen der Schwur der KZ-Überlebenden eingegraben, dass sich Auschwitz nicht wiederholen und von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe. Diese Erkenntnis resultiert aus dem unermesslichen Leid, das Deutschland im 2. Weltkrieg anderen Völkern angetan hat und in der militärischen Niederlage schließlich selbst erfahren musste.
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Sie ist zweitens Ergebnis der jahrzehntelangen außen- und militärpolitischen Selbstbeschränkung der - alten - Bundesrepublik (der Spielraum der DDR war bestimmt nicht größer), die sich sehr gut mit der ökonomischen und sozialen Prosperität des Landes vereinbaren ließ und von der Bevölkerung nicht als Nachteil empfunden wurde, auch wenn der rechtspopulistische Franz-Josef Strauß immer wieder darüber klagte, dass Deutschland "ökonomisch ein Riese", "politisch" aber nur ein "Zwerg" sei.
- Die größere Friedfertigkeit der deutschen Gesellschaft ist schließlich auch Ergebnis des langjährigen Wirkens der Friedensbewegung, deren Weg zwar überwiegend von realpolitischen Niederlagen gepflastert war (z.B. Wiederbewaffnung, Raketenstationierung), deren Gedanken und Überzeugungen sich aber im Bewusstsein vieler Menschen festgesetzt haben. So konnte etwa in den 80er Jahren, als sich die Friedensbewegung im Sinne einer Ein-Punkt-Bewegung ganz auf den Kampf gegen die Raketenstationierung konzentriert hatte, "nebenbei" die Abschreckungsdoktrin in Frage gestellt und die Idee einseitiger Abrüstungsschritte propagiert werden.
Die Friedensbewegung der achtziger Jahre war keine Jugendbewegung. Der größte Teil ihrer aktiven Kerne hatte bereits einschlägige politische Erfahrungen aus außerparlamentarischen Bewegung, sei`s der "alten" Ostermarschbewegung, sei`s der Gewerkschaftsbewegung oder eben der schon erwähnten Umweltbewegung bzw. anderer "Alternativ"bewegungen einschließlich der mittlerweile zu Unrecht in Verruf geratenen "Achtundsechziger". Das Durchschnittsalter der Friedensaktivisten dürfte zwischen 30 und 40 Jahren betragen haben. Die Attraktivität der Bewegung für junge Menschen, sich an größeren Aktionen (Demos, Aktionen des "zivilen Ungehorsams") zu beteiligen, ergab sich zum Teil aus den unkonventionellen Protestformen selbst, zum Teil aus der generationsübergreifenden politischen Betroffenheit: der Angst vor einem Atomkrieg. Der Friedensbewegung war es gelungen, diese Angst, die ja auch hätte lähmen können, produktiv in politischen Massenprotest umzusetzen.
Nach den "schwierigen 90er Jahren" ein neuer Bewegungszyklus
In den 90er Jahren haben sich die politischen Rahmenbedingungen für die Friedensarbeit grundlegend verändert. Der Kalte Krieg war (zumindest in Europa) überwunden, in der Welt schienen sich prinzipiell bessere Chancen auf eine friedlichere Zukunft herausgebildet zu haben, die Gefahr eines Atomkriegs zwischen den Supermächten schien ein für allemal überwunden zu sein, die weltweiten Rüstungsausgaben sanken erheblich. Auf der anderen Seite wurde die Welt von einer zunehmenden Welle regionaler, meist innerstaatlicher Kriege und Gewaltkonflikte heimgesucht, Regionen wie der Nahe Osten oder Südostasien rüsteten weiter auf, die Probleme in großen Teilen der unterentwickelten Welt und in den sog. Transformationsländern (Massenarbeitslosigkeit, Armut, Umweltzerstörung, Migration, innergesellschaftliche Gewalt) nahmen zu und die hochentwickelten Staaten der Ersten Welt begannen Vorkehrungen zu treffen, sich vor den negativen Folgen dieser Prozesse zu schützen (Stichwort "Festung Europa"). Innergesellschaftlich setzten sich die Segmentierungs- und Entsolidarisierungsprozesse weiter fort und begünstigten eine scheinbare Entpolitisierung insbesondere jüngerer Menschen (Stichwort "Spaßgesellschaft"), die sich bei genauerem Hinsehen als eine höchst problematische Anfälligkeit für die ideologischen Versatzstücke des Neoliberalismus (shareholder value, Globalisierung, Privatisierung, Entstaatlichung, Vermarktwirtschaftlichung) einschließlich ihrer in das Alltagsleben übertragenen Verhaltensweisen ("Ellbogenmentalität") entpuppte. Die in der neuen Shell-Jugendstudie vorgenommene Einteilung der Jugendlichen in "selbstbewusste Macher", "pragmatische Idealisten" und "robuste Materialisten" unterstreicht diesen Trend (Deutsche Shell 2002). Begreiflicherweise hatte es die Friedensbewegung (aber nicht nur sie) schwer, gegen den Mainstream der veröffentlichten Meinung ihre Mahnungen und Bedenken vorzubringen.
Radikal hatte sich auch die gesellschaftliche Wahrnehmung der genannten (Welt-)Probleme und ihrer politisch-militärischen "Bearbeitung" durch die Regierenden. geändert. Die Teilnahme der Bundeswehr am NATO-Krieg gegen Jugoslawien wurde u.a. auch deshalb nicht zum Gegenstand großer gesellschaftlicher Debatten und Auseinandersetzungen, weil sich die Gesellschaft in nur geringem Maße davon wirklich betroffen fühlte. Außerdem hatte der von der ehemals pazifistischen Partei der Grünen unter dem Schlagwort "Nie wieder Auschwitz!" (Joschka Fischers "Lehre" aus Srebrenica) vollzogene und vor allem moralisch begründete Schwenk zur Unterstützung sog. "humanitärer" Interventionen irritierend und lähmend auf Teile der Friedensbewegung gewirkt. Zudem dürfte die soziale Segmentierung und Professionalisierung dazu beigetragen haben, dass das militärische und Kriegshandwerk zunehmend als Job wie jeder andere angesehen wurde, für den sich junge Männer (ab 2001 auch Frauen) frei entscheiden können, während die große Masse der Jugendlichen andere Karrieren vorzieht. Da man sich seit der Liberalisierung des Kriegsdienstverweigerungsrechts kaum noch mit dem Kriegsdienst existenziell und politisch auseinandersetzen muss, wird er als eine unter vielen Möglichkeiten akzeptiert - auch wenn man ihn für sich selbst ausschließt. Auch die fortschreitende Privatisierung und Entstaatlichung des Krieges weltweit suggeriert eine grundsätzliche Wahlmöglichkeit für den Einzelnen. Hinzu kommen die geografische Ferne der Kriegsschauplätze und die zunehmende Technisierung der Kriegführung, die kaum noch den Menschen (ob Kombattant oder Zivilist) ins Blickfeld rückt.
Demgegenüber haben die Terroranschläge vom 11. September 2001 unmittelbare Betroffenheit in breiten Kreisen der Bevölkerung hier zu Lande hergestellt. Politik und Medien sind seither damit beschäftigt, sowohl die Angst vor dem internationalen Terrorismus aufrechtzuerhalten als auch Sicherheit zu suggerieren. Das erste geschieht durch die Dauer-Thematisierung der Allgegenwart terroristischer Gefahren in global vernetzten komplexen Gesellschaften, das zweite geschieht durch die Vortäuschung wirksamen Schutzes in Form von neuen Sicherheits- und Anti-Terrorgesetzen und von Krieg, der jetzt nicht mehr als "humanitäre" Intervention wie im Fall des Jugoslawien-Krieges, sondern als "Kampf gegen den Terror" deklariert wird. Es gehört zu den großen Leistungen der Friedens- und globalisierungskritischen Bewegung, dieser Propaganda durch eine plausiblere Argumentation die Schau gestohlen zu haben. Insbesondere zwei Argumentationsfiguren - die eine aus dem Arsenal der Friedensbewegung, die andere aus dem der globalisierungskritischen Bewegung - beherrschten die öffentlichen Diskussionen nach dem 11. September: Einmal die Behauptung, jede Art militärischen Vorgehens müsse als Vergeltung oder Rache aufgefasst werden und trage nur zur weiteren Eskalation der Gewalt bei ("Gewaltspirale"). Zum anderen setzte sich erstaunlich schnell die Formel vom "Nährboden" des Terrorismus durch, den es trocken zu legen gilt, wenn man dauerhafte Erfolge im Kampf gegen den Terrorismus erzielen will. Die Wirkung dieses Arguments war so durchschlagend, dass man ihm fast schon den Rang eines geistigen Allgemeingutes einräumen darf. Paradoxerweise wird dieses Argument mittlerweile auch von den Militärs und Kriegsplanern usurpiert, und zwar in Gestalt der "Prävention". Dieser Begriff hat sich zu einer wahren Allzweckwaffe in der ideologischen Verwirrungsstrategie der politischen Klasse entwickelt (vgl. z. B. die am 13. Dezember 2003 beim EU-Gipfel in Brüssel verabschiedete Europäische Sicherheitsstrategie!).
Der 11. September 2001 markierte also auch für die Friedensbewegung den Beginn eines neuen Zyklus (vgl. Strutynski 2001). Mit den beiden bundesweiten Demonstrationen, Kundgebungen und Aktionen am 13. Oktober 2001 und am 21. und 22. Mai 2002 war es der Friedensbewegung erstmals seit dem Golfkrieg (1991) gelungen, über zentrale Aktionen (am 22. Mai auch dezentral mit dem "Bushtrommeln") nicht nur von sich reden zu machen und ihre organisatorischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, sondern auch wieder zu einem Medienereignis zu werden. Überraschend an der Anti-Bush-Demonstration in Berlin war nicht ihre zahlenmäßige Größe, sondern ihr jugendliches und "kreatives" Erscheinungsbild. Die Friedensbewegung profitierte hier eindeutig von der Tatsache, dass der US-Präsident nicht "nur" für irgendwelche heißen Kriege in der Welt steht, sondern dass er auch die negative Symbolfigur für alle Schandtaten und Ungerechtigkeiten abgibt, die der globale neoliberale Kapitalismus und seine "Agenturen" (z.B. IWF) begehen. Trotz der beschriebenen Entsolidarisierungs- und Segmentierungsprozesse hat ein nennenswerter Teil der Gesellschaft nicht aufgehört, soziale Gerechtigkeit, interkulturellen Austausch und ökologische Nachhaltigkeit in globalen Zusammenhängen zu denken. Offensichtlich lassen sich Jugendliche nicht mehr so einfach mit den Kategorien der "Freizeit"- oder "Spaßgesellschaft" beschreiben. Eine ernst zu nehmende Minderheit von ihnen ist engagiert und macht sich ihre eigenen Gedanken über die Zukunft unserer Erde. Damit geraten sie unweigerlich in Widerspruch zur herrschenden Politik der Führungsmacht der westlichen Welt.
Noch nie war außerdem so deutlich geworden, dass die deutsche Friedensbewegung Teil einer weltweiten Bewegung gegen Krieg und neoliberale Globalisierung ist. Ohne auf weltweite Organisationsstrukturen zurückgreifen zu können, hat sich mittels Nutzung der modernen Kommunikationstechnologien eine nicht nur virtuelle "Internationale des Friedens" etabliert. In ihr wirken keine hierarchischen Organisationsprinzipien und es bedarf auch keiner formellen Abstimmungen. Ihre Meinungsbildung beruht vielmehr auf freiwilliger und informeller Übereinkunft aufgrund ähnlich gelagerter Interessen und politischer Ziele. Über das Internet verbreiteten sich beispielsweise Aufrufe zum weltweiten Solidaritäts-Aktionstag mit der US-amerikanischen Friedensbewegung am 26. Oktober 2002 in Windeseile. Ähnlich war es mit dem vom Europäischen Sozialforum in Florenz im November 2002 ausgesandten Signal, den 15. Februar 2003 zum weltweiten Demonstrationstag gegen den (Irak-)Krieg zu machen. Der Weg zum Friedensgipfel am 15. Februar war im wesentlichen mit e-mails gepflastert.
Zur Struktur und Typologie der Friedensbewegung
Die Nutzung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien erleichtert zwar die prinzipiell grenzenlose Mobilisierung von Anhängern der Friedensbewegung, sie ersetzt aber weder die persönliche Kommunikation der Akteure untereinander und mit Dritten noch ihre traditionellen Organisations- und Arbeitsformen. Die Organisationen der Friedensbewegung sind außergewöhnlich vielfältig und nur schwer mit anderen Organisationen oder Bewegungen vergleichbar. Es ist ihrem Bewegungscharakter geschuldet, dass die Friedensbewegung sich einer eindeutigen organisationssoziologischen Typologisierung entzieht. Dennoch möchte ich im Folgenden drei Haupttypen friedenspolitischer Arbeit unterscheiden, wobei ich mich vorwiegend auf das Selbstverständnis der Gruppen und ihre jeweiligen Arbeitsschwerpunkte beziehe.
1) Friedensbewegung als humanitäre Bewegung
Bürgerkrieg und Krieg im ehemaligen Jugoslawien waren der wichtigste Auslöser für die partielle Neu-Orientierung einer Reihe bestehender Friedensgruppen auf unmittelbare Hilfe für die Kriegsopfer. Diese Hilfe erstreckte sich auf Sammlungen und Transporte von Hilfsgütern (vor allem Lebensmittel, Medikamente und Kleider), auf direkte Solidaritätsarbeit "vor Ort" (z.B. in Flüchtlingslagern) und auf die Unterstützung von Kriegsflüchtlingen und Deserteuren in unserem Land. Das Angewiesensein dieser Hilfe auf staatliche Förderung, der dadurch zum Teil begünstigte Zugang zu den Opfern auf kroatischer und bosnischer Seite sowie das unmittelbare Erleben des grausamen Kriegsgeschehens haben mancherorts zu einer einseitigen politischen Parteinahme - in der Regel gegen den "Hauptaggressor Serbien" - und damit zu einer Polarisierung innerhalb der Friedensbewegung geführt. Häufig wurden hier auch Stimmen laut, die zur Beendigung des Blutvergießens auch den Einsatz militärischer Zwangsmaßnahmen (der NATO einschließlich der Bundeswehr) befürworteten.
So gesehen, können die 90er Jahre als "Geschichte des Abstiegs und der Trennung" der Friedensbewegung betrachtet werden (Schrader 2003). Diese Kennzeichnung trifft aber nur auf einen kleinen Teil der Friedensbewegung zu. Es ist bemerkenswert, dass so gut wie alle Teile und politischen Spektren der Friedensbewegung der vermeintlich "humanitären Befriedung" Afghanistans seit dem Krieg 2001 sehr viel reservierter gegenüber stehen.
2) Friedensbewegung als Teil der Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs)
Humanitäre Arbeit im oben genannten Sinn wird in großem Stil auch von professionalisierten Nicht-Regierungsorganisationen (NGO) geleistet. Sofern sich NGOs politisch verstehen (bei Organisationen wie dem Roten Kreuz oder der Caritas würde ich das in Abrede stellen, was nicht heißt, daß deren Wirken nicht auch politische Dimensionen annähme), begreifen sie sich wohl als so etwas wie ein zivilgesellschaftlicher Anwalt der von Krieg, Gewalt und staatlicher Willkür bedrohten, gedemütigten und benachteiligten Menschen in aller Welt (vgl. Birckenbach u.a. 1996). Zentrale Themen der NGOs sind die Einhaltung der Menschenrechte, die Förderung demokratischer Strukturen, die Kriegs- und Gewaltprävention sowie die nicht-militärische Konfliktbearbeitung (Krisenmanagement, Mediation, Versöhnungsarbeit usw.). Die Akteure kommen meist aus den (westlichen) Industriestaaten, die Adressaten der NGOs sind überstaatliche Organisationen (z.B. UNO, OSZE), unterentwickelt gehaltene Länder der "Dritten Welt", die "sich demokratisierenden" Ländern Osteuropas sowie benachteiligte oder unterdrückte Völker, Nationalitäten, Religions- und Glaubensgemeinschaften in aller Welt. Dabei gibt es wenige, aber wichtige Erfolge. Es war z.B. der beharrlichen Arbeit von NGOs zu verdanken, dass sich der Internationale Gerichtshof 1996 mit der Völkerrechtsvereinbarkeit bzw. -unvereinbarkeit von Atomwaffen befasste; und als Teilerfolg der Anti-Minen-Kampagne, die maßgeblich von internationalen NGOs getragen wird, kann auch verbucht werden, dass im Dezember 1997 in Ottawa ein vollständiges Verbot von Anti-Personen-Minen vereinbart wurde. Eine im Oktober 2003 gestartete internationale Kampagne "Waffen unter Kontrolle" möchte insbesondere in Bezug auf die Kleinwaffen ein ähnliches weltweites Verbot erreichen (amnesty 2003).
3) Friedensbewegung als politische Basisbewegung
Hierzu zählen die weiter oben erwähnten lokalen, betrieblichen oder berufsbezogenen Friedensinitiativen und -bündnisse, die ihre Arbeit in erster Linie als Aufklärungsarbeit begreifen in der Absicht, größere Teile der Bevölkerung für ihre Ziele zu gewinnen und damit politischen Druck auf die Regierenden auszuüben. Die Arbeit dieser Basisbewegungen ist zweifellos am schwierigsten, aber ohne sie kann es keine breite Verankerung friedenspolitischen Bewusstseins in der Bevölkerung geben. Es kann sich dabei um Initiativen handeln,
a) die sich über einen längeren Zeitraum vorwiegend mit einem Thema oder Projekt befassen (z.B. Kampf gegen einen Truppenübungsplatz, gegen Tiefflüge, gegen Rüstungsfirmen),
b) die sich in einem engeren politischen Sinn als "antimilitaristische" oder "antiimperialistische" Gruppen definieren und sich ideologisch und der Form nach von der in ihren Augen "bürgerlich" bzw. "kleinbürgerlich" orientierten pazifistischen Friedensbewegung absetzen (z.B. indem sie auch den "bewaffneten Kampf" befürworten), oder es handelt sich um Initiativen,
c) deren politisches Wirken insgesamt auf Abrüstung, Entmilitarisierung und gewaltfreie Konfliktprävention abzielt und die dafür eine breite, der Idee nach mehrheitsfähige und vor allem politikfähige Bewegung entfalten wollen.
Diese Typologie der Friedensbewegung ist natürlich sehr schematisch. Im wirklichen Leben gibt es zahlreiche Überschneidungen zwischen diesen Typen. Und sie sind auch aufeinander angewiesen. Vermutlich wäre es nicht zur Minen-Vereinbarung von Ottawa gekommen, wenn die NGO sich nicht auf einen breiten Rückhalt lokaler Friedensbewegungen hätten stützen können, der schließlich auch die Regierungen vieler Staaten beeindruckte und zum Handeln veranlasste.
Ausblick
Generell hat in den vergangenen Jahren die Tendenz zugenommen, Friedenspolitik umfassender zu verstehen, als dies noch in den 80er Jahren der Fall war: Nicht mehr der Kampf gegen einzelne Waffen oder singuläre sicherheitspolitische Entwicklungen steht heute im Vordergrund, sondern die fundamentale Ablehnung eines Systems und einer Logik, die zur Durchsetzung politischer Ziele den Einsatz von Waffen und Militär einkalkulieren (Strutynski 2000). Häufig wird außerdem gefordert, die Friedensbewegung müsse ihre reine Anti-Haltung um eine "Pro"-Haltung ergänzen, d.h. konkrete und praktikable friedenspolitische Alternativen entwickeln und damit eine realpolitische Brücke zur Vision einer friedlichen Welt schlagen (siehe z.B. Richter 1999, Strutynski 2000). Die personelle Kontinuität in den Kernen der Friedensbewegung seit den 80er Jahren förderte zudem individualentwicklungsgeschichtlich die "Akkumulation" friedenspolitischen Wissens. Ein komplexerer und "ganzheitlicher" Ansatz der Friedensbewegung verhilft ihr - im Gegensatz zu früher - zu einem besseren Verständnis von Kriegs- und Konfliktursachen und zu einer profunden Kenntnis der gesellschaftlichen und ökonomischen Voraussetzungen militärischer Entwicklungen. Er birgt aber auch die Gefahr der ideologischen Abschließung gegenüber Menschen, die eine solch umfassende Analyse nicht teilen oder noch nicht nachvollziehen können und trotzdem gegen einzelne Erscheinungen des Militärsystems aktiv werden wollen. Außenstehende, vor allem auch junge Leute, haben es mitunter recht schwer, in den kleinen Zirkeln hochinformierter und entsprechend fachsimpelnder Friedensaktivisten heimisch zu werden. Die Friedensbewegung muss ihren inneren "Numerus clausus" aufbrechen und sich wieder stärker der Gesellschaft und den sich dort stellenden Fragen öffnen. Nur so kann sie einen relevanten Beitrag zur "gesellschaftlichen Bewusstseinsveränderung" und zur "Organisierung sozialer Lernprozesse" leisten - nach Andreas Buro die wesentlichen Aufgaben der Friedensbewegung (Buro 1997).
Dies muss nicht bedeuten, dass die Friedensbewegung ihr Themenspektrum und ihren bewegungspolitischen "Zuständigkeitsbereich" ausweiten sollte. In Phasen abnehmender Mobilisierungskraft wird der Friedensbewegung regelmäßig nahegelegt - meist von mehr oder weniger wohlwollenden Leitartiklern - , sie solle sich doch mit anderen sozialen Bewegungen, die gerade größere Aufmerksamkeit genießen, zu gemeinsamen Aktionen und Plattformen zusammentun. 1983 etwa, als die Antiraketen-Bewegungen in eine erste Sinnkrise geriet, wurde der Friedensbewegung empfohlen, enger mit der damals noch sehr lebendigen Umweltbewegung zusammenzuarbeiten oder zumindest die Friedensagenda um ökologische Themen und Fragestellungen zu erweitern. Nach dem Irakkrieg wurden Stimmen laut, die für eine Annäherung von Friedens- und globalisierungskritischer Bewegung plädierten. Solche Stimmen verkennen m.E. sowohl die über Jahrzehnte gewachsene unverwechselbare politisch-moralische Identität und das spezifische Erscheinungsbild der Friedensbewegung, sondern auch die jeder sozialen Bewegung eigentümliche Zyklizität. So wie die Umwelt- oder die Frauenbewegung in den letzten drei Jahrzehnten von einer Hochkonjunktur in eine tiefe Depression gefallen sind (ohne sich deswegen aufzugeben oder gar von der Bildfläche zu verschwinden), könnten auch Attac und die Sozialbewegungen (z.B. die in den letzten anderthalb Jahren überall entstandenen "Sozialforen") an Aktionsdynamik und Masseneinfluss verlieren. Niemand würde aber auf die Idee kommen, diesen Bewegungen Zusammengehen mit oder gar ein Aufgehen in der Friedensbewegung nahe legen zu wollen.
Eine inhaltliche Erweiterung der Friedensagenda um Themen anderer Bewegungen würde die Friedensbewegung nicht bereichern, sondern eher einengen. Je umfassender das politische Programm, desto beliebiger (bei grenzenlosem Pluralismus) oder sektiererischer (bei einheitlicher Artikulation) müsste die Friedensbewegung werden. In beiden Fällen trüge sie den Keim der Selbstzerstörung in sich: entweder durch die Aufgabe des Anspruchs auf Politikfähigkeit oder durch die sektiererische Verengung des personellen Potenzials. Wenn die Friedensbewegung schon keinen Einfluss darauf hat, ob sie von der Medienöffentlichkeit unterschätzt oder überschätzt wird, so hat sie es doch selbst in der Hand, ob sie ihre eigenen Ansprüche zu sehr herunterschraubt (d.h. schicksalsergeben auf das nächste Konjunkturhoch wartet) oder durch voluntaristische Kraftakte überdehnt. Ich neige in diesem Fall eindeutig zu einem Mittelweg: Die Friedensbewegung sollte als "Anti"-Kriegs- und "Pro"-Friedens-Bewegung ihre spezifische friedenspolitische Agenda im Auge behalten - gerade auch in Zeiten nachlassender "Konjunktur".
Literatur
amnesty international, Oxfam, IANSA, "Waffen unter Kontrolle!" - Für ein verbindliches internationales Waffenkontrollabkommen!, in: /fb5/frieden/themen/export/kampagne2.html (Oktober 2003)
Benz, Georg, Engelmann, Bernt, Hensche, Detlef (Hg.), Rüstung, Entrüstung, Abrüstung. SPD 1866-1982, Bornheim-Merten 1982
Birckenbach, Hanne, Jäger, Uli, Wellmann, Christian (Hrsg.), Jahrbuch Frieden 1997. Konflikte - Abrüstung - Friedensarbeit, München 1996
Buro, Andreas, Totgesagte leben länger: Die Friedensbewegung. Von der Ost-West-Konfrontation zur zivilen Konfliktbearbeitung, Idstein 1997
Deutsche Shell (Hg.), Jugend 2002. 14. Shell Jugendstudie. Konzeption & Koordination: Klaus Hurrelmann, Mathias Albert in Arbeitsgemeinschaft mit Infratest Sozialforschung, Frankfurt a.M. 2002
Donat, Helmut, Holl, Karl (Hg.), Die Friedensbewegung. Organisierter Pazifismus in Deutschland, Österreich und in der Schweiz, Düsseldorf 1983 (Hermes Handlexikon)
EOS Gallup Europe: Flash Eurobarometer 151 "Iraq and Peace in the World". Requested and coordinated by Directorate General Press and Communication, European Commission, November 2003
EIN SICHERES EUROPA IN EINER BESSEREN WELT. EUROPÄISCHE SICHERHEITSSTRATEGIE, Brüssel, den 12. Dezember 2003, in: /fb5/frieden/themen/Europa/strategie.html
Knorr, Lorenz, Geschichte der Friedensbewegung in der Bundesrepublik, Köln 1983
Krause, Fritz, Antimilitaristische Opposition in der BRD 1949-55, Frankfurt a.M. 1971
Krysmanski, Hans-Jürgen, Soziologie und Frieden. Grundsätzliche Einführung in ein aktuelles Thema, Opladen 1993
Otto, Karl A., Vom Ostermarsch zur APO. Geschichte der außerparlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik 1960-1970, Frankfurt a.M. 1980
Richter, Horst-Eberhard, Pazifismus und Widerstand. In: Ralph-M. Luedtke, Peter Strutynski (Hrsg.), Pazifismus, Politik und Widerstand. Analysen und Strategien der Friedensbewegung, Kassel 1999, S. 249-259
Rucht, Dieter, Das Bild vom Querschnitt der Bevölkerung ist falsch, in: Frankfurter Rundschau (Dokumentationsseite), 21.03.2003
Rucht, Dieter, Die Friedensdemonstranten. Wer waren sie, wofür stehen sie?, in: Wissenschaft & Frieden, Heft 1/2004, S. 57-59
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Strutynski, Peter, Risiken und Chancen der gegenwärtigen Weltlage. Die Friedensbewegung in einem Netz widersprüchlicher Tendenzen, in: Dresdener Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik (Hrsg.), Warum Umrüstung statt Abrüstung in Europa?, Dresden (DSS-Arbeitspapiere Heft 40) 1998, S. 3-43
Strutynski, Peter, Gewerkschaften und Friedensbewegung. Eine schwierige Beziehung, in: G. Schlemmer, H. Schmitthenner, E. Spoo (Hrsg.), Kapitalismus ohne Gewerkschaften? Eine Jahrhundertbilanz, Hamburg 1999, S. 186-200
Strutynski, Peter, Die Friedensbewegung ist mehr als eine Antikriegsbewegung, in: Marxistische Blätter, Heft 6/2000, S. 27-33
Strutynski, Peter, Die Rückkehr der Friedensbewegung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 12/2001, S. 1431-1435
Strutynski, Peter, Friedensbewegung unter soziologischer Beobachtung, in: Wissenschaft & Frieden, Heft 2/2004
Wienecke, Jan, Krause, Fritz, Unser Marsch ist eine gute Sache. Ostermärsche damals - heute, Frankfurt a.M. 1982
* Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um ein Manuskript für die Schlaininger STOP-Konferenz, die im Februar 2004 in Stadtschlaining stattfand.
Veröffentlicht ist der Text im
Friedensbericht 2004, hrsg. vom ÖSFK (agenda-Verlag).
Hier geht es zu einem weiteren Beitrag in diesem Band:
Nach dem Irakkrieg: Perspektiven der Friedensbewegung aus österreichischer Sicht
Von Thomas Roithner, Wien, Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK)
ÖSFK (Hrsg.): Pax Americana und Pax Europaea. Konsens oder Konflikt um eine neue Weltordnungskonzeption? Friedensbericht 2004
Agenda Verlag, Münster 2004, 300 Seiten, ISBN 3-89688-211-X, 27 Euro zuzüglich Porto.
Bestellungen an das ÖSFK:
aspr@aspr.ac.at
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