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Diesseits des transatlantischen Verhältnisses

Europas neue Sicherheitsstrategie im Vergleich zu den Plänen der US-Regierung George W. Bushs

Die Heinrich-Böll-Stiftung veranstaltet am 12. und 13. November 2003 ihre 4. Außenpolitischen Jahrestagung in Berlin. Thema: Europas Sicherheitsstrategie. Zu diesem Anlass veröffentlichte die Frankfurter Rundschau auf ihrer Dokumentationsseite am 10.11.2003 eine sehr informative Analyse der europäischen und US-amerikanischen Sicherheitsstrategien. Autor der Studie ist Sascha Müller-Kraenner, Leiter der Referatsgruppe Europa/Nordamerika der Heinrich-Böll-Stiftung. Müller-Kraenner koordiniert das Stiftungsprogramm zu Außen-, Sicherheitspolitik und Konfliktprävention. Von 1998 bis 2002 leitete er das Nordamerika-Büro der Stiftung in Washington. Davor führte er die internationale Abteilung des Umweltdachverbands Deutscher Naturschutzring (DNR) und vertrat die deutschen Umweltverbände in den UN-Klimaverhandlungen sowie bei den europäischen Einrichtungen in Brüssel und Straßburg.

Wir dokumentieren im Folgenden den Beitrag in der Langfassung.



Von Sascha Müller-Kraenner*

Ausgangslage

Nach dem 9. November 89 und der Überwindung der Teilung Europas kam die traditionelle sicherheitspolitische Abhängigkeit Europas von den USA schrittweise zu ihrem Ende. Wichtige sicherheitspolitische Herausforderungen kann Europa auch heute noch ohne die USA nicht bewältigen. Allerdings hat die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik seit ihrer under performance während der beiden Balkankriege erhebliche Fortschritte gemacht. Auf dem Balkan selbst haben europäische Staaten und die EU als Ganzes sukzessive wichtige Aufgaben von den USA übernommen. Die sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA ist, vor allem wenn es um die Anwendung der immer wichtiger werdenden nichtmilitärischen Instrumente geht, nicht mehr eine absolute, sondern nur noch eine relative - so wie in der globalisierten Welt ohnehin ein gegenseitiges System von Abhängigkeiten besteht.

Die USA beendeten den Kalten Krieg als einzige verbleibende Supermacht. Auf Seiten der USA werden die ethnischen, kulturellen und politischen Bindungen an Europa nicht automatisch schwächer werden, verlieren aber an Exklusivität. Die Debatte um die Neubestimmung des amerikanisch-europäischen Verhältnisses ist auf beiden Seiten des Atlantik in vollem Gang. Sie steht im Zusammenhang mit der Frage nach einer neuen, von den USA dominierten oder stärker multilateral orientierten Weltordnung. Auch wenn die USA die europäischen Verbündeten weniger als je zuvor für die Verwirklichung ihrer Sicherheitsinteressen brauchen, sinkt gleichzeitig die europäische Abhängigkeit von der amerikanischen Sicherheitsgarantie. Selbst auf dem Balkan emanzipiert sich die europäische Außenpolitik Schritt für Schritt von ihrer Abhängigkeit von US-amerikanischem Militär und Diplomatie. So richtete sich der europäische Blick nach 1989 nach innen auf die Vertiefung und Erweiterung des europäischen Projektes.

Führte der 9.11.89 dazu, dass Europa seinen Blick auf sich selbst lenkte, so führten die Ereignisse des 11. September 2001, was die USA betraf, zu einem gegenteiligen Effekt. Nach den narzisstischen Clinton-Jahren, in denen Amerika sich vor allem mit der Mehrung des eigenen Reichtums beschäftigte und den Sieg seines überlegenen Gesellschaftssystems feierte, lenkte der 11.9. den Blick nach außen, auf eine beunruhigende, gefährliche Welt. Ein Ausdruck dieses neuen Blickes auf die Welt draußen war die im September 2002 verabschiedete neue Nationale Sicherheitsstrategie der USA. Diese soll im Folgenden mit der auf dem Europäischen Rat von Thessaloniki vorgelegten ersten Europäischen Sicherheitsstrategie verglichen werden.

Die 1991 in Maastricht erstmals in den EU-Vertrag aufgenommene Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) - und als einer ihrer wesentlichen Teile die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) - steht inzwischen nicht mehr nur auf dem Papier. Eines ihrer Kernstücke, die Europäische Eingreiftruppe (rapid reaction force) befindet sich inzwischen im Einsatz. Erste EU-Militäreinsätze finden inzwischen auf dem Balkan und im Kongo statt. Bei allen diesen Operationen sammelt die EU auch erste Erfahrungen mit dem kombinierten Einsatz nichtmilitärischer und militärischer Instrumente. Mit der Operation ARTEMIS im Kongo ist die EU erstmals außerhalb ihrer näheren Nachbarschaft mit einer eigenen Operation präsent. Zumindest im frankophonen Afrika wird der Erfolg oder Misserfolg von ARTEMIS als Lackmustest dafür betrachtet, ob die EU, der im Falle des Irak kritisierten Vorgehensweise der USA, eine Alternative entgegenzusetzen in der Lage ist. Allerdings zeigte schon die Debatte um den Liberia Konflikt - aus dem sich die europäischen Staaten mit Verweis auf die "historische Verantwortung" der USA in Liberia heraushielten - dass Europa von einer kohärenten, an der Sicherung von Menschenrechten und der Abwehr von Staatsverfall orientierten Afrikapolitik noch weit entfernt ist. Tragfähig wird eine europäische Afrikapolitik erst dann, wenn sie sich nicht an kolonialen Interessen und Einflusssphären, sondern an gemeinsamen Interessen und geteilten Werten orientiert.

Eine starke Europäische Union wird sich auch in ihrer Außenpolitik von den USA unterscheiden. Sie wird nicht an die europäische Tradition des Imperialismus und Kolonialismus aus dem 19ten und der ersten Hälfte des 20ten Jahrhunderts anknüpfen, sondern an ihre spezifischen Erfahrungen der Sicherheit durch supranationale Kooperation und Institutionenbildung. So, wie die Europäische Union eine neuartige Formation auf der Weltbühne darstellt, wird auch ihre Außenpolitik einen neuen Charakter aufweisen.

Die innereuropäische Debatte um den Irakeinsatz und die dahinter stehende Debatte über die Rolle der USA in Europa hat allerdings die vorläufige Begrenzung der Integration europäischer Außenpolitik klar gemacht. Wie der "Brief der Acht" deutlich gemacht hat, treffen dabei unterschiedliche Interessen und historische Erfahrungen aufeinander. Dieser Konflikt kann nur sehr verkürzt durch die aus den Zeiten des kalten Krieges stammende Unterscheidung zwischen "Atlantizisten" und "Neo-Gaullisten" beschrieben werden. Mit ARTEMIS und mit dem guten Abschluss des Europäischen Konvents, vor allem aber mit der Vorlage der hier besprochenen Europäischen Sicherheitsstrategie, wurden allerdings schon erste Konsequenzen aus der um den Irak-Konflikt herum ausgebrochenen europäischen Kakophonie gezogen. Außerdem muß die Europäische Sicherheitsstrategie zusammen gelesen werden mit zwei weiteren vom Europäischen Rat verabschiedeten Dokumenten, die sich ausführlich mit den Grundprinzipien und geplanten Aktivitäten im Umgang der EU mit Massenvernichtungswaffen befassen.

Schließlich wurden im Europäischen Konvent erhebliche Fortschritte auf dem Weg zur Vergemeinschaftung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik gemacht. Die Europäische Sicherheitsstrategie und die Ergebnisse des Konvents müssen deshalb immer zusammen gelesen werden. Spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten der neuen Verfassung - womit allerdings erst 2006 gerechnet wird - muss das neu vorgesehene EU-Außenministerium etabliert werden. Das Außenministerium ist als Hybride aus dem bisher beim Rat angesiedelten Amt des Hohen Beauftragten mit der Generaldirektion Außenbeziehungen der Kommission geplant. Damit werden in die Außenpolitik zwei der ursprünglichen Säulen des Maastrichter Vertrages integriert. Das Europäische Parlament wird über Entscheidungen im Rahmen der GASP weiterhin nur konsultiert. Die parlamentarische Kontrolle findet also weiterhin - dort wo vorgesehen - auf der Ebene der Mitgliedstaaten statt. Entscheidungen im engen Bereich der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik werden voraussichtlich weiterhin einstimmig fallen, auch wenn eine endgültige Entscheidung über das Verfahren auf die Regierungskonferenz im Herbst 2003 verschoben wurde. Allerdings kommt die ESVP aus Sicht mehrerer Mitgliedstaaten für die seit dem Nizza-Vertrag eingeführte verstärkte Zusammenarbeit von Vorreiterkoalitionen in Frage.

Die National Security Strategy der USA als Bezugspunkt

Der Nationale Sicherheitsrat der USA legt dem Präsidenten in regelmäßigen Abständen eine Nationale Sicherheitsstrategie vor. Wegen der hohen internationalen Aufmerksamkeit für die sicherheitspolitische Umorientierung der Bush-Administration nach dem 11. September sowie wegen der in diesem Dokument vorgenommenen Definition des Präemptivschlages, bekam die von Sicherheitsberaterin Rice im September 2002 vorgelegte Nationale Sicherheitsstrategie größere Prominenz als ihre Vorläuferdokumente.

Schon damals wurde die Frage laut, warum nicht auch die EU eine gemeinsame Sicherheitsstrategie besäße. Nach dem innereuropäischen Streit in der Irakdebatte wurde diese Frage mit neuer Dringlichkeit gestellt und mit dem Auftrag des Rates der Europäischen Außenminister an Xavier Solana, eben ein solches Dokument vorzulegen, beantwortet.

Aus diesem Kontext heraus ist es verständlich, dass sich die Europäische Sicherheitsstrategie an den Fragestellungen der US Vorlage orientiert und in gewisser Weise abarbeitet.
  • Unter der Kapitelüberschrift "Neue Bedrohungen in einem neuen Sicherheitsumfeld" widmet sich die ESS ausführlich den Fragen des Terrorismus und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen.
  • Die ESS versucht, den Blick über den europäischen Tellerrand hinaus zu werfen und einige der Regionen, die traditionell eher im sicherheitspolitischen Blick der USA lagen, von einer europäischen Interessenperspektive heraus zu beschreiben. Dazu gehören der israelisch-palästinensische Konflikt, Südkorea und Südasien.
  • Das herkömmliche Konzept der Selbstverteidigung gegen eine Invasion wird aufgegeben zugunsten einer Vorwärtsverteidigung gegen neue Bedrohungen gegen die "die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland" liege.
  • Im Zusammenhang mit einer detaillierten Diskussion neuer Bedrohungen und des zu deren Bearbeitung notwendigen "gemischten Instrumentariums" wird der Begriff der Prävention eingeführt.
Mit diesem Versuch, angemessene Antworten auf die von den USA empfundenen neuen sicherheitspolitischen Bedrohungen zu finden, versetzt sich die EU in erstmals in die Lage zu einem strategischen Dialog über diese Fragen. Allerdings handelt es sich bei der US-amerikanischen Nationalen Sicherheitsstrategie, neben unterschiedlicher, inhaltlicher Nuancierungen, noch um ein deutlich detaillierteres und handlungsnäheres Dokument.

Die Europäische Sicherheitsstrategie als Vorläufer eines EU-Sicherheitskonzeptes

Auf dem informellen Treffen der EU-Außenminister am 2./3. Mai 2003 in Griechenland wurde der Hohe Beauftragte für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, damit beauftragt, bis zum Europäischen Rat in Thessaloniki erstmals den Entwurf einer Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) vorzulegen. Dort wurde das Dokument unter dem Titel "A Secure Europe in a Better World" am 20. Juni 2003 von den Staats- und Regierungschefs ohne Änderungen verabschiedet. Bis zum EU-Gipfel im Dezember, unter italienischer Präsidentschaft, soll auf Grundlage der ESS ein detaillierteres "Sicherheitskonzept" beraten und verabschiedet werden.

Ausgehend von der Feststellung, dass heute "kein Land in der Lage (ist), die komplexen Probleme der heutigen Zeit im Alleingang zu lösen", fordert Solana die EU dazu auf, "einen Teil der Verantwortung für die globale Sicherheit zu tragen." Damit ist die zentrale Botschaft der Europäischen Sicherheitsstrategie formuliert: Nach dem Ende des Kalten Kriegs steht Europa vor der politischen Herausforderung, Verantwortung für die Sicherheit in der gesamten Welt zu übernehmen. Dieser Herausforderung stellt sich Europa durch kooperatives Handeln in multilateralen Strukturen.

Das Solana-Papier ist in drei Kapitel gegliedert:

1. Neue Bedrohungen in einem neuen Sicherheitsumfeld

Das neue Sicherheitsumfeld der EU wird als Resultat zahlreicher ineinander verschränkter Prozesse der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung beschrieben. In das Zentrum dieser Analyse werden die weltweite Armut und die schlechte Staatsführung in zahlreichen Ländern gestellt. Interessant ist die Kategorisierung des globalen Klimawandels als "keine Bedrohung im üblichen strategischen Sinne", die jedoch trotzdem in zahlreichen Regionen für Turbulenzen und Migrationsbewegungen sorgen werde. Die Unterscheidung zwischen so genannten strategischen und als eher peripher empfundenen Herausforderungen wird für den Sicherheitsdiskurs der kommenden Jahre wohl eine wichtige Rolle spielen.

Erwähnt wird in diesem Zusammenhang auch die gewachsene Rolle nichtstaatlicher Gruppen. Leider tauchen nichtstaatliche Akteure in der am Ende des Papiers geführten Instrumentendebatte nicht mehr auf.

In dem so beschriebenen Sicherheitsumfeld werden drei "neue Bedrohungen" identifiziert: der internationale Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen sowie "gescheiterte Staaten" und organisierte Kriminalität. Damit werden die von den USA in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie genannten wichtigsten Bedrohungen aufgegriffen.

Die Charakteristika des modernen Terrorismus werden wie folgt beschrieben: Internationale Terrororganisationen machen sich die technischen Segnungen der Globalisierung zu Nutzen und haben jegliche politische Selbstbeschränkung aufgegeben. Deswegen sind sie zu unbegrenzter Gewalt, auch gegen Zivilisten, und der Nutzung von Massenvernichtungswaffen bereit. Sie seien außerdem mit einem gewalttätigen religiösen Fundamentalismus verknüpft. Es wird konstatiert, dass Europa sowohl Stützpunkt als auch Ziel internationaler Terrororganisationen ist. Die Tatsache, dass der neue Terrorismus auch Ergebnis des oben beschriebenen neuen Sicherheitsumfeldes ist, wird wie folgt beschrieben: "Zu den komplexen Ursachen dieser Entwicklung gehören der Modernisierungsdruck, kulturelle, soziale und politische Krisen sowie die Entfremdung von in fremden Gesellschaften lebenden jungen Menschen. Dieses Phänomen tritt auch in unserer Gesellschaft zutage."

Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen wird als mit Abstand größte Bedrohung des Weltfriedens bezeichnet. Im Konjunktiv - also doch etwas zurückhaltender als in den USA üblich - wird die Möglichkeit beschrieben, dass zukünftig terroristische Organisationen in den Besitz von Massenvernichtungswaffen kommen könnten.

Deutlich präziser als in der Sicherheitsstrategie der USA wird die Gefahr, die von failed states und organisierter Kriminalität für den Frieden ausgeht, beschrieben. Als eines der Hauptprobleme wird die weite Verbreitung und leichte Verfügbarkeit von Kleinwaffen beschrieben. Interessant wäre in diesem Zusammenhang ein Vergleich der Opfer von Kleinwaffen und Landminen mit denen von Massenvernichtungswaffen, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunftsprojektion. Auch die jüngsten Anschläge auf die ISAF-Schutztruppe in Afghanistan und die amerikanische Besatzungsarmee im Irak wurden mit solchen Waffen durchgeführt.

Zusammenfassend wird konstatiert: "Bei der Summierung der verschiedenen Elemente - extrem gewaltbereite Terroristen, Verfügung von Massenvernichtungswaffen und Scheitern staatlicher Systeme - ist es durchaus vorstellbar, dass Europa einer sehr ernsten Bedrohung ausgesetzt sein könnte."

2. Strategische Ziele

Als strategische Ziele der EU-Außenpolitik werden beschrieben:
  • die Ausdehnung des Sicherheitsgürtels um Europa
  • die Stärkung der Weltordnung
  • das Vorgehen gegen die o.g. Bedrohungen
Auch in Zukunft wird das Hauptaugenmerk der europäischen Außenpolitik auf der näheren Nachbarschaft der EU liegen. In diese Kategorie fallen die europäischen GUS-Staaten, der westliche Balkan, der Nahe Osten und die nordafrikanischen Mittelmeerländer. Russland wird hierbei ausgespart. Der Südkaukasus findet als Region, die "zu gegebener Zeit ebenfalls eine Nachbarregion sein wird", Erwähnung. Herausgehobene Bedeutung wird der Lösung des "israelisch-arabischen" Konfliktes zugemessen. Interessanterweise wird damit die in den USA gebräuchliche Wortwahl aufgegriffen, und nicht, wie in der europäischen Debatte üblich, vom "israelisch-palästinensischen" Konflikt gesprochen.

Unter der Überschrift "Stärkung der Weltordnung" wird postuliert: "Die Charta der Vereinten Nationen bildet den grundlegenden Rahmen für die internationalen Beziehungen." Damit wird die UN ins Zentrum des internationalen Institutionengefüges gestellt, und damit eben in eine hierarchische Beziehung zu den ebenfalls erwähnten Organisationen WTO, Nato und regionalen Organisationen gesetzt. Allerdings werden der UN ein Effizienz- sowie ein Legitimitätsproblem diagnostiziert. Die normengestützte Weltordnung müsse mit Entwicklungen wie Proliferation, Terrorismus und globaler Erwärmung Schritt halten. Außerdem wird als Problem erkannt, dass zu viele UN-Mitgliedstaaten diktatorisch regiert werden und sowohl gegen die Normen innerer Staatsführung als auch die der internationalen Zusammenarbeit verstoßen.

Ein positiver Bezug erfolgt hier zur Strategie der wirtschaftlichen Globalisierung: "Handelspolitik und Entwicklungspolitik können wirkungsvolle Instrumente zur Förderung von Reformen sein." In diesem Zusammenhang wird interessanterweise erstmals der Begriff der Prävention eingeführt: "Eine Welt, die als Welt wahrgenommen wird, welche Gerechtigkeit und Chancen für jedermann bietet, wird für die Europäische Union und ihre Bürger sicherer sein. Durch präventives Handeln lassen sich ernsthafte Probleme in der Zukunft vermeiden."

Unter der Überschrift "Vorgehen gegen Bedrohungen" wird eine Liste von Maßnahmen der vergangenen Jahre, die die EU im militärischen und nichtmilitärischen Bereich sowie im Kampf gegen den Terrorismus vorgenommen hat, geführt. Dabei fließt eine schönende Wertung ein, wenn beispielsweise postuliert wird, dass die EU im Balkan, in Afghanistan, in Osttimor und neuerdings im Kongo "gescheiterten Staaten wieder auf die Beine geholfen" habe. Eine kritische Analyse von Interventionen unterbleibt. An dieser Stelle im Text wird erstmals auf Bedrohungen jenseits der unmittelbaren Nachbarschaft Europas, also beispielsweise die nukleare Proliferation im Zusammenhang mit Nordkorea oder in Südasien, Bezug genommen. Geschlußfolgert wird daraus, dass auch für die EU das Konzept der Landesverteidigung passé ist. Um den deutschen Verteidigungsminister zu persiflieren: Europa wird am Hindukusch verteidigt. ("Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen.") An dieser Stelle wird zum zweiten Mal - und diesmal mit eher militärischer Konnotation - der Begriff der Prävention verwendet , auch wenn anerkannt wird, dass die neuen Bedrohungen ein gemischtes Instrumentarium aus politischen, wirtschaftlichen und sonstigen Druckmitteln, zuzüglich der militärischen Komponente, erfordern.

Nicht behandelt wird die Tatsache, dass spätestens seit dem 11.9.01 die Bereiche der inneren und äußeren Sicherheit immer schwieriger voneinander zu trennen sind - wobei sich die Frage stellt, ob Europa wirklich am Hindukusch verteidigt wird, sondern nicht eher im Hamburger Hafen oder durch die Ausrichtung des öffentlichen Gesundheitssystems auf einen potentiellen Angriff mit Massenvernichtungswaffen.

Auswirkungen auf die Europäische Politik

"Die europäische Union hat in den letzten Jahren Fortschritte bei der Entwicklung einer kohärenten Außenpolitik und einer wirksamen Krisenbewältigung erzielt." Mit dieser durchaus zweckoptimistischen Feststellung wird das abschließende Kapitel über die Prinzipien europäischer Außenpolitik eingeleitet.

Diese lauten:
  • Aktives Verfolgen der o.g. strategischen Ziele
  • Kohärenz
  • Handlungsfähigkeit
  • Zusammenarbeit mit Partnern
Verlangt wird nach einer strategischen Kultur, die ein frühzeitiges, rasches und notfalls robustes Eingreifen bei Krisen ermöglicht. Der besondere Mehrwert, den die EU zu bieten habe, liege dabei in einer Mischung aus zivilem und militärischem Eingreifen. Dafür wiederum sollen die vorhandenen Instrumente gebündelt, aufeinander abgestimmt und notfalls ergänzt werden. Auch die diplomatischen Bemühungen der EU sowie die Entwicklungs-, Handels- und Umweltpolitik solle sich in diesen strategischen Rahmen einfügen.

Um diese Instrumente effektiver zu gestalten und auszubauen, sollen mehr Mittel für die Verteidigung ausgegeben werden sowie Duplizitäten durch zusammengelegte und gemeinsam genutzte Mittel vermieden werden. Auch in die zivilen Kriseninterventionsfähigkeiten der EU, die gemeinsame Gefahrenabschätzung sowie in den diplomatischen Dienst soll vermehrt investiert werden. Auch für diese Bereiche wird eine Bündelung der vorhandenen Fähigkeiten vorgeschlagen, auch wenn das Solana-Papier nicht so weit geht, einen Europäischen Diplomatischen Dienst zu fordern. Mit all diesen Maßnahmen soll die EU in die Lage versetzt werden, zukünftig auch über die Petersberg-Aufgaben hinaus gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen und Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung vorzunehmen.

Abschließend wird postuliert, dass die EU ihre außenpolitischen Ziele auch weiterhin im Rahmen der multilateralen Zusammenarbeit in internationalen Institutionen sowie in Partnerschaft mit anderen wichtigen Akteuren erreichen möchte. Neben der besonderen Betonung der transatlantischen Beziehungen, will sich die EU auf die Entwicklung strategischer Partnerschaften mit Russland, Japan, China, Kanada und Indien konzentrieren.

Ein spezifischer europäischer Sicherheitsbegriff?

Die spezifische, aus der historischen Erfahrung der europäischen Integration, erwachsene Stärke europäischer Politik ist ein charakteristischer kooperativer Problemlösungsstil in multilateralen Zusammenhängen. Den Entwurf der Sicherheitsstrategie prägt daher ein Grundverständnis von umfassender, gemeinsamer und vorbeugender Sicherheitspolitik. Allerdings wird der Schwerpunkt der Bedrohungsanalyse auf die von den USA in die Diskussion gebrachten neuen Bedrohungen des Terrorismus und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen gelegt. Zu kurz kommt die Einsicht, dass es eine Welt jenseits des transatlantischen Verhältnisses gibt.

Eine stärkere Kohärenz des Einsatzes nichtmilitärischer, militärischer und diplomatischer Instrumente der europäischen Außenpolitik wird gefordert, ohne eine innere Gewichtung beziehungsweise eine genaue Beschreibung der notwendigen Instrumente vorzunehmen. Der Akteursbegriff ist konservativ. Die neuartige Präsenz von Nichtregierungsorganisationen und anderen nichtstaatlichen Akteuren in der Außenpolitik - u.a. als Träger von Krisenpräventions- und Demokratisierungsmaßnahmen - wird zwar konstatiert, aber nicht zum Gegenstand strategischer und praktischer Überlegungen gemacht. Womit sich zeigt, dass sich auch Europas Sicherheitspolitik nur langsam von "altem Denken" lösen kann.

Schwerpunktregionen europäischer Außenpolitik

Ein wichtiger Anknüpfungspunkt für die Weiterentwicklung der europäischen Außenpolitik ist die "Größeres Europa - Nachbarschaft"-Mitteilung der Kommission aus dem Frühjahr 2003 . Damit schlägt die Kommission vor, die zukünftige Außenpolitik der EU auf die zukünftigen Nachbarstaaten der erweiterten EU zu konzentrieren. Die internen politischen und finanziellen Instrumente der EU sollen auch in Zusammenarbeit mit dieser Staatengruppe eingesetzt werden können. Für die westlichen Balkanstaaten wurde auf dem Gipfeltreffen von EU und Westlichen Balkanstaaten am 21. Juni 2003 in Thessaloniki schon vorgeschlagen, dass sich diese Erklärungen und Gemeinsamen Standpunkte im Rahmen der Gemeinsamen Außenpolitik anschließen sollten. Genannt werden vier Regionen: Die europäischen GUS-Staaten (ohne Russland); der westliche Balkan ; die Mittelmeeranrainer im Nahen Osten; die nordafrikanischen Mittelmeeranrainer . Der Status der drei Südkaukasusstaaten bleibt unklar. Er wird sicherlich kontroverser Gegenstand der Beratungen der Mitglieder im Rat sein. Mit einem möglichen EU-Beitritt der Türkei würde der Südkaukasus - ebenso wie der Iran und Irak - zur unmittelbaren Nachbarregion für die EU.

Unter allen Großregionen liegt Afrika neben dem Nahen Osten den europäischen Ländern am nächsten. Seit dem französisch-englischen Gipfel von Le Touquet ist Afrika in das Zentrum der ESVP gerückt. Die beiden ehemaligen Kolonialmächte haben ihren Willen bekundet, dass Afrika zukünftig zur Schwerpunktregion der ESVP wird. Bisher ist die Kooperation der EU mit Afrika weitgehend im Entwicklungshilfe-Abkommen von Cotonou geklärt. Das neu formulierte sicherheitspolitische Interesse der Europäer an Afrika und der traditionelle handels- und entwicklungspolitische Fokus auf die Konferenz sollten in einer gemeinsamen europäischen Afrikapolitik, die über die Sonderinteressen der ehemaligen Kolonialmächte hinausgeht, geklärt werden. In diesem Rahmen müsste auch die institutionelle Zusammenarbeit mit der neu geschaffenen Afrikanischen Union geklärt werden.

Dadurch, dass die EU mittelfristig den Beitritt einer Reihe islamisch geprägter und mitgeprägter Länder vorbereitet, und in allen westeuropäischen Großstädten signifikante moslemische Minderheiten leben, kann Europa zur Brücke zwischen der westlichen und der islamischen Welt werden. Außerdem plant die EU im Rahmen ihrer Strategie zur Näheren Nachbarschaft die Anwendung ihres politischen und finanziellen Instrumentariums auf ihre zukünftigen Nachbarstaaten in der europäischen GUS, auf dem West-Balkan, im Nahen Osten und in Nordafrika. Obwohl diesen Ländern, von den westlichen Balkanstaaten einmal abgesehen, keine Beitrittsperspektive eröffnet wird, so wird doch eine abgestufte Form von Integration in die EU beschrieben, die über bisherige Kooperationsformen, wie das Barcelona-Abkommen für den Mittelmeerraum hinausweist.

Aus: Frankfurter Rundschau (Dokumentationsseite), 10.11.2003

Die besprochenen Dokumente auf unseren Seiten:

Im Wortlaut: EIN SICHERES EUROPA IN EINER BESSEREN WELT
Javier Solana legt ein Papier für eine Europäische Sicherheitsdoktrin vor (23. Juni 2003)
Die neue Nationale Sicherheitsdoktrin der Vereinigten Staaten
Dokumentation der Langfassung in deutscher Übersetzung (Teile I bis V) (28. September 2002)
Die neue Nationale Sicherheitsdoktrin der Vereinigten Staaten
Dokumentation der Langfassung in deutscher Übersetzung (Teile VI bis IX) (28. September 2002)



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