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"Euro-Memorandum": EU in der Krise

Linke Ökonomen schlagen eine demokratische Alternative zum Lissabon-Kurs vor

Von Hermannus Pfeiffer *

José Manuel Barroso ist der Krise nicht gewachsen. Diese Kritik am alten und neuen EU-Kommissionspräsidenten erheben Ökonomen aus ganz Europa. Im »Euro-Memorandum 2009/2010«, das heute in Berlin und anderen Hauptstädten veröffentlicht wird, kritisieren die Wissenschaftler die »nicht-kooperativen Strategien« der EU-Staaten und skizzieren eine demokratische Alternative zum gescheiterten Neoliberalismus.



Seit der zweiten Jahreshälfte 2008 ist die EU sowohl mit der größten Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg als auch mit einer schweren Rezession konfrontiert. EU-Kommission und Regierungen reagierten mit rührigen Aktivitäten; ein Gipfel jagte den nächsten, um den Zusammenbruch des globalen Finanzsystems zu stoppen. Die inzwischen billionenschweren Bürgschafts- und Antikrisenprogramme für Banken und Industrie waren durchaus erfolgreich, loben die »Europäischen Ökonomen für eine Alternative Wirtschaftspolitik in Europa«. Dadurch konnte Schlimmeres verhindert werden, und die Arbeitslosigkeit stieg langsamer an, als der Ausstoß der Wirtschaft sank.

Doch die Anti-Krisen-Programme blieben letztlich nur nationales Stückwerk, es regierte das Motto: Jeder ist sich selbst der Nächste. Eine europaweite Koordinierung gelang auch EU-Kommissionspräsident Barroso nicht -- weil es die Mehrzahl der Regierungen nicht wollte. Zudem gilt Barroso unter Beobachtern in Brüssel als »politisches Chamäleon«.

Isolierte nationale Rettungsaktionen werden nicht genügen, um 2010 einen drastischen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern. Das »Euro-Memorandum 2009/2010« kritisiert diese »nicht-kooperativen Strategien« in der EU daher ausführlich. Kurzsichtige nationale Egoismen schaden langfristig (fast) allen Akteuren, warnt die internationale Arbeitsgruppe um Diana Wehlau (Bremen), Wlodzimierz Dymarski (Polen), Trevor Evans (Berlin), Miren Etxezarreta (Spanien), David Flacher (Frankreich), Marica Frangakis (Griechenland), John Grahl (Großbritannien), Mahmood Messkoub (Niederlande), Catherine Sifakis (Schweiz) und Frieder Otto Wolf (Berlin). Im Fokus ihrer Kritik steht die Bundesregierung: »In hohem Maße disfunktional ist die exportorientierte Strategie der deutschen Regierung für Europas Wirtschaft.«

Doch selbst ohne Krise wäre die Lissabon-Strategie, welche die EU von 2000 bis 2010 rundum erneuern sollte, ein »kompletter Fehlschlag«. Die US-geprägte »Neue Ökonomie« habe Europa jedoch in eine wirtschaftliche und soziale Sackgasse geführt. Statt Europa auf den neoliberalen Irrweg zu führen, hätte sich die EU an den nordischen Ländern orientieren sollen, fordern die linken Memo-Ökonomen. Dies wäre in der frühen Periode der Lissabon-Strategie sogar »nur logisch« gewesen. Denn das »Nordische Modell« setzt auf möglichst umfassende Gleichheit sowie auf soziale und ökologische Werte statt auf Wachstumsraten und Eliten. Eine große Koalition aus sozialdemokratischen und liberalen Regierungen konnte jedoch im Schulterschluss mit »den Eliten« den entgegensetzten, neoliberalen Pfad durchsetzen, und mittlerweile hat die Lissabon-Strategie ihrerseits das »Nordische Modell« aufgeweicht.

Mit der aktuellen Weltwirtschaftskrise sei die Lissabon-Strategie der EU am Ende, heißt es optimistisch im »Euro-Memorandum«. Die Alternativökonomen fordern von Kommissionspräsident Barroso eine »integrierte EU-Strategie«, die auf Vollbeschäftigung mit guter Arbeit, eine Sozialpolitik gegen Armut und Ausgrenzung von Bevölkerungsgruppen sowie auf ökologische Nachhaltigkeit und internationale Solidarität abzielt. Ausgerechnet angeblich staubtrockene Ökonomen legen hier ein realistisches Programm zum Träumen vor.

Memo-Gruppe

Jörg Huffschmid war Gründungsvater der »European Economists for an Alternative Economic Policy in Europe«. Seitdem war der vor wenigen Tagen verstorbene Bremer Wissenschaftler die »treibende Kraft« dieser Arbeitsgruppe von Ökonomen verschiedener europäischer Hochschulen, sagt Memo-Koordinatorin Diana Wehlau. Das »Euro-Memorandum« wird bereits von mehr als 200 Wissenschaftlern unterstützt. Zu den Unterzeichnern gehörte 2008 auch der als EU-Kommissar nominierte Ungar László Andor. Für seinen Tod hatte Huffschmid vorgesorgt: Der lose, aber wirkungsvolle Zusammenschluss wird seit einigen Jahren von einem zwölfköpfigen Lenkungsausschuss geführt. Seit Sonnabend fehlt ein wichtiger Kopf, doch die Arbeit geht weiter, versichert Diana Wehlau. hape



* Aus: Neues Deutschland, 11. Dezember 2009


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