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Topolanek würde keine 100 Kronen auf EU-Vertrag setzen

Ratifizierung in Tschechien offen / Zunehmende soziale Proteste

Von Olaf Standke *

Beim Besuch des tschechischen Premierministers Mirek Topolanek am Mittwoch (25. Juni) in Berlin sollte es eigentlich um das 40. Jubiläum des Prager Frühlings gehen. Doch Bundeskanzlerin Angela Merkel wollte vor allem aus erster Hand erfahren, wo Prag nach dem irischen Nein zum Lissaboner EU-Vertrag steht.

Der Optimismus Mirek Topolaneks nach seinem Treffen mit Kanzlerin Merkel und seinem slowakischen Amtskollegen Robert Fico wirkte etwas gequält. »Wir drei sind überzeugt, dass wir in der EU für diese Dinge eine Lösung finden werden«, sagte Tschechiens Ministerpräsident. Diese Dinge, das sind das irische Nein zum Lissabonner EU-Vertrag und seine Folgen für den Ratifizierungsprozess. Den werde man respektieren, meinte der Prager Regierungschef, der Anfang nächsten Jahres die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen wird, und mogelte sich um eine klare Stellungnahme herum. An der Union schätze er »die Idee von Kooperation, Freihandel und einem einheitlichen Binnenmarkt«. Sein Präsident und Parteifreund Vaclav Klaus nimmt da kein Blatt vor den Mund: Der ausgewiesene EU-Skeptiker erklärte in dieser Woche den sogenannten Reformvertrag erneut für überholt und tot. Er sei auch unabhängig von einer Ratifizierung in Prag obsolet.

Dort wurde der Prozess schon im April gestoppt; Senatoren aus Topolaneks konservativer ODS riefen das Verfassungsgericht an, das nun die Vereinbarkeit des Vertrages mit der tschechischen Verfassung prüft. Und das kann dauern. Noch fehlen dem Hohen Haus in Brno wichtige Unterlagen – nicht nur die angeforderte Stellungnahme der Regierung, selbst eine offizielle Übersetzung des Vertrages ins Tschechische liege noch nicht vor, berichtete die Prager Internetzeitung »iDnes.cz« dieser Tage.

Außenminister Karel Schwarzenberg rechnet mit einer Entscheidung im Herbst und warnte schon einmal die anderen EU-Mitglieder davor, Druck auszuüben, das wäre »kontraproduktiv«. Beim EU-Krisentreffen in Brüssel setzte Prag jetzt zumindest eine Fußnote in den Gipfelerklärungen durch, wonach die Ratifizierung in Tschechien nicht abgeschlossen werden könne, »wenn das Verfassungsgericht nicht die Vereinbarkeit des Vertrages von Lissabon mit der verfassungsmäßigen Ordnung bestätigt«.

Aber auch ein Ja des Gerichts muss noch gar nichts besagen, denn für die Ratifizierung braucht der Vertrag die erforderliche Mehrheit im Parlament. In der ODS, die den Senat, die zweite Kammer des Parlaments, dominiert, wird er sie nur schwer finden. Auch Parteigrößen wie der Prager Bürgermeister Pavel Bem und Senatspräsident Premysl Sobotka machten aus ihrer Freude über das irische Ergebnis kein Hehl. Der Politikwissenschaftler Petr Just sieht die Partei gespalten, mindestens die Hälfte der Abgeordneten sei gegen den Vertrag. Auch der christdemokratische Koalitionspartner erkannte erheblichen »Diskussionsbedarf«, die mitregierenden Grünen wiederum plädierten für ein gesamteuropäisches Referendum. Und die Opposition zeigt sich bipolar: Während sich die Sozialdemokraten eindeutig zur Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses bekannten, lehnt die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens den EU-Vertrag ab. Als er im Europäischen Parlament zur Abstimmung stand, votierten von den 24 tschechischen Abgeordneten in Straßburg lediglich fünf für das Dokument.

Auch wenn das Reformwerk nur ein »Kompromiss« sei und er in vielen Punkten nicht mit ihm übereinstimme, verkündete Premier Topolanek pathetisch, habe er seine »Karriere mit dem Lissabon-Vertrag verbunden«. Auf ein Ja der Tschechen würde er allerdings keine 100 Kronen wetten, das sind nicht einmal vier Euro. Gäbe es in unserem Nachbarland, wo die Einführung der EU-Gemeinschaftswährung schon zwei Mal aufgeschoben wurde, eine Volksabstimmung, ein Votum für den Lissabonner Vertrag wäre tatsächlich zweifelhaft. Meinungsumfragen zeigen eine wachsende Skepsis gegenüber der Europäischen Union. Auch weil sich die soziale Lage im Lande nach dem EU-Beitritt nicht positiv entwickelt hat. Höheres Rentenalter, weniger Leistungen im Gesundheitswesen, steigende Preise für viele Güter und Dienstleistungen – erst streikten in diesem Monat 130 000 Beschäftigte im Bildungswesen und forderten mehr Einkommen als Ausgleich für ihre durch die Inflation gesunkenen Reallöhne. Am vergangenen Dienstag folgten sogar über eine Million Menschen dem Streikaufruf der Gewerkschaften (CMKOS) gegen die »Sozialreformen« der Regierung und legten für einige Stunden fast das gesamte Land lahm. Es war die größte Aktion dieser Art seit der »Wende« vor 19 Jahren.

* Aus: Neues Deutschland, 27. Juni 2008


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