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EU-Reformvertrag: Anschlag auf die Demokratie

Dokumentiert: Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag

Kassel, 23. April 2008 - Zur bevorstehenden Ratifizierung des EU-Reformvertrags im Deutschen Bundestag am kommenden Freitag * erklärt der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag:

Die Friedensbewegung lehnt den vorliegenden "Reformvertrag" ab, weil er der Militarisierung der Europäischen Union Vorschub leistet, Militärinterventionen überall in der Welt ermöglicht und die Außen- und Sicherheitspolitik zu einer Angelegenheit der Exekutive macht.

Mit zahlreichen Initiativen, e-mails, Briefen, Abgeordnetenbesuchen und Veranstaltungen haben viele Organisationen und Basisgruppen der Friedensbewegung versucht, mit den Bundestagsabgeordneten ins Gespräch zu kommen und darüber hinaus die Öffentlichkeit über den EU-Reformvertrag zu informieren. Aufklärungsbedarf bestand und besteht bis heute vor allem hinsichtlich der außen- und sicherheitspolitischen Festlegungen, die mit der Annahme des Reformvertrags getroffen werden.

Kritisiert werden insbesondere folgende Bestimmungen:
  • die EU-Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten "schrittweise zu verbessern" (Art. 28c);
  • die Einrichtung einer "Europäischen Verteidigungsagentur", die "Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors" ergreifen soll (Art. 28a, Ziff. 3)(die "Verteidigungsagentur" arbeitet bereits seit 2004 - also ohne vertragliche Grundlage);
  • die Einführung "besonderer Verfahren, um den schnellen Zugriff auf die Haushaltsmittel der Union zu gewährleisten", damit Militäreinsätze ("Missionen") durchgeführt werden können; hierfür wird ein sog. "Anschubfonds" gebildet;
  • der Aufbau "Schneller Eingreiftruppen" und sog. Battle groups (Schlachtgruppen), die zu "Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen" benötigt werden;
  • die Einstufung des schwerkriminellen Tatbestands des "Terrorismus" als einer Handlung, die mit militärischen Mitteln (d.h. mit Krieg) beantwortet werden kann;
  • die Konstruktion einer exklusiven Gruppe von Staaten der EU, welche die "Ständige Strukturierte Zusammenarbeit" bilden sollen; in dieser Gruppe sind Staaten vertreten, die "anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen"; (Art. 28a und Art. 1 und 2. des Protokolls über die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit);
  • die Machtlosigkeit des Europäischen Parlaments: das EP wird in Angelegenheiten der Außen- und Sicherheitspolitik lediglich informiert und angehört; Entscheidungen trifft ausschließlich der Rat (also die "Exekutive" der EU);
  • der ganze Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik ist rechtsstaatlicher Kontrolle entzogen; nach Art. 240 ist der Gerichtshof der Europäischen Union hierfür "nicht zuständig";
  • der europäische Außenminister (korrekte Bezeichnung: "Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitsfragen", Art. 9e) ist gleichzeitig Vizepräsident der Kommission, erhält also ein besonderes Gewicht im Institutionengefüge der EU; zu kritisieren daran ist vor allem das ressortmäßige Zusammenfallen von "Außenpolitik" und "Verteidigungspolitik"; keine EU-Staat und keine andere Demokratie ist jemals auf die Idee gekommen, Außenministerium und Verteidigungsministerium in eine Hand zu legen; der Verdacht liegt nahe, dass die EU-Außenpolitik also vornehmlich als "Militärpolitik" verstanden wird.
All dies zusammengenommen kommt der Bundesausschuss Friedensratschlag zu folgenden Schlussfolgerungen:
  1. Militärinterventionen in aller Welt und somit Kriege werden zum selbstverständlichen Mittel der Außenpolitik; die EU militarisiert sich.
  2. Die Militarisierung und die ständige Verbesserung der militärischen Fähigkeiten kostet mehr Geld, das in anderen Bereichen fehlen wird.
  3. Mit der inneren und äußeren Militarisierung verliert die Europäische Union künftig an Attraktivität als "Zivilmacht". Sie wird zu einem hochgerüsteten Global Player und trägt damit zur Verschärfung weltweiter Konflikte und Spannungen bei.
Der Reformvertrag ist in seinem politischen Gehalt nichts anderes als der alte Verfassungsvertrag, der 2005 in den Referenden in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt wurde. Es zeugt von einem merkwürdigen Demokratieverständnis, wenn dasselbe Papier unter einem anderen Namen und mit lediglich kosmetischen Änderungen heute als "Reformvertrag" von den Parlamenten durchgewinkt werden soll. Volksabstimmungen darüber werden als "riskant" eingestuft und sollen deshalb unterbleiben. Das ist nicht das Europa, das wir wollen.

Aus all diesen Gründen fordert die Friedensbewegung die Abgeordneten auf, dem EU-Reformvertrag nicht zuzustimmen. Wer für die weitere Integration EU als anerkannter Zivilmacht ist, muss ihre Umwandlung in einen Militärpakt ablehnen.

Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Peter Strutynski (Sprecher)

* Die Abstimmung im Bundestag war bereits einen Tag früher, also am Donnerstag, den 24. April 2008


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