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Im Wortlaut: EIN SICHERES EUROPA IN EINER BESSEREN WELT

Javier Solana legt ein Papier für eine Europäische Sicherheitsdoktrin vor

Am 18. Juni 2003 legte der EU-Beauftragte für die GASP-Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, ein Papier vor, das aufhorchen ließ: Ging es darin doch um nichts anderes als den Entwurf einer eigenen europäischen Sicherheitsdoktrin, die in der Sprache und in der Zielsetzung starke Anklänge an die im September 2002 von US-Präsident Bush erlassene "Nationale Sicherheitsstrategie" erinnert. Solana legte das Papier zwei Tage später dem EU-Gipfel in Thessaloniki vor und erntete - u.a. vom deutschen Bundeskanzler - Lob und Beifall für sein Werk. Im Herbst soll es weiter verhandelt und dann wohl auch als gültige Militärstrategie verabschiedet werden.
Wir dokumentieren das Strategiepapier von Solana in einer deutschen Übersetzung.



EIN SICHERES EUROPA IN EINER BESSEREN WELT

Einleitung

Nie zuvor ist Europa so wohlhabend, so sicher und so frei gewesen. Die Gewalt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist einer in der europäischen Geschichte beispiellosen Periode des Friedens und der Stabilität gewichen.

Die Schaffung der Europäischen Union steht im Mittelpunkt dieser Entwicklung. Sie hat die Beziehungen zwischen unseren Ländern und das Leben unserer Bürger verändert. Die europäischen Staaten haben sich verpflichtet, Streitigkeiten auf friedlichem Wege beizulegen und in gemeinsamen Institutionen zusammenzuarbeiten. In dieser Zeit sind aus autoritären Regimen sichere, stabile und dynamische Demokratien geworden. Die aufeinander folgenden Erweiterungen lassen die Vision eines geeinten und friedlichen Kontinents Realität werden.

Die Vereinigten Staaten haben durch ihre Unterstützung des europäischen Einigungsprozesses und ihr Engagement für die Sicherheit Europas im Rahmen der NATO einen entscheidenden Beitrag zu diesem Erfolg geleistet.

Das Ende des Kalten Krieges bedeutete nicht das Ende der Bedrohungen und Herausforderungen für die Sicherheit der europäischen Länder. Der Ausbruch des Konflikts auf dem Balkan hat uns wieder vor Augen geführt, dass der Krieg nicht von unserem Kontinent verschwunden ist.

Im letzten Jahrzehnt ist keine Region der Welt von Konflikten verschont geblieben. In den meisten Fällen waren diese Konflikte eher innerstaatlicher als zwischenstaatlicher Natur. Während dieses Zeitraums sind europäische Streitkräfte häufiger ins Ausland verlegt worden als in jedem früheren Jahrzehnt; zu den Einsatzgebieten gehörten auch weit entfernte Länder wie Afghanistan, Kongo oder Osttimor.

Seit dem Ende des Kalten Krieges sind die Vereinigten Staaten der dominierende militärische Akteur, dessen Potenzial von keinem anderen Land und keiner Ländergruppe auch nur annähernd erreicht wird. Gleichwohl ist kein Land in der Lage, die komplexen Probleme der heutigen Zeit im Alleingang zu lösen.

Als Zusammenschluss von 25 Staaten mit über 450 Millionen Einwohnern, die ein Viertel des Bruttosozialprodukts (BSP) weltweit erwirtschaften, ist die Europäische Union - ob es einem gefällt oder nicht - ein globaler Akteur; sie sollte daher bereit sein, einen Teil der Verantwortung für die globale Sicherheit zu tragen.

I. NEUE BEDROHUNGEN IN EINEM NEUEN SICHERHEITSUMFELD

Das neue Umfeld


Das Umfeld seit dem Ende des Kalten Krieges ist durch eine zunehmende Öffnung der Grenzen gekennzeichnet. Die Handels- und Investitionsströme, die technologische Entwicklung und die Verbreitung der Demokratie haben vielen Menschen mehr Freiheiten und wachsenden Wohlstand gebracht. Infolge dieser Entwicklungen haben nichtstaatliche Gruppen nun mehr Spielraum für eine Mitwirkung am internationalen Geschehen. Trotz dieser ermutigenden Entwicklungen sind viele Probleme weiterhin ungelöst und manche haben sich zum Teil gar verschlimmert.

Regionale Konflikte bewirken weiterhin, dass instabile Verhältnisse fortbestehen, die Wirtschaftstätigkeit schwer gestört wird und die Möglichkeiten der betroffenen Menschen eingeschränkt werden. Probleme, wie sie sich im Kaschmir-Konflikt und auf der koreanischen Halbinsel stellen, haben ebenso direkte und indirekte Auswirkungen auf europäische Interessen wie näher gelegene Konfliktherde, vor allem im Nahen Osten.

Fast drei Milliarden Menschen und damit die Hälfte der Weltbevölkerung müssen mit weniger als zwei Euro pro Tag auskommen. Weiterhin sterben in jedem Jahr 45 Millionen Menschen an Hunger und Unterernährung. Die Armut im südlich der Sahara gelegenen Teil Afrikas ist größer als vor zehn Jahren. In vielen Fällen war das ausbleibende Wirtschaftswachstum mit politischen Problemen und gewalttätigen Konflikten verknüpft. In einigen Teilen der Welt, namentlich im südlich der Sahara gelegenen Teil Afrikas, ist ein Zyklus der Unsicherheit entstanden. Seit 1990 sind fast vier Millionen Menschen - zu 90 % Zivilisten - in Kriegen ums Leben gekommen. Weltweit haben über 18 Millionen Menschen wegen eines Konflikts ihr Zuhause oder ihr Land verlassen.

Den Kern dieser Probleme bildet häufig eine schlechte Staatsführung. Korruption, Machtmissbrauch, schwache Institutionen und mangelnde Rechenschaftspflicht zersetzen Staaten von innen heraus und tragen zu regionaler Unsicherheit bei. Sicherheit ist eine Vorbedingung für Entwicklung. Konflikte zerstören nicht nur Infrastrukturen (einschließlich der sozialen), sondern fördern auch Kriminalität, schrecken Investoren ab und verhindern ein normales Wirtschaftsleben. Eine Reihe von Ländern und Regionen laufen Gefahr, in einer Abwärtsspirale von Konflikten, Unsicherheit und Armut zu versinken.

Der Temperaturanstieg, der von den meisten Wissenschaftlern für die kommenden Jahrzehnte prognostiziert wird, stellt zwar keine Bedrohung im üblichen strategischen Sinne dar, dürfte jedoch in mehreren Regionen der Welt weitere Turbulenzen und Migrationsbewegungen verursachen.

Die Energieabhängigkeit ist ein weiterer Grund zur Besorgnis. Europa ist der größte Erdöl- und Erdgasimporteur der Welt. Unser derzeitiger Energieverbrauch wird zu 50 % durch Einfuhren gedeckt. Im Jahr 2030 wird dieser Anteil 70 % erreichen. Der größte Teil der Energieeinfuhren stammt aus der Golfregion sowie aus Russland und Nordafrika.

Neue Bedrohungen

Größere Angriffe gegen Mitgliedstaaten sind nunmehr unwahrscheinlich geworden. Dafür jedoch ist Europa mit neuen Bedrohungen konfrontiert, die verschiedenartiger, weniger sichtbar und weniger vorhersehbar sind. Europa muss insbesondere mit drei Hauptbedrohungen rechnen:

Terrorismus:
Der internationale Terrorismus ist eine strategische Bedrohung. Er gefährdet Menschenleben, verursacht hohe Kosten und bedroht die Offenheit und Toleranz unserer Gesellschaften. Der neue Terrorismus unterscheidet sich von den uns vertrauten Terrorismusformen. Er ist international, elektronisch vernetzt, gut mit Mitteln ausgestattet und darüber hinaus frei von den Zwängen, denen die traditionellen Terrororganisationen unterworfen sind. Diese werben in der Regel um politische Unterstützung und erlegen sich deshalb gewisse Selbstbeschränkungen auf; letzten Endes sind sie unter Umständen auch bereit, auf Gewalt zu verzichten und in Verhandlungen einzutreten. Die neuen terroristischen Bewegungen scheinen gewillt zu sein, unbegrenzte Gewalt anzuwenden und eine sehr große Zahl von Menschen zu töten. Anders als bei den traditionellen Terrororganisationen ist es für sie daher reizvoll, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu gelangen.

Für diese Terroristen ist Europa sowohl Ziel als auch Stützpunkt. Logistische Stützpunkte von Al Qaida-Zellen wurden im Vereinigten Königreich sowie in Italien, Deutschland, Spanien und Belgien entdeckt. Al Qaida hat europäische Länder als potenzielle Ziele bezeichnet. Größere Anschläge in unserem Hoheitsgebiet waren geplant, konnten jedoch glücklicherweise vereitelt werden.

Die jüngste Terrorismuswelle ist mit einem gewalttätigen religiösen Fundamentalismus verknüpft. Zu den komplexen Ursachen dieser Entwicklung gehören der Modernisierungsdruck, kulturelle, soziale und politische Krisen sowie die Entfremdung von in fremden Gesellschaften lebenden jungen Menschen. Dieses Phänomen tritt auch in unserer Gesellschaft zutage.

Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen (MVW) ist die mit Abstand größte Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit der Völker. Die internationalen Verträge und Ausfuhrkontrollregelungen haben die Verbreitung von MVW und ihrer Trägersysteme verlangsamt. Nun jedoch befinden wir uns am Anfang eines neuen und gefährlichen Zeitabschnitts, in dem es möglicherweise - insbesondere im Nahen Osten - zu einem MVW-Wettrüsten kommt. Die Verbreitung von Raketentechnologie sorgt für zusätzliche Instabilität und wird Europa wachsender Gefahr aussetzen.

Am erschreckendsten ist der Gedanke, dass terroristische Gruppierungen in den Besitz von Massenvernichtungswaffen gelangen. Mit der fortgesetzten Verbreitung dieser Waffen wächst die Gefahr eines solchen Szenarios. Sollte es eintreten, wäre eine kleine Gruppe in der Lage, einen Schaden anzurichten, der eine Größenordnung erreicht, die bislang nur für Staaten und Armeen vorstellbar war. In derartigen Fällen wäre die Abschreckung unwirksam. Fortschritte im Bereich der biologischen Wissenschaften können die Wirkung von biologischen Waffen in den kommenden Jahren verstärken. Anschläge mit chemischen Stoffen und radiologischem Material sind ebenfalls eine ernst zu nehmende Gefahr.

"Gescheiterte Staaten" (failed states) und organisierte Kriminalität: In vielen Teilen der Welt haben eine schlechte Staatsführung, zivile Konflikte und die leichte Verfügbarkeit von Kleinwaffen zu einer Schwächung der staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen geführt. In einigen Fällen ist dabei eine Situation entstanden, in der die staatlichen Institutionen am Rande des Zusammenbruchs stehen. Somalia, Liberia und Afghanistan sind die bekanntesten Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit. Die Schwäche des Staates wird häufig von kriminellen Elementen ausgenutzt (und manchmal auch durch sie verursacht). In einigen drogenproduzierenden Ländern hat sich die Schwächung der staatlichen Strukturen unter dem Einfluss der Drogengelder beschleunigt; in Afghanistan sicherten die Drogeneinnahmen den Machterhalt der Taliban und einiger Privatarmeen. In dem Maße wie der Staat scheitert, übernimmt die organisierte Kriminalität die Herrschaft. Die kriminellen Aktivitäten in solchen gescheiterten Staaten beeinträchtigen die Sicherheit Europas. Ströme illegaler Drogen und Migranten gelangen in größerem Umfang über den Balkan, Osteuropa und Mittelasien nach Europa.

Bei einer Summierung dieser verschiedenen Elemente . extrem gewaltbereite Terroristen, Verfügbarkeit von Massenvernichtungswaffen und Scheitern staatlicher Systeme . ist es durchaus vorstellbar, dass Europa einer sehr ernsten Bedrohung ausgesetzt sein könnte.

II. STRATEGISCHE ZIELE

Diese neue Welt bietet der Menschheit in bisher unbekanntem Maße Chancen für eine bessere Zukunft, jedoch zugleich auch erschreckendere Zukunftsaussichten. Wie sich die Zukunft letztendlich gestalten wird, hängt zum Teil auch von unserem Handeln ab. In diesem Papier werden drei strategische Ziele für die Europäische Union vorgeschlagen. Erstens können wir in besonderem Maße zu Stabilität und verantwortungsvoller Staatsführung in unserer unmittelbaren Nachbarschaft beitragen. Zweitens müssen wir ganz allgemein eine Weltordnung schaffen, die sich auf einen wirksamen Multilateralismus stützt. Drittens müssen wir uns den alten und den neuen Bedrohungen stellen.

Ausdehnung des Sicherheitsgürtels um Europa

Selbst im Zeitalter der Globalisierung spielen die geografischen Aspekte noch immer eine wichtige Rolle. Es liegt im Interesse Europas, dass die angrenzenden Länder verantwortungsvoll geführt werden. So bereiten Nachbarländer, die in gewaltsame Konflikte verstrickt sind, schwache Staaten, in denen die organisierte Kriminalität wächst und gedeiht, disfunktionelle Gesellschaften oder sich explosionsartig vermehrende Bevölkerungen an den Grenzen Europas . all dies bereitet Europa Probleme.

Die Zusammenführung Europas und die Integration der beitretenden Staaten wird zwar unsere Sicherheit erhöhen, jedoch auch eine geografische Annäherung Europas an Krisengebiete bewirken. Wir müssen darauf hinarbeiten, dass die Europäische Union im Osten und in der Mittelmeerregion durch verantwortungsvoll geführte Staaten umschlossen wird, mit denen wir enge, auf Zusammenarbeit ausgerichtete Beziehungen pflegen können.

Wie wichtig dies ist, lässt sich am besten anhand des Balkans verdeutlichen: Die Europäische Union hat sich gemeinsam mit der NATO und anderen Partnern verpflichtet, in dieser Region auf Stabilität, verantwortungsvolle Staatsführung und eine möglichst enge Anbindung an Europa hinzuwirken. Diese Bemühungen werden über die nächsten Jahre fortgesetzt werden müssen.

Es liegt nicht in unserem Interesse, durch die Erweiterung neue Grenzen in Europa zu ziehen. Wir müssen die Vorteile der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit auf unsere künftigen östlichen Nachbarn . die Ukraine, Moldau und Belarus . ausweiten und zugleich die politischen Probleme dieser Länder lösen. Wir sollten uns mehr für die Probleme im Südkaukasus interessieren, der zu gegebenerer Zeit ebenfalls eine Nachbarregion sein wird.

Die Lösung des israelisch-arabischen Konflikts stellt für Europa eine strategische Priorität dar. Anderenfalls sind die Aussichten, die anderen Probleme im Nahen Osten erfolgreich anzugehen, gering. Die Europäische Union engagiert sich seit mehr als 20 Jahren in diesem Bereich. Die Regelung der Frage, die nunmehr vom Nahost-Quartett vorangetrieben wird, ist nach wie vor ein wesentliches Anliegen.

Der Mittelmeerraum sieht sich generell weiterhin mit ernsthaften Problemen wie wirtschaftlicher Stagnation, sozialen Unruhen und ungelösten Konflikten konfrontiert. Es liegt im Interesse der Europäischen Union, diese Probleme zusammen mit den Mittelmeerpartnern anzugehen, in dem sie weiterhin die wirtschafts-, sicherheits- und kulturpolitische Zusammenarbeit im Rahmen des Barcelona-Prozesses effizienter gestalten.

Stärkung der Weltordnung

In einer Welt globaler Bedrohungen, globaler Märkte und globaler Medien hängt unsere Sicherheit und unser Wohlstand von einem funktionsfähigen multilateralen System ab. Daher sollten wir uns zum Ziel setzen, eine stärkere Weltgemeinschaft, gut funktionierende internationale Institutionen und eine normengestützte Weltordnung zu schaffen.

Wir begrüßen es, dass seit Beendigung des Kalten Krieges die Schlüsselinstitutionen des internationalen Systems, z.B. die Welthandelsorganisation (WTO) und die internationalen Finanzinstitutionen, ihre Mitgliedschaft ausgebaut haben. China ist der WTO beigetreten und Russland hat den Beitritt beantragt. Wir sollten uns darum bemühen, die Mitgliedschaft solcher Einrichtungen unter Aufrechterhaltung ihrer hohen Standards auszuweiten.

Die transatlantischen Beziehungen zählen zu den tragenden Elementen des internationalen Systems. Dies ist nicht nur im beiderseitigen Interesse, sondern stärkt auch die internationale Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit. Die NATO ist ein wichtiger Ausdruck dieser Beziehungen.

Regionale Organisationen stärken ebenfalls die verantwortungsvolle Staatsführung weltweit. Für die Europäische Union sind die Stärke und die Wirksamkeit der OSZE und des Europarates von besonderer Bedeutung. Andere regionale Organisationen wie ASEAN, MERCOSUR und Afrikanische Union zählen zu wichtigen Partnern der Union.

Die Charta der Vereinten Nationen bildet den grundlegenden Rahmen für die internationalen Beziehungen. Die Stärkung der Vereinten Nationen und ihre Ausstattung mit den zur Erfüllung ihrer Aufgaben und für ein effizientes Handeln erforderlichen Mitteln, muss ein vorrangiges Ziel für Europa sein. Wenn wir von internationalen Organisationen, Vereinbarungen und Verträgen erwarten, dass sie Gefahren für den Frieden und die Sicherheit in der Welt wirksam abwenden, sollten wir bei Verstößen gegen ihre Regeln zum Handeln bereit sein.

Für eine normengestützte Weltordnung gilt, dass die Gesetze mit Entwicklungen wie Proliferation, Terrorismus und globale Erwärmung Schritt halten müssen. Wir haben ein Interesse daran, bestehende Institutionen wie die Welthandelsorganisation weiter auszubauen und neue Einrichtungen wie den Internationalen Strafgerichtshof zu unterstützen.

Die Qualität der Staatengemeinschaft hängt von der Qualität der Regierungen als tragendem Fundament ab. Der beste Schutz für unsere Sicherheit wäre eine Welt verantwortungsvoll geführter demokratischer Staaten. Die geeignetsten Mittel zur Stärkung der Weltordnung sind die Verbreitung verantwortungsvoller Staatsführung, die Bekämpfung von Korruption und Machtmissbrauch, die Begründung der Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Menschenrechte.

Handelspolitik und Entwicklungspolitik können wirkungsvolle Instrumente zur Förderung von Reformen sein. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten sind als weltweit größter Bereitsteller öffentlicher Hilfe bestens in der Lage, diese Ziele zu verfolgen. Die Förderung einer besseren Staatsführung durch Hilfsprogramme, Konditionalität und gezielte handelspolitische Maßnahmen sollte eine wichtige Komponente in einer Sicherheitsstrategie der Europäischen Union darstellen. Eine Welt, die als Welt wahrgenommen wird, welche Gerechtigkeit und Chancen für Jedermann bietet, wird für die Europäische Union und ihre Bürger sicherer sein. Durch präventives Handeln lassen sich ernsthaftere Probleme in der Zukunft vermeiden.

Eine Reihe von Staaten haben sich von der internationalen Staatengemeinschaft abgekehrt. Einige haben sich isoliert, andere verstoßen beharrlich gegen die internationalen Normen innerer Staatsführung oder des Verhaltens in den internationalen Beziehungen. Es ist zu wünschen, dass solche Staaten zur internationalen Gemeinschaft zurückfinden. Diejenigen, die hierzu nicht bereit sind, sollten sich darüber im Klaren sein, dass sie dafür einen Preis bezahlen müssen, auch was ihre Beziehungen zur Europäischen Union anbelangt.

Vorgehen gegen Bedrohungen

Die Europäische Union geht gegen die Bedrohungen durch Terrorismus, Proliferation und "gescheiterte" Staaten/organisierte Kriminalität aktiv vor.
  • Die EU reagierte auf die Anschläge vom 11. September mit einem Maßnahmenpaket, das die Einführung eines Europäischen Haftbefehls, Maßnahmen zur Bekämpfung der Finanzierung von terroristischen Gruppierungen und ein Rechtshilfeabkommen mit den Vereinigten Staaten umfasst.
  • Die EU verfolgt schon seit vielen Jahren Nichtverbreitungspolitiken. Die Union hat unlängst ein weiteres Aktionsprogramm verabschiedet, das Maßnahmen zur Stärkung der Internationalen Atomenergie-Organisation, zur Verschärfung der Ausfuhrkontrollen und zur Bekämpfung illegaler Lieferungen und der illegalen Beschaffung vorsieht.
  • Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten haben gescheiterten Staaten wieder auf die Beine geholfen, unter anderem im Balkan, in Afghanistan, Osttimor und in Afrika (jüngstes Beispiel: Kongo).
Bestimmte gemeinsame Aspekte dieser Bedrohungen und der Art und Weise, wie dagegen vorgegangen werden muss, sollten hervorgehoben werden.

Die Bedrohungen in diesem neuen Zeitalter haben ihren Ursprung oftmals in fernen Gebieten. Im Zeitalter der Globalisierung können allerdings solche fernen Bedrohungen genauso Besorgnis erregend sein wie näher gelegene. Nukleare Tätigkeiten in Nordkorea, nukleare Risiken in Südasien und Proliferation im Nahen Osten sind allesamt ein Grund zur Besorgnis für Europa. Terroristen sind nunmehr in der Lage, weltweit zu operieren: Ihre Aktivitäten in Mittel- oder Südostasien können eine Bedrohung für europäische Länder oder ihre Bürger darstellen. Inzwischen führt die globale Kommunikation dazu, dass humanitäre Tragödien in gescheiterten Staaten - wo auch immer sie sich ereignen - die europäische Öffentlichkeit stark beunruhigen können.

Unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen.

Die neuen Bedrohungen sind dynamischer Art. Wenn sie nicht beachtet werden, erhöht sich die Gefahr. Das Proliferationsrisiko nimmt mit der Zeit zu; gegen terroristische Netze muss vorgegangen werden, da sie sonst noch gefährlicher werden (wir hätten schon viel früher gegen Al-Qaida vorgehen müssen). Das Phänomen der gescheiterten Staaten und der organisierten Kriminalität breitet sich aus, wenn es nicht beachtet wird - wie wir in Westafrika gesehen haben.

Daher müssen wir bereit sein, vor dem Ausbrechen einer Krise zu handeln. Konflikten und Bedrohungen kann nicht früh genug vorgebeugt werden.

Im Gegensatz zu der massiven und sichtbaren Bedrohung zu Zeiten des Kalten Krieges ist keine der neuen Bedrohungen rein militärischer Natur, auch kann gegen sie nicht mit rein militärischen Mitteln vorgegangen werden. Jede dieser Bedrohungen erfordert ein "gemischtes" Instrumentarium. Die Proliferation kann durch Ausfuhrkontrollen eingedämmt und mit politischen, wirtschaftlichen und sonstigen Druckmitteln bekämpft werden, während gleichzeitig auch die tieferen politischen Ursachen angegangen werden. Zur Bekämpfung des Terrorismus kann ein Mix aus Aufklärungsarbeit sowie politischen, militärischen und sonstigen Mitteln erforderlich sein. In "gescheiterten" Staaten können militärische Mittel zur Wiederherstellung der Ordnung und humanitäre Mittel zur Bewältigung der unmittelbaren Krise erforderlich sein. Wirtschaftliche Instrumente dienen dem Wiederaufbau, und ziviles Krisenmanagement trägt zum Wiederaufbau einer zivilen Regierung bei. Die Europäische Union ist besonders gut ausgerüstet, um auf solche komplexen Situationen zu reagieren.

III. AUSWIRKUNGEN AUF DIE EUROPÄISCHE POLITIK

Die Europäische Union hat in den letzten Jahren Fortschritte bei der Entwicklung einer kohärenten Außenpolitik und einer wirksamen Krisenbewältigung erzielt. Wir verfügen inzwischen über Instrumente, die wirksam eingesetzt werden können, wie wir in der Balkanregion (und jetzt auch in größerem Rahmen) bewiesen haben. Aber wenn wir einen Beitrag leisten sollen, der unserem Potenzial entspricht, dann müssen wir aktiver, kohärenter und handlungsfähiger sein.

Aktiver bei der Verfolgung all unserer strategischen Ziele. Aktivere Politiken werden insbesondere benötigt, um den neuen, sich ständig ändernden Bedrohungen entgegenzuwirken. Als eine Union mit 25 Mitgliedern, die insgesamt 160 Milliarden Euro für die Verteidigung aufwendet, sollten wir nötigenfalls in der Lage sein, mehrere Operationen gleichzeitig aufrechtzuerhalten. Wir müssen eine strategische Kultur entwickeln, die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen begünstigt. Wir sollten vor allem an Operationen denken, bei denen sowohl militärische als auch zivile Fähigkeiten zum Einsatz gelangen. Dies ist ein Bereich, in dem wir einen besonderen Mehrwert schaffen könnten. Eine aktivere Europäische Union wird größeres politisches Gewicht in allen Situationen besitzen, auch wenn kein militärisches oder ziviles Eingreifen erwogen wird.

Kohärenter. Entscheidend für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist, dass wir stärker sind, wenn wir gemeinsam handeln. In den letzten Jahren haben wir eine Reihe verschiedener Instrumente mit jeweils eigener Struktur und Grundlage geschaffen. Jetzt besteht die Herausforderung darin, die verschiedenen Instrumente und Fähigkeiten, darunter die europäischen Hilfsprogramme, die militärischen und zivilen Fähigkeiten der Mitgliedstaaten und andere Instrumente wie den Europäischen Entwicklungsfonds, zusammenzuführen. All diese Instrumente und Fähigkeiten können Auswirkungen auf unsere Sicherheit und die Sicherheit von Drittländern haben. Sicherheit ist die wichtigste Voraussetzung für Entwicklung. Unser Ziel sollte es sein, mithilfe eines kohärenteren und umfassenderen Ansatzes Synergien zu erzeugen.

Die diplomatischen Bemühungen sowie die Entwicklungs-, Handels- und Umweltpolitiken sollten derselben Agenda folgen. In einer Krise ist eine einheitliche Führung durch nichts zu ersetzen.

Eine stärkere Kohärenz ist nicht nur für die EU-Instrumente erforderlich, sondern sie muss sich auch auf das außenpolitische Handeln der einzelnen Mitgliedstaaten erstrecken. Die Außenhilfe der Union beläuft sich auf 7 Milliarden Euro jährlich; die Mitgliedstaaten wenden etwa den zehnfachen Betrag auf.

Handlungsfähiger. Ein handlungsfähigeres Europa liegt in greifbarer Nähe, obwohl es Zeit brauchen wird, um unser gesamtes Potenzial zu entfalten. Wir müssen insbesondere Folgendes prüfen:
  • Mehr Mittel für die Verteidigung. Wenn wir es ernst meinen mit den neuen Bedrohungen und dem Aufbau von flexibleren mobilen Einsatzkräften, müssen wir die Mittel für die Verteidigung aufstocken.
  • In der Europäischen Union bestehen zu viele Duplizierungen bei den militärischen Mitteln. Durch den systematischen Rückgriff auf zusammengelegte und gemeinsam genutzte Mittel könnten die Gemeinkosten gesenkt und mittelfristig die Fähigkeiten ausgebaut werden.
  • Verstärkte Fähigkeit ziviler Mittel in und nach Krisen zum Einsatz bringen. Vor allem sollten wir straffere Vorkehrungen für die zivile Planung und Einsatzunterstützung prüfen. Bei nahezu allen größeren Einsätzen folgte auf militärische Effizienz ziviles Chaos.
  • Verstärkte diplomatische Fähigkeiten. Diese sind ebenso wichtig wie die zivilen und militärischen Fähigkeiten, wenn andere Ressourcen politisch optimal genutzt werden sollen. Die Bedrohungen, mit denen wir es zu tun haben, sind weiter entfernt und fremder als zu Zeiten des Kalten Krieges. Hier ist ein besseres Verständnis für andere Länder erforderlich. Wir verfügen über mehr als 45 000 Diplomaten. Auch hier würde eine Bündelung die Fähigkeiten verstärken. Wir müssen ein System entwickeln, das die Ressourcen der Mitgliedstaaten mit denen der EU-Institutionen verbindet.
  • Besserer Austausch von Erkenntnissen zwischen den Mitgliedstaaten und
  • Partnerländern. Eine gemeinsame Gefahrenabschätzung bildet die beste
  • Grundlage für gemeinsame Maßnahmen.
  • Beim Ausbau der Fähigkeiten in den verschiedenen Bereichen sollten wir an ein breiteres Spektrum von Missionen denken. Hierzu könnten neben den Petersberg-Aufgaben auch gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, die Unterstützung von Drittländern bei der Terrorismusbekämpfung und eine Reform des Sicherheitsbereichs zählen. Der letztgenannte Punkt wäre Teil eines umfassenderen Aufbaus von Institutionen.
Zusammenarbeit mit Partnern. Es gibt wohl kaum ein Problem, das wir allein bewältigen können. Bei den oben beschriebenen Bedrohungen handelt es sich um allgemeine Bedrohungen, die auch unsere engsten Partner betreffen. Internationale Zusammenarbeit ist eine Notwendigkeit. Wir müssen unsere Ziele sowohl im Rahmen der multilateralen Zusammenarbeit in internationalen Organisationen als auch durch Partnerschaften mit anderen wichtigen Akteuren oder Regionen verfolgen.

In diesem Zusammenhang sind die transatlantischen Beziehungen unersetzlich. Gemeinsam handelnd können die Europäische Union und die Vereinigten Staaten eine eindrucksvolle Kraft sein die sich für das Gute in der Welt einsetzt. Wenn wir Fähigkeiten aufbauen und die Kohärenz verstärken, werden wir als Akteur an Glaubwürdigkeit und als Partner an Einfluss gewinnen.

Wir sollten unsere Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit anderen wichtigen Akteuren ausbauen. Die Europäische Union unterhält Beziehungen in der ganzen Welt, aber in den nächsten Jahren sollten wir uns besonders auf die Entwicklung strategischer Partnerschaften mit Russland, Japan, China, Kanada und Indien konzentrieren. Diese Partner spielen eine immer wichtigere Rolle in ihren jeweiligen Regionen und darüber hinaus. Keine unserer Beziehungen wird exklusiv sein. Wir sind bereit, eine aktive Partnerschaft mit jedem Land zu entwickeln, das unsere Ziele und Werte teilt und bereit ist, sich dafür einzusetzen.

Fazit

Wir leben in einer Welt mit neuen Gefahren, aber auch mit neuen Chancen. Wenn es der Europäischen Union gelingt, zu einem handlungsstarken Akteur zu werden, dann besitzt sie das Potenzial, einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Bedrohungen wie auch zur Nutzung der Chancen zu leisten. Eine aktive und handlungsfähige Europäische Union könnte Einfluss im Weltmaßstab ausüben. Damit würde sie zu einem wirksamen multilateralen System beitragen, das zu einer gerechteren und sichereren Welt führen würde.

Quelle: Homepage http://eu.int


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