EU-Parlament ohne Entscheidungskompetenz, wenn es um Krieg oder Frieden geht
Dokumentiert: Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag zur bevorstehenden Europawahl
Am 7. Juni 2009 finden Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Aus diesem Anlass ist die Friedensbewegung mit einem Wahlaufruf in die Öffentlichkeit gegangen. Darin wird nicht zur Wahl einer Partei, wohl aber zur Wahl von Abgeordneten aufgerufen, die sich der Militarisierung der EU widersetzen wollen. Wir dokumentieren die Pressemitteilung sowie den Wahlaufruf im Folgenden im Wortlaut.
Der Wahlaufruf kann auch als pdf-Datein hier heruntergeladen werden: Ja zu Europa - Nein zum Lissabon-Vertrag.
Ja zu Europa - Nein zum Lissabon-Vertrag
Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag anlässlich der bevorstehenden Europawahl
Kassel, 1. Juni 2009 - Zu den bevorstehenden Wahlen zum Europäischen
Parlament gabe der Bundesausschuss Friedensratschlag eine Erklärung
heraus, die sich an die Friedensbewegung und die Öffentlichkeit wendet.
Darin wird aufgerufen, nur Parteien bzw. Kandidatinnen und Kandidaten zu
wählen, die sich gegen die "Militarisierung" der Europäischen Union wenden.
Der Wahlaufruf des "Friedensratschlags" trägt den Titel "Ja zu Europa -
Nein zum Lissabon-Vertrag". Die Friedensbewegung sei immer eine
internationalistische Bewegung gewesen, die gegen Nationalismus und
Chauvinismus und für die Solidarität der Völker und die Kooperation der
Staaten eingetreten sei. So fände auch das Streben nach einem einigen
und demokratischen Europa, das im Inneren und nach Außen Frieden hält,
die Zustimmung der Friedensbewegung. Aus demselben Grund müsse aber der
Lissabon-Vertrag strikt abgelehnt werden.
In der Erklärung aus Kassel wird dazu eine Reihe von Gründen angeführt.
So enthalte der Lissabon-Vertrag eine bindende Aufrüstungsverpflichtung
für die EU-Mitgliedstaaten (Art. 28 c). Zugleich werde eine
"Verteidigungsagentur" beauftragt, die Rüstungsproduktion und
-beschaffung sowie den europäischen Waffenhandel zu effektivieren, was
ebenfalls auf eine weitere Aufrüstung der Union hinauslaufe. Die EU
werde immer mehr zu einer Militärunion ausgebaut. Schon heute verfüge
sie über Streitkräfte in Höhe von 80.000 Soldaten und bis zum nächsten
Jahr sollen 13 bis 14 Battle-Groups, jede 1.500 Mann stark, zum
weltweiten Einsatz gefechtsbereit sein.
Besonders kritisiert wird in dem Wahlaufruf, dass das Europäische
Parlament ausgerechnet in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik, wenn
es also buchstäblich "um Krieg oder Frieden" geht, keinerlei
Entscheidungskompetenz besitzt. Und auch der Europäische Gerichtshof
könne (nach Art. 240) in diesem Politifeld nicht angerufen werden.
"Weder Europa noch die Welt brauchen eine neue Militärunion", heißt es
in dem Papier des Bundesausschusses Friedensratschlag, der sich
abschließend "für eine ausschließlich zivil ausgerichtete Außenpolitik"
der EU ausspricht.
Der ganze Wahlaufruf befindet sich unten im Anhang oder
hier als pdf-Datei.
Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Peter Strutynski (Sprecher)
Anhang
Ja zu Europa - Nein zum Lissabon-Vertrag
Bundesausschuss Friedensratschlag: Aufruf zur Wahl des EU-Parlaments
Kassel, 29. Mai 2009 – Zu den bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament gab der
Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag in Kassel eine Erklärung ab. Darin wird deutlich
gemacht, dass die Ablehnung des Lissabon-Vertrags friedenspolitisch geboten, dass dies aber nicht
gleichbedeutend sei mit einer Abkehr von der Europäischen Union.
Die Friedensbewegung war immer eine internationalistische Bewegung, die gegen Nationalismus und
Chauvinismus und für die Solidarität der Völker und die Kooperation der Staaten auf der Grundlage
der gleichberechtigten Souveränität eingetreten ist – so wie es die UN-Charta (Art. 2) und das
Völkerrecht erfordern. Das Streben nach einem einigen und demokratischen Europa, das im Inneren
und nach Außen Frieden hält, findet die Zustimmung der Friedensbewegung, auch wenn dieses Ziel
mit der gegenwärtigen Europäischen Union der 27 keineswegs erreicht ist.
Unser „Ja zu Europa“ schließt aber nicht die Anerkennung von Prinzipien und Regelungen ein, die
dem Friedensgebot des Völkerrechts und dem allgemeinen Wunsch nach Abrüstung entgegen
stehen. So sagen wir insbesondere „Nein“ zum EU-Reformvertrag von Lissabon, und zwar aus
mehreren Gründen:
- Nachdem der umstrittene EU-Verfassungsvertrag von 2004 in zwei Volksabstimmungen
(Frankreich und Niederlande 2005) abgelehnt worden war, hätte es demokratischen
Gepflogenheiten entsprochen, wenn der ganze Entwurf zurückgezogen und über eine
Europäische Verfassungsurkunde grundsätzlich neu nachgedacht worden wäre. Die
Regierungen der EU scherten sich aber nicht um das Votum der Bevölkerung, sondern legten
zwei Jahre nach dem Scheitern der EU-Verfassung einen „Reformvertrag“ vor, der nach
Aussage des irischen Ministerpräsidenten zu 90 Prozent identisch ist mit dem alten
Dokument. Diesem Etikettenschwindel darf die Bevölkerung nicht auf den Leim gehen.
- Der EU-Reformvertrag verpflichtet die EU-Mitgliedstaaten zur Aufrüstung. In Art. 28 c heißt
es hierzu unmissverständlich: „Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen
Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.“ In der Europäischen Sicherheitsstrategie von 2003
wird ergänzend ausgeführt, dass hierzu auch die Erhöhung der Militärausgaben notwendig
sei. Schon heute geben die EU-Staaten über 200 Mrd. EUR für Rüstung und Militär aus. Eine
riesige Verschwendung von Steuergeldern, die für sinnvollere Ausgaben etwa im sozialen
Bereich oder in der Bildung dringend gebraucht werden.
- Es wird eine "Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung,
Beschaffung und Rüstung (Europäische Verteidigungsagentur)" eingerichtet (Art. 28 a) - d.h.
Rüstungsforschung und Rüstungsproduktion, Beschaffung und Waffenexport sollen
europaweit koordiniert werden. Diese „Verteidigungsagentur“ arbeitet bereits seit 2004 und
erhält mit dem Reformvertrag die rechtliche Legitimation. Die Streitkräfte der EU-Staaten
zählen zu den am besten ausgerüsteten High-Tech-Armeen der Welt. Nicht weitere
Aufrüstung und die Konstruktion immer neuer Waffen, sondern Abrüstung ist das Gebot der
Stunde.
- Besorgnis erregend ist auch, dass die Bereitschaft der EU-Staaten zu weltweiten
Militäreinsätzen gleichfalls vertraglich festgeschrieben wird. EU-Streitkräfte sollen zu
"Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender
Maßnahmen" eingesetzt werden können. Weiter heißt es in Art. 28 b: "Mit allen diesen
Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch
durch die Unterstützung für Drittländer bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem
Hoheitsgebiet". Das Beschwören einer diffusen Terrorismusgefahr wird auch in Europa zu
einer allgegenwärtigen Rechtfertigungsformel für globale Militärinterventionen gemacht. Mit
einer territorialen Verteidigungsoption, die Rüstung auf entschieden niedrigerem Niveau
einschließen würde, haben diese Bestimmungen nichts zu tun. Es geht ausschließlich um
Militärinterventionen – ohne geographische Einschränkungen.
- Der Reformvertrag von Lissabon sieht die Bildung eines sog. Kerneuropa vor, und zwar via
„Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ auf militärischem Gebiet. In Art. 28 a heißt es
hierzu: „Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen
Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen
untereinander weiter gehende Verpflichtungen eingegangen sind, begründen eine Ständige
Strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union.“ Damit besteht die Möglichkeit, auch
auf europäischer Ebene "Koalitionen der Willigen" zu schmieden. Zugleich wird mit dieser
Regelung das Einstimmigkeitsverfahren in der Außen und Sicherheitspolitik praktisch
aufgegeben, da nur die sich beteiligenden Staaten Einstimmigkeit erzielen müssen. (Siehe
hierzu Art. 28 e)
- Ohne jede Entscheidungsgewalt bleibt das Europäische Parlament, wenn es um die
Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik, mithin auch um Krieg und Frieden geht. Das EUParlament
wird vom Hohen Vertreter zwar zu „wichtigsten Aspekten“ regelmäßig informiert
und "angehört". Ein Informationsrecht ist aber kein Beschlussrecht. Das nicht vorhandene
Kontrollrecht des EU-Parlaments verstößt gegen Grundsätze von Gewaltenteilung und
parlamentarischer Demokratie. Übrigens ist dabei auch Zustimmung der Bundesregierung im
Rat nicht an einen Bundestagsbeschluss gebunden, sondern wird erst nach der Entscheidung
eingeholt. Damit werden einzelstaatliche Parlamentsbeteiligungen grundsätzlich infrage
gestellt.
- Ein dickes Ei ist auch Art. 240 des Reformvertrags: „Der Gerichtshof der Europäischen Union
ist nicht zuständig für die Bestimmungen hinsichtlich der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik und für die auf der Grundlage dieser Bestimmungen erlassenen Rechtsakte.“
Somit widerspricht der gesamte Militarisierungsteil den elementaren Grundsätzen
demokratischer Staatlichkeit: weder hat das EU-Parlament die Möglichkeit, Militäreinsätze
abzulehnen noch ihre Prämissen und Folgen zu überprüfen. Darüber hinaus werden die
elementaren Grundsätze der Gewaltenteilung in diesem Bereich von vornherein außer Kraft
gesetzt, da die Justiz weder die Vertragskonformität noch die Übereinstimmung mit dem
Völkerrecht überprüfen kann.
Weder Europa noch die Welt braucht eine neue Militärunion. Nichts anderes aber wird mit dem
Lissabon-Reformvertrag vertraglich festgeschrieben. Und dem Vertrag – der erst in Kraft treten kann,
wenn alle EU-Staaten ihn ratifiziert haben – eilt die Praxis voraus. Seit 2000 werden Europäische
Truppen (mit einer Gesamtstärke von 80.000 Soldaten) aufgestellt und seit 2004 sind sog. Battle
Groups („Schlachtgruppen“) im Aufbau. Die geplanten 13 bis 14 Battle-Groups, jede 1.500 Mann
stark, sollen, so legt es der Lissabon-Vertrag fest, spätestens bis 2010 einsatzfähig und in 5 bis 10
Tagen überall auf der Welt einsatzbereit sein. Deutschland wird sich an fünf Battle Groups beteiligen
– mehr als jeder andere EU-Mitgliedstaat.
Auch wenn das EU-Parlament in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik nichts zu entscheiden hat: Die Friedensbewegung hat ein Interesse daran, dass die Stimmen im Parlament gestärkt werden, die
sich gegen die Militarisierung der EU aussprechen und für eine ausschließlich zivil ausgerichtete
Außenpolitik eintreten.
Bundesausschuss Friedensratschlag
29. Mai 2009
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