"Einen Beamteneid würde ich auf diese Verfassung nicht ablegen wollen"
Offener Brief an den Bundestagspräsidenten und eine Antwort der Fraktion von Bündnis90/Die Grünen
Im Folgenden dokumentieren wir einen "offenen" Brief einer Friedensaktivistin und deutschen Beamtin, den sie in Sachen EU-Verfassung an den Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse sowie an die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen geschrieben hat. Geantwortet hat bisher die Fraktion der GRÜNEN - wir dokumentieren diesen Brief ebenfalls. Eine Antwort von Herrn Thierse steht noch aus.
OFFENER BRIEF AN DEN BUNDESTAGSPRÄSIDENTEN HERRN THIERSE
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident!
Im Rahmen der öffentlichen Sitzung des Ausschuss für Europäische
Angelegenheiten zur EU-VERFASSUNG im Paul-Löbe-Haus am 9. März 2005
haben ich und andere unsere ablehnende Haltung zur EU-Verfassung durch eine
symbolische Aktion öffentlich gemacht. Weil diese Aktion als
Ordnungswidrigkeit bezeichnet wurde, möchte ich Ihnen als Hausherrn des
Deutschen Bundestages die Gründe für dieses Vorgehen erläutern.
Der EU- Verfassungsvertrag soll die gesetzliche und einigende Grundlage für
die BürgerInnen Europas der 25 Mitgliedsländer der EU werden. Was
aber haben die BürgerInnen von diesem Verfassungsentwurf zu erwarten? Hält
er den Standard unseres Grundgesetzes? Ist er grundgesetzkonform?
Als Beamtin habe ich mich auf das Grundgesetz verpflichtet, und mit seinem
antifaschistischen, humanistischen, dem Frieden verpflichteten Auftrag habe
ich mich auch bei meiner Arbeit als Lehrerin stark verbunden gefühlt.
Diesen Auftrag sehe ich als äußerst gefährdet an, auch wenn Sie die
Verfassung als großes Friedensprojekt darstellen möchten. Das European
Defense Paper und die Europäische Sicherheitsstrategie sprechen eine andere
Sprache.//
Im EU-Verfassungsvertrag wird das Militär nicht auf Verteidigungsaufgaben
beschränkt wie im Grundgesetz (Art. 87a "Außer zur Verteidigung dürfen die
Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich
zulässt").
Es gibt kein ausdrückliches Verbot von Angriffskriegen wie in Art. 26,1 GG
("Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das
friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines
Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe
zu stellen.")
Es gibt im EU-Verfassungsvertrag gar eine Verpflichtung zur schrittweisen
Verbesserung der militärischen Fähigkeiten mit Unterstützung einer Rüstungs-,
bzw. Verteidigungsagentur.
Dieser Artikel I-41 Abs. 3 mit einer Aufrüstungsverpflichtung ist einmalig in
der Verfassungsgeschichte aller Länder. Kein Land in der Welt hat jemals eine
solche Verpflichtung in seine Verfassung hinein genommen!
Teil III der Verfassung wurde im Konvent fast gar nicht diskutiert.
Dieser Teil führt u.a. aus, aus welchen Gründen Missionen
(Interventionen) in Drittstaaten vorgenommen werden können, Artikel III-309
"Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen
werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittländer bei der
Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet."
Die USA-Administration hat völkerrechtswidrige Angriffskriege mit der
Begründung des Antiterrorkampfes geführt.
Mit der Hereinnahme der Terrorismusbekämpfung in den Verfassungsvertrag wird
keine europäische Alternative zum Ausdruck gebracht. Im Gegenteil. Es werden
Legitimierungen für mögliche Interventionen in Länder des Südens gegeben.
Eine Parlamentsentscheidung des EU-Parlaments ist bei Militäreinsetzen nicht
vorgesehen. Die Entscheidung liegt beim Ministerrat.
Auf Grund der Festlegung auf eine offene Marktwirtschaft mit freiem
Wettbewerb dürfen öffentliche Dienstleistungen und Einrichtungen nicht mehr
besonders gefördert werden, weil dies den Wettbewerb verzerre. Das ist ein
Angriff auf das staatliche Bildungswesen und auf die öffentlichen Leistungen
insgesamt. Die Privatisierung von Grundversorgungseinrichtungen( Wasser,
Energie, Bildung, Gesundheit und Transport) wird die Spaltung der Gesellschaft in Kaufkräftige und
Nicht-Kaufkräftige, d.h. in solche, die sich die Grundversorgung leisten oder
nicht leisten können, weiter verschärfen. Der Sozialstaat wird demontiert.
Teil II, die Grundrechte-Charta, allenthalben von den Politikern des
bürgerlichen Spektrums als Errungenschaft gepriesen, nimmt als Grundrecht die
unternehmerische Freiheit mit hinein.(Artikel II- 76). Dagegen formuliert
Artikel II-75 nicht das Recht auf Arbeit, sondern lediglich das Recht zu
arbeiten.
Die anhängenden Protokolle und Erläuterungen in unverhältnismäßigem Umfang
von 14 Seiten Grundrechte-Charta und 39 Seiten Erläuterungen stufen die
Grundrechte zu Grundsätzen herunter. Beispiele hierfür sind die Bereiche
Nichtdiskriminierung, Verbot der Todesstrafe, soziale Sicherheit und soziale
Unterstützung.
Verglichen mit den rechtlichen Grundlagen in der UNO-Charta, dem Zivil- und
Sozialpakt, unserem Grundgesetz oder dem Zwei plus Vier- Vertrag und der
Pariser Charta ist dieser EU-Verfassungsvertrag ein enormer Rückschritt.
Als Bürgerin und insbesondere als Beamtin bin ich moralisch und rechtlich
dazu verpflichtet, das Grundgesetz zu verteidigen und seine Werte zu
schützen! Dazu diente auch meine Aktion in Ihrem Hause.
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident!
Wir Globalisierungskritiker und Friedensaktivisten, "träumen" von einer
anderen Zukunft, von einem Europa, das wir uns friedlich wünschen. Wir
wünschen uns ein Europa, das die Atomindustrie abbaut, statt sie im
Zusatzprotokoll der Verfassung durch den Euratom-Vertrag weiter zu
favorisieren, ein Europa, das kulturell reich ist und bleibt und das nicht
über Medien-Konzerne und Privatisierungen den kulturellen Abbau vorantreibt.
Ein Europa, das ökologisch denkt und seinen Müll nicht in die Länder des
Südens schickt.
Mit dem vorliegenden EU-Verfassungsvertrag, der Maximen wie Aufrüstung und
offene Marktwirtschaft mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb (Artikel I-3,
Absatz 2 unter Ziele der Union!) enthält, wird für uns Lehrkräfte die
pädagogische Arbeit immer schwieriger. Unsere Arbeit wird darauf verengt,
vom Markt verwertbares Wissen zu vermitteln. Das in der Präambel zitierte/
humanistische /Erbe Europas verkommt so zum schmückenden Beiwerk, um die
dahinter wirkende unternehmerische Gier zu verschleiern.
Einen Beamteneid würde ich auf
diese Verfassung nicht ablegen wollen!
Sie sehen: Wir hatten Gründe, bei der öffentlichen Anhörung mit unserer
Aktion zu intervenieren.
Eigentlich müsste der gesamte Bundestag und Sie an unserer Seite stehen, denn
es geht um nichts Geringeres als die Bewahrung des Grundgesetzes!
Mit der Hoffnung auf Ihre Einsicht und mit einem "Nein zu dieser Verfassung"
verbleibe ich
mit freundlichen Grüßen
Elke Zwinge-Makamizile/ Berlin
Brief von der Fraktion der GRÜNEN (per e-mail)
Sehr geehrte Frau Zwinge-Makamizile,
Sie sprechen sich darin für eine Volksabstimmung über die europäische
Verfassung aus. Bündnis 90/Die Grünen teilen dieses Anliegen. Unsere
Zielvorstellung ist dabei eine EU-weite Abstimmung über die Verfassung und
ihre künftigen Änderungen. Noch ist dies aus vertragsrechtlichen Gründen
leider nicht möglich, aber wir verfolgen dieses langfristige Ziel weiter.
Auch wenn man trefflich darüber streiten kann, ob nationale Referenden über
die europäische Verfassung sachgemäß sind, so haben wir uns doch dafür
entschieden, diesen Weg zu beschreiten, solange ein EU-weites Referendum
Zukunftsmusik bleibt. Wir sprechen uns allerdings dagegen aus, das
Grundgesetz lediglich für eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung zu
öffnen und ansonsten alles beim Status quo zu belassen. Wir haben mit unserem
Koalitionspartner einen Gesetzentwurf erarbeitet, der die generelle
Einführung von Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden sowie ein
Referendum über die europäische Verfassung ermöglicht. Wir haben diesen
Entwurf den Fraktionsvorsitzenden von CDU/CSU und FDP mit der Bitte
übergeben, mit uns gemeinsam mehr direkte Demokratie im Grundgesetz zu
ermöglichen. Wir sind auf die Unterstützung der Opposition deswegen
angewiesen, weil für eine Grundgesetzänderung in Bundestag und Bundesrat eine
zweidrittel Mehrheit notwendig ist. Zu unserem Bedauern hat sich die CDU/CSU
nicht verhandlungsbereit gezeigt. Es stellte sich für uns deshalb die Frage,
ob wir einen von vornherein zum Scheitern verurteilten Gesetzesentwurf in den
Bundestag einbringen sollten oder nicht.
Wir haben uns aus europapolitischen Gründen gegen die Einbringung zum
jetzigen Zeitpunkt entschieden. Ziel der Bundesregierung und der sie
tragenden Parteien ist es, die europäische Verfassung möglichst bald zu
ratifizieren. Für den Gesamterfolg der Ratifizierung in allen 25
Mitgliedstaaten ist es wichtig, dass möglichst viele "sichere" Staaten, die
Verfassung schnell ratifizieren, um damit den Verfassungsbefürwortern in
Staaten, wo die Ratifizierung schwierig werden wird, Unterstützung geben zu
können.
Würden wir stattdessen den Gesetzentwurf einbringen und nach monatelangen
weiteren Verhandlungen - wie durch Frau Merkel angekündigt - scheitern, dann
hätten wir wertvolle Zeit verloren. Schließlich könnten wir in einem solchen
Fall ja nicht parallel schon die parlamentarische Ratifizierung durchführen.
Wir planen, die europäische Verfassung bis zum Sommer zu ratifizieren und
damit ein starkes Zeichen für die Annahme der Verfassung in der ganzen EU zu
setzen. Die Einführung von mehr direkter Demokratie in das Grundgesetz bleibt
gleichwohl unser Ziel. Wir haben mit der SPD vereinbart, dass wir den
Gesetzentwurf zu einem günstigeren Zeitpunkt einbringen wollen. Das würde in
der Frage der EU-Verfassung bedeuten, dass - sollte der Gesetzentwurf dann
die notwendige Mehrheit finden - zumindest über ihre künftigen Änderungen
auch in Deutschland Referenden stattfinden können.
Mit freundlichen Grüßen
Bündnis 90/Die Grünen
Bundestagsfraktion
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