Für einen friedensfähigen EU-Verfassungsvertrag
Der Gesprächskreis Frieden und Sicherheitspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum EU-Verfassungsvertrag
Im Folgenden dokummentieren wir eine überarbeitete und aktualisierte Stellungnahme des "Gesprächskreises Frieden und Sicherheitspolitik" der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum vorliegenden Entwurf einer EU-Verfassung (die ursprüngliche Erklärung finden Sie hier!).
Mit dem vorliegenden "Vertrag über eine Verfassung für Europa", der am 29. Oktober 2004 in Rom von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet wurde und um dessen Ratifizierung jetzt in den Mitgliedstaaten gestritten wird, sind Fragen nach der grundlegenden Orientierung dieser sich herausbildenden politischen Union Europas neu aufgeworfen. In welche Richtung soll sich EU-Europa künftig entwickeln? Wie kann die EU zur Bewältigung der sich verschärfenden globalen Probleme beitragen – und wie nicht?
Vor diesem Hintergrund haben wir uns mit dem Vertrag für eine Verfassung der Europäischen Union und hier insbesondere den Teilen zur „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ befasst und stellen dazu fest:
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Die Aussagen zur „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) nehmen schon quantitativ erheblichen Raum ein. Wichtiger ist jedoch, dass ihr eine zentrale Funktion im Prozess der Integration der EU der 25 zugewiesen wird, wie in den Abschnitten über Zuständigkeiten (bes. Art. I-11) bzw. allseitigen Verbindlichkeitscharakter (Art. I-12) deutlich wird.
- Mit der GASP wird eine grundlegende Weichenstellung für die EU als zukünftigem weltpolitischen Machtzentrum anvisiert.
- Zwar gibt es auch verschiedentlich Verweise auf diplomatische, wirtschaftliche, entwicklungspolitische und völkerrechtliche Maßnahmen und Instrumente, diese bleiben jedoch formal und im Wesentlichen auf Aspekte der Entscheidungsfindung und Abstimmung beschränkt. In deutlichem Kontrast dazu steht die „Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik“: Die Regelungen des EU-Verfassungsvertrages stellen eine entscheidende Weiterführung in diesem Politikbereich dar. Aspekte militärischer Rüstung und ihre Einsatzmodalitäten erhalten Verfassungsrang.
Der EU-Verfassungsvertrag umfasst rund 450 Seiten. Zum Verfassungsvertrag hinzu kommt ein Anhang von Protokollen, die ebenfalls Verfassungsrang erhalten sollen, wie das Protokoll Nr. 23 über die "Ständige Strukturierte Zusammenarbeit". Dazu kommen noch die angehängten Erklärungen, so dass der eigentliche Verfassungsvertrag nahezu 1000 Seiten umfasst. Es ist auffällig, dass der Anteil der Verfassungsartikel innerhalb des Verfassungsvertrages, die sich mit der zukünftigen Militär- und Außenpolitik beschäftigen, außergewöhnlich hoch ist.
Aufrüstungsverpflichtung
Der Verfassungsvertrag ist einmalig im friedens- bzw. militärpolitischen Bereich. „Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“ (I-41). Indem diese Formulierung Verfassungsrang erhalten soll, stellt sie eine explizite Verpflichtung zu Aufrüstung bzw. Rüstungsmodernisierung dar. Dieser Verpflichtungserklärung soll Nachdruck verliehen werden, indem "eine Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung (Europäische Verteidigungsagentur)“ eingeführt wird, deren Aufgabe es sein soll "den operativen Bedarf zu ermitteln und Maßnahmen zur Bedarfsdeckung zu fördern, zur Ermittlung von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektor beizutragen und diese Maßnahmen gegebenenfalls durchzuführen" und "bei der Ermittlung der Ziele im Bereich der militärischen Fähigkeiten der Mitgliedstaaten und der Beurteilung, ob die von den Mitgliedstaaten in Bezug auf diese Fähigkeiten eingegangenen Verpflichtungen erfüllt wurden, mitzuwirken" (I-41, III-311)
Festschreibung von Kampfeinsätzen (auch in Drittstaaten) in der Verfassung
Einmalig ist, dass die Bereitschaft zu weltweiten Militäreinsätzen gleichfalls in Verfassungsrang erhoben werden soll. EU-Streitkräfte sollen zu „Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen“ eingesetzt werden können. Weiter heißt es: „Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittländer bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet“. (III-309) Das Beschwören einer diffusen Terrorismusgefahr wird auch in Europa zu einer allgegenwärtigen Rechtfertigungsformel für globale Militärinterventionen gemacht. Mit einer territorialen Verteidigungsoption, die Rüstung auf entschieden niedrigerem Niveau einschließen würde, haben diese Bestimmungen nichts zu tun. Es geht ausschließlich um Militärinterventionen – ohne geographische Einschränkungen.
Kontext des EU-Verfassungsvertrages: Strategiepapier von Javier Solana mit Präventivkriegskonzept
In diesen Kontext fügt sich die neue „Sicherheitsdoktrin“ der EU. Im Auftrag der EU-Regierungschefs hatte der „Verantwortliche für den Bereich Außen- und Sicherheitspolitik“ der EU, Javier Solana, einen Entwurf für ein Strategiepapier für den Militärbereich vorgelegt. Seit vier Jahren arbeitet die EU am Aufbau sicherheits- bzw. militärpolitischer Entscheidungsstrukturen und militärischer Kapazitäten. Kontingente für schnelle Militärinterventionen stehen der EU inzwischen zur Verfügung. Auf diese Ressourcen kann künftig zurückgegriffen werden, wenn mit den Sicherheitsvorstellungen Solanas Ernst gemacht werden soll.
Im "Solana-Papier", das auf dem EU-Gipfel im Juni 2003 in Thessaloniki im Grundsatz gebilligt und im Dezember 2003 - geringfügig verändert - vom Europäischen Rat als "Europäische Sicherheitsstrategie" (ESS) verabschiedet wurde, heißt es: "Unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen. Die neuen Bedrohungen sind dynamischer Art... Daher müssen wir bereit sein, vor Ausbruch einer Krise zu handeln. Konflikten und Bedrohungen kann nicht früh genug vorgebeugt werden." Und an anderer Stelle wird die ESS noch deutlicher: "Wir müssen eine Strategie-Kultur entwickeln, die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen fördert... Als eine Union mit 25 Mitgliedstaaten, die mehr als 160 Mrd. Euro für Verteidigung aufwenden, sollten wir mehrere Operationen gleichzeitig durchführen können." Damit nähert sich die EU dem Präventivkriegskonzept der Bush-Doktrin weiter an.
Interventionismus und Rüstungspolitik à la carte
In Artikel I-41, Absatz 6 heißt es: „Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvolle Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander weiter gehende Verpflichtungen eingegangen sind, begründen eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union.“ Dies bedeutet, dass einzelne Staaten innerhalb der EU, die „Verpflichtungen eingehen“ (III-312), gemeinsam auch festere militärische Strukturen schaffen können.
Weiter heißt es: „Im Rahmen der nach Artikel III-309 erlassenen Europäischen Beschlüsse kann der Rat die Durchführung einer Mission einer Gruppe von Mitgliedstaaten übertragen, die dies wünschen und über die für eine derartige Mission erforderlichen Fähigkeiten verfügen.“ Dies führt, sollte es Verfassungsrang erhalten, auf jeden Fall zur Festschreibung militärinterventionistischer Strukturen und Politik innerhalb der EU: Auch wenn Regierungen einzelner Staaten dies nicht (mehr) mitmachen wollen, dann werden es eben die Staaten tun, die „Verpflichtungen eingehen“ – und den anderen wird ein Mitspracherecht verweigert.
Keine Parlamentsbeteiligung bei Militäreinsätzen
„Europäische Beschlüsse zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, einschließlich der Beschlüsse über die Einleitung einer Mission nach diesem Artikel, werden vom Rat einstimmig auf Vorschlag des Außenministers der Union oder auf Initiative eines Mitgliedstaats erlassen." (I-41, III-309), so regelt das Artikel 41 Absatz 4 des EU-Verfassungsvertrags. Eine Beteiligung des EU-Parlaments ist also von vornherein nicht vorgesehen. In Absatz 8 des Artikels 41 wird lediglich geregelt, dass das EU-Parlament zu „wichtigsten Aspekten“ regelmäßig anzuhören sei und über die Entwicklung der „grundlegenden Weichenstellungen der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik… auf dem Laufenden gehalten“ (I-41) werden soll. Artikel 304 Absatz 1 präzisiert diese Informationspflicht. In Absatz 2 heißt es dann: „Das Europäische Parlament kann Anfragen oder Empfehlungen an den Rat und den Außenminister der Union richten.“ (I-41, III-304) Aber: ein Informationsrecht ist kein Beschlussrecht. Das nicht vorhandene Kontrollrecht des EU-Parlaments verstößt gegen Grundsätze von Gewaltenteilung und parlamentarischer Demokratie.
Das hat auch Auswirkungen auf die Bundesrepublik:
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Nach Art. 26 des Grundgesetzes (GG) sind alle Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges, verfassungswidrig und nach § 80 StGB unter Strafe gestellt. Da jede nicht von den Ausnahmetatbeständen der UNO-Satzung (Art. 51 und Art. 39-42) gedeckte militärische Aggressionshandlung den Tatbestand des Angriffskrieges erfüllt, verbietet die Verfassungsnorm eine die militärische „Lösung“ internationaler Streitfragen. Ergänzt wird Art. 26 durch Art. 87a GG, der den Einsatz der Bundeswehr auf die Verteidigung beschränkt. Zwar verweist der EU-Verfassungsvertrag bei der Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf die „Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen“ (I-41, Abs. 1), jedoch nicht auf die "Charta der Vereinten Nationen" als Ganzes, zudem wird der rechtliche Rahmen für mögliche EU-Kampfeinsätze ausgeweitet und kein ausdrückliches Verbot der Führung eines Angriffskrieges, eines Präventivkrieges fixiert. „Präventivkriege“ sind jedoch nach dem Völkerrecht auf der Basis der UN-Charta völkerrechtswidrig. Insofern eröffnet der Vertrag die Möglichkeit, Art. 26 GG weiter aufzuweichen.
- 1992 reichte die SPD-Fraktion im Bundestag eine Klage gegen Out-of-Area Einsätze der Bundeswehr beim Bundesverfassungsgericht ein. Sie kritisierte insbesondere die „systematische Ausschaltung des Parlaments bei grundlegender Neugestaltung der sicherheitspolitischen Beziehungen“. Aufgrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben verfügte das Bundesverfassungsgericht am 12. Juli 1994 verbindlich, dass über Auslandseinsätze der Bundeswehr der Bundestag mit einfacher Mehrheit entscheidet. Damit sollte der demokratischen Balance zwischen Exekutive und Legislative Rechnung getragen werden. Gemäß Art. I-10 des EU-Verfassungsvertrages besitzt jedoch „das von den Organen der Union in Ausübung der ihnen zugewiesenen Zuständigkeiten gesetzte Recht... Vorrang vor dem Recht der Mitgliedsstaaten“.
Damit droht eine Situation, dass bei Annahme dieses EU-Verfassungsvertrages über Krieg und Frieden der Ministerrat der Europäischen Union entscheidet. Die Zustimmungspflicht des Bundestages wird zudem über Gesetze, die den Parlamentsvorbehalt aushebeln, aufgeweicht.
Politische Schlussfolgerungen
Der Gesprächskreis Frieden und Sicherheitspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat sich eingehend mit dem EU-Verfassungsvertrag befasst.
Wir sehen vor allem drei Gefahren, die durch die Annahme dieses Verfassungsvertrages verschärft würden:
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Krieg als Mittel der Politik wird weiter enttabuisiert, ja als ggf. unausweichliches Mittel zur Interessenwahrung des neu-formierten EU-Staatengefüges legitimiert.
- Weitere Aufrüstung bzw. Rüstungsmodernisierung erhalten mit dieser EU-Verfassung für alle EU-Mitgliedstaaten Verfassungsrang.
- Die Versuchung, regionale oder lokale Krisen eigenmächtig militärinterventionistisch zu lösen, wird zunehmen und damit weltweit neue Rüstungsdynamiken provozieren.
Wir vertreten im Gegensatz dazu die Auffassung, dass die Potenziale der Europäischen Union für die Zivilisierung und Entmilitarisierung der Internationalen Beziehungen, für eine nachhaltige Entwicklung in globalem Maßstab genutzt und entwickelt werden sollten.
Wir raten allen demokratischen und friedensorientierten Abgeordneten sowie Parteien in der EU dringend dazu, ihr NEIN zur Militarisierung der EU deutlich zu machen und gegen eine Ratifizierung dieses Vertrages zu stimmen. Insbesondere raten wir der PDS, die als einzige Partei klare Positionen gegen eine „Militärmacht Europa“ bezogen hat, an ihrer militärkritischen Haltung festzuhalten und im Bundestag sowie im EU-Parlament NEIN zum Verfassungsvertrag zu sagen. Die Vorstellungen der Parteien über die künftige Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU sollten zu einem wichtigen Thema in der bundesdeutschen Öffentlichkeit gemacht werden. Wir appellieren an alle friedenspolitisch Engagierten, ihre Kritik am EU-Verfassungsvertrag offensiv in die öffentliche Diskussion einzubringen und sich an den Kampagnen gegen diesen Vertrag zu beteiligen.
Berlin, den 9. Oktober 2003 (in der Fassung vom 3. März 2005)
Dr. Michael Berndt
Dr. Erhard Crome
Lydia Krüger
Prof. Dr. Hans Jürgen Krysmanski
Ingrid el Masry
Prof. Dr. John Neelsen
Tobias Pflüger
Prof. Dr. Rainer Rilling
Prof. Dr. Werner Ruf
Paul Schäfer
Dr. Lutz Schrader
Dr. Peter Strutynski
Dr. Dietmar Wittich
(Auf dem Wege vom Konventsentwurf zum unterzeichneten Text haben die zuständigen EU-Einrichtungen Veränderungen am Vertragstext sowie Umstellungen von Artikeln vorgenommen. Deshalb war es erforderlich, die Zitate gegenüber der ursprünglichen Fassung der Erklärung des Gesprächskreises vom 9. Oktober 2003 zu aktualisieren. Zugleich wurden auch einige Formulierungen des Erklärungstextes den veränderten politischen Bedingungen angepasst. In der Sache jedoch sind die Gründe, für eine Ablehnung dieses Verfassungsvertrages zu plädieren, nicht geringer, eher gewichtiger geworden.)
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